Heft 848, Januar 2020

Walden Inc.

Die letzten Männer von Solvejg Nitzke

Die letzten Männer

Der »große Meister« Henry David Thoreau, Gründungsfigur des modernen Ein-Mann-allein-im-Wald-Mythos, hat, seitdem 1854 Walden, or: Life in the Woods erschien, eine nicht endenwollende Reihe von Nachahmern gefunden. Wildnis und (innere) Wildheit sind, darin besteht die Anziehungskraft dieses Mythos, nie tot gewesen – höchstens überdeckt, verformt, pervertiert. Tatsächlich gehört der Call of the Wild (Jack London) ebenso zum Sound der Moderne wie der von Eisenbahnen und Schnellstraßen.

Was die jüngste Ausprägung des Walden-Kults kennzeichnet, ist eine meta-naive Warenförmigkeit. Meta-naiv, weil sie von sich weiß, was sie ist, aber behauptet, dieses Wissen mindere nicht die Authentizität des Unternehmens. Im Gegenteil, gerade weil die beschriebenen Abenteuer in Zeitschriften wie dem seit 2015 existierenden Walden-Magazin schon Kalenderpassform haben, also räumlich und zeitlich ziemlich eng umgrenzt sind, werden sie als besonders begehrenswert beschrieben: »Selber schuld, wen es immer nur in die Ferne zieht«, steht auf dem Foto der sächsischen Elbsandsteinfelsen.

Allerdings sind die Macher (und wenigen Macherinnen) dieser neueren Publikationen klug genug, zu wissen, dass die wochenendkompatiblen Formate Spott provozieren und den Verdacht erwecken, sie agierten nur noch ironisch. Doch die Strategie des Magazins ist weder bloß naiv noch bloß ironisch. Durch rebranding wird aus dem Naheliegenden eine begehrenswerte Wildnis, die zudem mit den Anforderungen einer flexibilisierten Großstadtexistenz kompatibel ist. Denn vermutlich liegt es eher an der Knappheit von Zeit als von Geld, dass sich die Leser nicht für mehrere Wochen oder gar Monate von beruflichen und familiären Pflichten verabschieden können. Da ist es natürlich praktisch, wenn die Wildnis »vor der Haustür« beginnt. Wichtig ist nur, dass die Landschaft die Vorstellung erlaubt, man befinde sich in der Natur und damit abseits eines unnatürlichen Alltags.

Mythos Walden

Diejenigen, die »in der Natur nicht den Thrill, sondern das Erlebnis suchen«, berufen sich nicht zufällig auf Thoreaus Walden, denn auch der Archetyp des modernen Aussteigers erlebt eine nahe Wildnis, eine innere Wildheit, die er zum Ideal eines »bewussten« (deliberate) Lebens erhebt. Das gleichnamige Magazin behandelt Thoreau mit demselben Entdeckungsgestus, der auch Müritz, Harz und Sächsische Schweiz zur abenteuerlichen Wildnis macht. Thoreau ist in Deutschland sicher kein Unbekannter, aber seine Popularität reicht nicht annähernd an den kanonischen Status heran, den Walden und Thoreaus Essay Resistance to Civil Government (bekannter als On Civil Disobedience) in den Vereinigten Staaten haben. Walden-Aphorismen finden sich in beinahe jedem Text, der sich einen Anschein von Naturnähe und Widerständigkeit geben möchte. Walden Pond ist ein Touristenmagnet. Umso stärker die Signalwirkung des Namens, der Walden – eigentlich ein See in Massachusetts – und Thoreau in eins setzt. Das Walden-Magazin greift den Gestus umstandslos auf: »Unser Name stammt von einem rund 160 Jahre alten Buchklassiker. Sein Autor heißt Henry David Thoreau, seine einfache Botschaft lautet: Draußen wartet mehr auf uns. Wir müssen nur wieder einmal aufbrechen. Walden geht schon einmal vor.«

Die vermeintliche Einfachheit der »Botschaft« von Walden, or: Life in the Woods ist ein Rezeptionsphänomen. Es reduziert Walden auf den »Ausstieg« und ignoriert dessen durchaus problematische kulturkritische Stoßrichtung. Thoreau zieht es nicht nur nach draußen, er lehnt die Lebensweise seiner Zeit rundweg ab. Weder Eisenbahnschienen und das fußläufig nahe Städtchen Concord nämlich stehen Thoreaus Vorhaben entgegen. Denn das Ziel des Walden zugrunde liegenden Versuchs ist es, ein absolut selbstbestimmtes Leben zu leben. »I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived.«

Es geht also nicht darum, in einer menschenleeren Wildnis zu leben, sondern sich von Fremdbestimmung und den Zwängen der Erwerbsarbeit und sozialer Konventionen zu befreien. Walden beginnt mit einem Abgesang auf eben diejenigen, die nicht nur Mitte des 19. Jahrhunderts in den noch jungen Vereinigten Staaten von Amerika als Rückgrat von Gesellschaft und Wirtschaft galten, nämlich die Farmer: »I see young men, my townsmen, whose misfortune it is to have inherited farms, houses, barns, cattle, and farming tools; for these are more easily aquired than got rid of.« Gerade jene, die in direktem Austausch mit der Natur zu stehen scheinen, sind für Thoreau diejenigen, die am wenigsten frei leben. Der Besitz und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen machten sie zu »serfs of the soil«, die keine Zeit haben, irgendetwas anderes als Maschinen zu sein.

Frei von Regeln ist Thoreaus Leben im Wald allerdings nicht, und darin liegt wohl immer noch der Reiz der Ausstiegsfantasie, denn es scheint vor allem darum zu gehen, dass es nicht andere Menschen sind, die die Bedingungen des Lebens, also Konventionen, bestimmen. Darin liegt – trotz oft beeindruckender Naturbeschreibungen und Beobachtungen – eine der größten Schwächen des Ich-geleiteten Nature Writing in der Tradition Thoreaus: Es verträgt oft nur ein Ich, und dieses sitzt gleichsam an der Spitze der Schöpfung. In diesem Genie-Gestus liegt aber auch die reizvolle Chance, die »auslösenden Phänomene« leiblich-sinnlicher Naturerfahrung »möglichst genau literarisch vorzustellen«.1

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