Von der Jauchegrube in den Mainstream
Zu Quinn Slobodians »Hayek’s Bastards« von Suzanne SchneiderZu Quinn Slobodians »Hayek’s Bastards«
In seinem 1892 erschienenen Buch The Grammar of Science warnte der britische Statistik-Pionier und Eugeniker Karl Pearson seine Leser: »Wenn wir als Gesellschaft unsere eigene Zukunft gestalten wollen […], müssen wir uns vor allem davor hüten, mit unseren starken sozialen Instinkten die Gesellschaft dadurch zu schwächen, dass wir die Vermehrung des schlechten Erbguts immer einfacher machen.« Da »sich aus einer degenerierten und schwachen Herde auch mithilfe von Erziehung, guten Gesetzen und guter Hygiene niemals eine gesunde und starke formen lässt«, liege das einzige Heilmittel darin, das verdorbene genetische Material im evolutionären Kampf um das Überleben auszusortieren. Dabei dürften Mutter Natur dann aber keine lästigen Weltverbesserer ins Handwerk pfuschen.
»Argumente über Politik fußen immer auf Behauptungen über die menschliche Natur«, so Quinn Slobodian in seiner neuen intellektuellen Geschichte der amerikanischen extremen Rechten. Hayek’s Bastards nimmt eine Koalition von Libertären, Traditionalisten und Paläokonservativen in den Blick, die ein Jahrhundert nach Pearson zu Theorien unveränderlicher genetischer und rassischer Unterschiede zurückgekehrt ist. Ihnen geht es dabei um Argumente für die Überlegenheit des Markts und einen minimalistischen Staat. Es ist ein Strang des Denkens, den Slobodian »neuen Fusionismus« nennt. Während die vorangegangene Generation Konservativer religiösen Traditionalismus mit den Prinzipien des freien Marktes verschmolz – der originale Fusionismus, den man mit Frank Meyer und der National Review verbindet –, hielten ihre ideologischen Nachfolger evolutionäre Psychologie, Genetik und biologische Anthropologie für nützlicher.
Zu diesen neuen Fusionisten gehörten auch der libertäre Ökonom und Anarcho-Kapitalist Murray Rothbard, der Steuern als Diebstahl und den Staat als Gipfel des organisierten Verbrechens betrachtete; der Rassist Peter Brimelow, erst Redakteur der National Review und dann der Gründer der radikalen Anti-Immigrations-Website VDARE; der deutsch-amerikanische Akademiker Hans-Hermann Hoppe, ein Schützling von Rothbard, Gründer der Property and Freedom Society, die die Verbindung von Libertarismus und weißem Suprematismus propagiert. Gemeinsam ist es ihnen gelungen, lange Zeit als abseitig betrachtete Ideen über rassische Unterschiede zurück in den Mainstream zu bringen – die Folgen sehen wir heute.
Slobodian verfolgt die Wege von Rothbard, Brimelow, Hoppe und den anderen Intellektuellen dieser Bewegung zu prominenten neoliberalen Institutionen wie der Mont Pelerin Society (MPS), dem Manhattan Institute und dem Ludwig von Mises Institute zurück. Die 1947 von dem österreichischen Philosophen Friedrich Hayek gegründete MPS hat sich dabei als die einflussreichste dieser Organisationen erwiesen. Zu ihren Mitgliedern gehörten Größen wie Milton Friedman, James Buchanan und Gary Becker. Ihre Argumente für Privatisierung, Deregulierung und regressive Besteuerung bildeten den intellektuellen Kern der Reagan-Revolution. Reagan verband die libertären ökonomischen und philosophischen Auffassungen dann mit sozialem Konservatismus und aggressivem Antikommunismus: Das war der Beginn der neoliberalen Ära.
Hayek’s Bastards erklärt, warum die MPS-Mitglieder der zweiten Generation wie Rothbard und der Historiker Paul Gottfried diesen Sieg nicht genießen konnten, nicht einmal nach dem Fall der Berliner Mauer. Sie waren entsetzt, dass der Wohlfahrtsstaat in den westlichen Demokratien weitestgehend erhalten blieb, und fürchteten, sie hätten den Kalten Krieg am Ende doch verloren. Nicht nur stärkten die Regierungen den Umweltschutz und zahlten weiterhin staatliche Unterstützungen, Jahrzehnte des »Kollektivismus« und der Abhängigkeit vom Staat hätten, so fasst Slobodian die Diagnosen zusammen, »die Tugenden der für die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens nötigen Selbständigkeit tödlich geschwächt«. Am allerschlimmsten: Die Regierungen zeigten zunehmenden Ehrgeiz, zugunsten von ethnischen Minderheiten und Frauen zu intervenieren und für eine egalitärere soziale Ordnung zu kämpfen. Angesichts dieser Entwicklungen fanden Libertäre die Argumente des biologischen Determinismus, die lange Zeit nur in sehr abseitigen Publikationen wie Mankind Quarterly zirkulierten, ausgesprochen attraktiv.
»Das explosive Wachstum genetischen Wissens«, so das MPS-Mitglied Charles Murray in einem Vortrag von 2006, »bedeutet, dass die Wissenschaft binnen weniger Jahre definitiv ganz präzise wird zeigen können, wie sich Frauen von Männern, Schwarze von Weißen, Arme von Reichen unterscheiden«. Murray war als Ko-Autor von The Bell Curve (1994) zu nationaler Prominenz gelangt, dem extrem umstrittenen Traktat, das behauptete, ökonomische und soziale Ungleichheiten seien auf vererbte Intelligenzunterschiede zurückzuführen. »Biologie«, erklärte Rothbard, »steht wie ein Fels in der Brandung egalitärer Fantasien.«
Mit anderen Worten: Welchen Sinn haben Interventionen des Staates, wenn die Ungleichheit in den genetischen Kuchen schon eingebacken ist? Die neoliberale Rhetorik hat sich lange schon auf Natur und Evolution berufen, das geht zurück bis zu Hayeks Interpretation evolutionärer Biologie in seiner »Savannen-Geschichte«. Homo sapiens, so Hayek, habe sich in kleinen, enggeknüpften sozialen Verbänden entwickelt. Darum sei die soziale Atomisierung, die die Grundlage für den freien Markt darstellt, eine zutiefst unnatürliche Sache. »Sozialisten haben die vererbten Instinkte auf ihrer Seite«, erklärte er, während der Einsatz für die kalte, unpersönliche Logik des Marktes erst antrainiert werden müsse. Der Soziologe Benjamin Nelson nannte diesen Zustand gegenseitiger Entfremdung »universelle Andersheit«, eine Lage, in der »alle Menschen insofern ›Brüder‹ sind, als sie füreinander im gleichen Maße ›Andere‹ sind«. Für Hayek war das das Fundament des freien Markts. Die Natur ist in seinem Verständnis keine Meisterin, die Gehorsam verlangt, sondern die Quelle ursprünglicher Affekte, die es im Namen des kapitalistischen Fortschritts zu überwinden gilt.