Von Ameisen und Menschen
Mark W. Moffetts »Was uns zusammenhält« von Ewald TerhartMark W. Moffetts »Was uns zusammenhält«
Der US-amerikanische Tropenbiologe Mark W. Moffett hat ein umfangreiches Werk vorgelegt, in dem er der Frage nach der Entstehung, der Stabilisierung und dem Vergehen von sozialer Ordnung in tierischen und menschlichen Sozialverbünden unterschiedlicher Größe und Art nachgeht. Statt des Wortes »Sozialverbünde« das Wort »Gesellschaften« einzusetzen, wäre auf den ersten Blick vielleicht naheliegend gewesen. Es wird noch deutlich werden, warum es zunächst besser ist, dem eher neutral-distanzierten Begriff des »Sozialverbunds« den Vorzug zu geben vor dem theoretisch, normativ und emotional stark überlagerten Begriff der »Gesellschaft«. Letzterer wird im Allgemeinen eher für menschliche Sozialverbünde benutzt. Moffett macht aber im Prinzip keinen Unterschied zwischen tierischen und menschlichen Sozialverbünden. Dies ist mit Gewinnen, aber auch mit Verlusten verbunden.
Der Originaltitel des Bands lautet The Human Swarm. How our Societies Arise, Thrive, and Fall. Weder der englische noch der deutsche Titel macht hinreichend deutlich, dass es in dem Buch hauptsächlich und vor allem um Tiergesellschaften geht, also nicht dominant um den human swarm beziehungsweise um Sozialverbünde von Menschen oder gar um die Menschheit. Zugleich bildet die Untersuchung von zahllosen kleineren und größeren Tiersozietäten die Basis für Moffetts Erkenntnisse und Thesen über die Geschichte und aktuelle Lage der Gesellschaftsbildung bei diesen doch etwas besonderen Tieren, den haarlosen Zweibeinern mit dem vergleichsweise großen Gehirn, den Menschen.
Die leitende Botschaft ist: Anders als Tiersozietäten bilden Menschen nicht nur Klein-, sondern auch mittelgroße und sehr große Sozialverbünde, also Clans, Dörfer, Städte, Staaten, Nationen, Reiche. Menschen können mehr oder weniger problemlos und angstfrei in Großgesellschaften leben, ohne jedes einzelne Mitglied persönlich zu kennen. Das können Schimpansen und Bonobos nicht; sie fühlen sich nur sicher im Umfeld ihrer Horde, von der sie jedes einzelne Mitglied persönlich kennen. Auch einander fremde Menschen erkennen sich an bestimmten sozialen Markern. Sind die Marker passend, ist persönliche Vertrautheit nicht nötig. Soziale Marker können alle Signale sein, die einem deutlich machen, dass man Gemeinsamkeiten mit dem Fremden hat – der dann eben kein Fremder mehr ist.
Individuen mit anderen Markern aber bleiben Fremde und werden unter Umständen schnell Feinde. Bei anderen, fremden Markern muss man dann vorsichtig sein. Neue Gesellschaftsmitglieder (Kinder, Migranten, andere Neuhinzukommende) übernehmen die üblichen Marker eines Sozialverbands durch Sozialisation. Fremde können hineingenommen werden; sie bleiben aber sehr oft gewissermaßen restfremd. Eine bestimmte Tierart kann jedoch ebenfalls Großgesellschaften bilden, ohne sich individuell kennen zu müssen: Ameisen. Ihr Marker ist der Geruch. Sie kennen strikte Arbeitsteilung, sie besetzen riesige Gebiete, ihre Völker über viele Jahre stabil – und bekämpfen todesverachtend an ihren territorialen Grenzen diejenigen Ameisengesellschaften, deren Einzelexemplare anders riechen.
Abstrakter formuliert lautet Moffetts Botschaft: Was uns Menschen zusammenhält, sind die Anderen, von denen wir uns trennen. Wir halten zusammen, wenn und weil wir uns von anderen unterscheiden. Manchmal machen wir diese Unterschiede stark, manchmal stellen wir sie zurück. Das können Ameisen nicht. Wir werden und bleiben wir, weil und solange es die anderen gibt. Manchmal reden wir mit den anderen, manchmal arbeiten wir zusammen, manchmal heiraten wir ihre Töchter, manchmal schlagen wir sie tot. Nach Moffett wird sich das im Prinzip nie ändern.
