Was heißt hier modern?
Das Kaiserreich und die Arbeiterbewegung von Michael KittnerDas Kaiserreich und die Arbeiterbewegung
Die Diskussion um die in der Geschichtsschreibung angeblich bislang zu kurz gekommene »Modernität« des Kaiserreichs ist durchaus zu begrüßen. Ich möchte mich auf einen Aspekt dieser von Hedwig Richter zuletzt prominent ins Spiel gebrachten Modernitätsthese konzentrieren, nämlich die im Kaiserreich nicht nur aufkommenden, sondern geradezu aufblühenden zivilgesellschaftlichen Massenorganisationen: Parteien sowie Frauen- und Arbeiterbewegung, vor allem Gewerkschaften. Richter schreibt: »Die Schlagkraft der Vereinigungen wurde immer größer, als sie in den neunziger Jahren begannen, die Massen zu organisieren. Die Gewerkschaften nutzten den Aufwind der Arbeiterbewegung und entwickelten sich nach dem Ende der Sozialistengesetze zu einer der mächtigsten Massenorganisationen.« Von einer »grundsätzlichen ›Reformblockade‹ im Kaiserreich« könne darum nicht die Rede sein.
Wer, wie Richter, die Erfolgsgeschichte der Massenorganisationen in den 1890er Jahren – und das heißt: mit dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetztes – beginnen lässt, verfehlt allerdings eine entscheidende Pointe. Denn für die Beziehung des Kaiserreichs zur Arbeiterbewegung war das Sozialistengesetz keineswegs ein archaisch-tragischer Anfang, von dem aus es nur aufwärtsgehen konnte. Vielmehr gab es einen langen, wechselhaften Vorlauf von prägender Wirkung für alles Folgende.
Im Deutschen Reich (beziehungsweise vor 1871 in Preußen) erreichte die Industrialisierung ihre volle Dynamik deutlich später als in Großbritannien. Dieser Zeitverzug bildet sich auch in der Geschichte der politischen Auseinandersetzungen um eine institutionalisierte Interessenvertretung der Arbeiterschaft ab. Während in Preußen 1845 erstmals überhaupt ein ausdrückliches Koalitionsverbot erging – eine Maßnahme gegen Gewerkschaften, die es zu diesem Zeitpunkt dort noch gar nicht gab –, war ein solches in Großbritannien bereits 1824 aufgehoben worden. Preußen /Deutschland zog erst 1869 beziehungsweise 1871 mit der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund und anschließend für das Deutsche Reich gleich. Unmittelbar danach vollzog Großbritannien bereits einen weiteren Schritt: 1875 wurden strafrechtliche Sondervorschriften gegen Streiks aufgehoben, 1906 wurden die Gewerkschaften von Schadensersatzansprüchen der von Streiks betroffenen Unternehmen befreit. Eine vergleichbare Anerkennung erlangten die Gewerkschaften in Deutschland erst 1918 mit der Novemberrevolution, also dem Untergang des Kaiserreichs.
Zwar hat Bismarck im Jahr 1869 das Koalitionsverbot aufheben lassen, man darf nur sein Motiv dabei nicht übersehen. Angesichts der unvermeidlichen Konflikte, bis hin zum Krieg, die die ins Auge gefasste Reichsgründung begleiten würden, ging es ihm darum, alle Bevölkerungsgruppen hinter sich zu wissen. Dazu gehörte auch die zahlenmäßig noch nicht umfangreiche Arbeiterschaft, deren Bedeutungszuwachs jedoch unübersehbar war. Bismarcks Verhältnis zu ihr war durchaus auch von – später aufgegebenen – Vorstellungen eines »sozialen Königtums« getragen. Zudem erfolgte die Aufhebung des Koalitionsverbots mit der ausdrücklichen Zustimmung der Unternehmer. Ihnen war klar, dass es dadurch zunächst zu einer Häufung von Streiks kommen könnte, sie gingen aber davon aus, dass sich die Gefahr, ähnlich wie in Großbritannien, letztlich würde einhegen lassen.
Hierin aber hatten sich alle getäuscht. Als es während der auf den Wiener Börsenkrach im Mai 1873 folgenden »Gründerkrise« in ganz Europa zu Streiks und neuen Gewerkschaftsgründungen kam, war es bei Unternehmern und herrschender Politik mit jeder Art von Gelassenheit schnell vorbei. Bismarck hatte seine Haltung schon zwei Jahr zuvor unter dem Eindruck von August Bebels öffentlichen Sympathiebekundungen für die Pariser Kommune revidiert: Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung waren für ihn fortan Todfeinde. Das »Sozialistengesetz« war die logische Konsequenz.
Dessen Aufhebung kann man durchaus zu Recht als Startschuss für den Aufstieg der Gewerkschaften sehen. Beim Blick auf die Details wird das Bild allerdings deutlich differenzierter. Der Vorgang ist geprägt vom Aufeinanderprallen des neuen, jungen Kaisers und des alten Kanzlers, und zwar gerade, wenn es um das Verhältnis zu Arbeitnehmern und Gewerkschaften geht. Auslöser war der große Bergarbeiterstreik 1889 im Ruhrgebiet. Diesen bis dahin größten Streik in der deutschen Geschichte wollte Bismarck »ausbrennen« lassen und als Argument für die anstehende Verlängerung des Sozialistengesetzes nutzen. Wilhelm II. dagegen nutzte ihn zur Demonstration seiner huldvollen Zuwendung zu den Arbeitern (er trieb das Phantasma des sozialen Königtums auf die Spitze, indem er gegenüber Bismarck von sich als dem »roi des gueux«, also Bettlerkönig, fabulierte).
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