Heft 871, Dezember 2021

Was heißt hier modern?

Das Kaiserreich und die Arbeiterbewegung von Michael Kittner

Das Kaiserreich und die Arbeiterbewegung

Die Diskussion um die in der Geschichtsschreibung angeblich bislang zu kurz gekommene »Modernität« des Kaiserreichs ist durchaus zu begrüßen.1 Ich möchte mich auf einen Aspekt dieser von Hedwig Richter zuletzt prominent ins Spiel gebrachten Modernitätsthese konzentrieren, nämlich die im Kaiserreich nicht nur aufkommenden, sondern geradezu aufblühenden zivilgesellschaftlichen Massenorganisationen: Parteien sowie Frauen- und Arbeiterbewegung, vor allem Gewerkschaften. Richter schreibt: »Die Schlagkraft der Vereinigungen wurde immer größer, als sie in den neunziger Jahren begannen, die Massen zu organisieren. Die Gewerkschaften nutzten den Aufwind der Arbeiterbewegung und entwickelten sich nach dem Ende der Sozialistengesetze zu einer der mächtigsten Massenorganisationen.«2 Von einer »grundsätzlichen ›Reformblockade‹ im Kaiserreich« könne darum nicht die Rede sein.

Wer, wie Richter, die Erfolgsgeschichte der Massenorganisationen in den 1890er Jahren – und das heißt: mit dem Außerkrafttreten des Sozialistengesetztes – beginnen lässt, verfehlt allerdings eine entscheidende Pointe. Denn für die Beziehung des Kaiserreichs zur Arbeiterbewegung war das Sozialistengesetz keineswegs ein archaisch-tragischer Anfang, von dem aus es nur aufwärtsgehen konnte. Vielmehr gab es einen langen, wechselhaften Vorlauf von prägender Wirkung für alles Folgende.

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