Der deutschsprachige Band hat insgesamt 683 Seiten, davon 543 Textseiten, 7 Seiten Danksagungen, 56 Seiten Anmerkungen und 72 Seiten Literaturhinweise. Insgesamt werden von Moffett etwa 1200 einzelne Literaturtitel herangezogen. Die zitierte Fachliteratur liegt in den Feldern der Verhaltensforschung bei Tier und Mensch, der Entomologie und der Historischen Anthropologie, der ethnologischen Forschung sowie der Sozialpsychologie von Fremdheit, Vertrauen und Konflikt. Aus der Soziologie werden nur sehr wenige Titel zitiert: alte und neue Klassiker wie Emile Durkheim, Georg Simmel, Thomas H. Marshall, Peter L. Berger, Thomas Luckmann, Charles H. Cooley, Clifford Geertz und Ernest Gellner. Aber kein Auguste Comte, kein Talcott Parsons, kein Robert K. Merton, kein George Herbert Mead, kein Erving Goffman, kein Herbert Blumer, kein Lewis Coser, kein David Riesman, kein Max Weber, kein Ferdinand Tönnies, kein Helmuth Plessner, kein Pierre Bourdieu, kein Ralf Dahrendorf und kein Niklas Luhmann.
Davon einmal abgesehen, bemüht sich Moffett um eine möglichst umfassende und detaillierte wissenschaftliche Abstützung seiner Argumentationen in der entsprechenden Fachliteratur. Mark Moffett ist ein sehr angesehener Experte der Verhaltensforschung, insbesondere zu Fröschen und Ameisen, und hat zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Themen vorgelegt. Er wurde von Edward O. Wilson, dem Begründer der Soziobiologie, gefördert und gilt als eine Art enfant terrible der Tropenbiologie und Entomologie; von der National Geographic Society wurde er ironisch-bewundernd als der »Indiana Jones der Entomologie« bezeichnet.
Seiner Rolle als »wilder Mann« wird er als Autor durchaus gerecht, denn keineswegs referiert er, gestützt auf einen gewaltigen Fundus, in staubtrockener Weise die jeweils relevante Fachliteratur, auch wenn er sich kontinuierlich auf Quellen stützt. Es ist ein intellektuelles Vergnügen, immer wieder ausführlich in der Literaturliste zu stöbern und allein schon die fantasievollen Titel der englischsprachigen Fachliteratur zu bestaunen. Moffetts Schreib- und Argumentationsstil ist insgesamt eher locker, häufig erzählend und auch mäandernd, aber im Wesentlichen sehr konzentriert und systematisch. So wird zu Beginn von Kapiteln eine Vorausschau auf das Kommende gegeben und am Ende von Kapiteln wird rekapituliert sowie zum nächsten Kapitel übergeleitet. So gehört es sich.
Das Problem ist nun: Moffett schreibt über tierische und menschliche Gesellschaften. Dort, wo er über menschliche Gesellschaften schreibt, tut er dies, ohne auf den Stand der Erkenntnisse in der Soziologie, ohne auf deren Forschung und Diskussion über die Entstehungsbedingungen von menschlichen Sozialverbünden einzugehen. Dort, wo er über frühmenschliche Entwicklungsstadien oder über die Kulturen indigener Völker der Gegenwart (Australien, Afrika, Südamerika) schreibt, stützt er sich breit und sehr gut nachvollziehbar auf die entsprechende fachliche Forschung etwa der Ethnologie. Wo er den Übergang von den Jägern und Sammlern zu sesshaften sozialen Einheiten und deren quantitatives und qualitatives Wachstum zu Städten, Stadtstaaten, Nationen und Weltreichen thematisiert, bezieht er sich ebenfalls auf die entsprechende Fachforschung. Wo er jedoch über moderne Gesellschaften schreibt, ignoriert er die Soziologie. Soziologische Theorien und Theoriedebatten über die soziale Evolution der menschlichen Gesellschaften ignoriert er ebenfalls. Er schreibt als Ameisenforscher über Insekten-, Wirbeltier- und Primatengesellschaften – und eben auch über die Sozialverbünde des homo sapiens.