Heft 915, August 2025

Was soll ich hier noch?

Der Niedergang Venezuelas von Rachel Nolan

Der Niedergang Venezuelas

Einer von vier Venezolanern hat sein Land verlassen. Vor sieben Jahren war es noch jeder Zehnte, der ausgewandert, geflohen oder vertrieben worden war. Für die meisten Menschen in den USA und Kanada schien dieser Umstand kaum eine Rolle zu spielen, außer als Bestätigung, dass der Sozialismus »nicht funktioniert« oder dass der venezolanische Ex-Präsident Hugo Chávez ein linker Diktator war, der das Land ruinierte. Im Jahr 2023 überquerten mehr Menschen aus Venezuela die Grenze zwischen den USA und Mexiko als aus jedem anderen Land, abgesehen von Mexiko selbst und Guatemala. Im Jahr 2024 zählte man offiziell 261 000 Venezolaner, aber das sind nur die Menschen, die aufgegriffen wurden. Jeder Zehnte – das ist eine Massenmigration. Jeder Vierte ist ein Exodus. Fast acht Millionen Seelen.

Es haben aus Venezuela mehr Menschen das Weite gesucht als aus von Krieg und Tod gezeichneten Ländern wie Syrien und der Ukraine. In Venezuela herrscht Frieden. Aber es ist ein Frieden mit galoppierender Inflation, ein Frieden, in dem die Menschen nicht an Bargeld kommen, nicht an Lebensmittel, nicht an Medikamente. Als sie nicht einmal mehr Maismehl für ihre Familien kaufen konnten, boten die Bauern ihr gesamtes Hab und Gut zum Verkauf an, verschenkten den Rest, und als alles übrige nur noch in einen Rucksack passte, gingen sie. Dann taten die Lehrer es ihnen nach. Dann die Anwälte und Ärzte, die Unternehmer, die Chávez-Gegner und schließlich sogar die glühendsten Chavistas. Paula Ramón, eine venezolanische Journalistin, war eine von denen, die das Land verließen, und ihre beiden Brüder auch. Doch ihre Mutter blieb zurück.

In ihrem autobiografischen Buch Motherland zeichnet Ramón die Etappen der Implosion Venezuelas nach, die so viele Familien betrifft. Diejenigen, die das Land verlassen haben, versuchen verzweifelt, die Dagebliebenen am Leben zu halten. Das gestaltet sich als Gerangel um Banküberweisungen und per Containerschiff aus Miami versandte Carepakete mit Lebensmitteln – die vertraute Sorge, wenn man seine alternden Eltern am Heimatort zurücklässt, nur um ein Vielfaches größer. Die unter dem Begriff der Bolivarischen Revolution bekanntgewordene Bewegung hatte sich seit den 1990er Jahren zum Ziel gesetzt, die Klassenschranken aufzubrechen. Die jüngste Krise hat die Hierarchien in der venezolanischen Gesellschaft aber in einem Maße erschüttert, das die Chavez-Revolution noch übertrifft. Eine Arbeiterfamilie mit einem Sohn in Chile, der Geld nach Hause schickt, steht plötzlich besser da als eine Mittelschichtfamilie, in der keiner das Land verlassen hat.

Das Zerwürfnis über den Chavismo ging quer durch Ramóns Familie, die in Maracaibo lebte, dem sonnenverwöhnten Erdöl-Zentrum und der zweitgrößten Stadt Venezuelas. Ihre Mutter war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, schaffte es aber in die Mittelschicht, indem sie sich einen Platz an der öffentlichen Universität in Maracaibo erkämpfte und als Lehrerin arbeitete. Sie wurde eine begeisterte Chavista, wetterte dann aber ebenso energisch gegen Chávez, als die Wirtschaft 2014 in eine Abwärtsspirale geriet. (Ramóns Vater war Spanier und hatte im Bürgerkrieg auf Seiten der Republik gekämpft, sich freiwillig zum Kampf gegen die Nazis an der Westfront gemeldet und war im Konzentrationslager Mauthausen interniert worden, bevor er nach Caracas auswanderte. Er starb ein Jahr nach Chávez’ erstem Putschversuch im Jahr 1992.) Bei Ramón, die anfangs mit Chávez sympathisierte, machte sich ebenfalls Enttäuschung breit. Einige ihrer Cousins und Geschwister blieben hingegen überzeugte Anhänger.

Ramón verließ das Land früher als viele ihrer Landsleute, schon 2010. Sie hatte Journalismus studiert und als Reporterin über die chavistische Politik und die Massenkundgebungen gegen ihn geschrieben – »die Emotionen der Menschen kochten hoch«, erinnert sie sich – und heiratete schließlich einen brasilianischen Journalisten. Er wurde nach China versetzt, und sie ging mit. (Viele Ortswechsel später ist sie heute Korrespondentin für Agence France-Presse in Los Angeles.) Ihre beiden Brüder verließen Venezuela einige Jahre nach ihr, da befand sich das Land schon im freien Fall. Der Ältere führte einen kleinen Lebensmittelladen, arbeitete als Bankangestellter, dann als Bäcker und gab schließlich alles auf, nur um in Chile als Kellner sein Geld zu verdienen. Der Jüngere, ein bis zuletzt überzeugter Chavista, wollte eigentlich bleiben, verdiente als Polizist aber umgerechnet nur 3,40 Dollar im Monat. Die Polizeikräfte waren dafür zuständig, die Demonstrationen der Opposition zu unterdrücken. »Was soll ich noch hier«, sagte er zu seiner Schwester, als er 2017 seine Sachen packte.

Die grundlegende Frage, was genau überhaupt im Land passierte und wer dafür verantwortlich ist, wird sowohl innerhalb als auch außerhalb Venezuelas heiß diskutiert. In den amerikanischen Talkshows ist die Sache klar: Der Sozialismus ist die Hölle. Chávez und der von ihm auserkorene Nachfolger Nicolás Maduro haben Venezuela gegen die Wand gefahren. Wer einem Sozialisten seine Stimme gibt, wird sich früher oder später kein Klopapier mehr kaufen können. Das Schreckgespenst des Castrochavismo hatte auch Donald Trump in Florida geholfen – 2020 schaltete Trumps Wahlkampfteam dort eine Anzeige, in der er fälschlicherweise behauptete, Maduro unterstütze Joe Biden. Im Staatsfernsehen Venezuelas wird einem natürlich eine ganz andere Geschichte präsentiert: Ein feindliches Imperium hält Venezuela unter seiner Knute; wegen des von den USA geführten Wirtschaftskriegs können die Venezolaner keine Waren des täglichen Bedarfs mehr kaufen. Was ist nun richtig?

Abgesehen davon, dass Chávez hauptsächlich für Umverteilung angetreten war und nicht für eine eiserne sozialistische Ideologie, wird die Wahrheit wohl irgendwo in der Mitte zu suchen sein, potenziert durch eine ihrem Wesen nach anfällige Wirtschaft, die ausschließlich auf Ölförderung basiert. 1914 hatten Goldsucher die erste Ölquelle Venezuelas erschlossen. Es stellte sich heraus, dass das Land über die größten nachgewiesenen Erdölreserven der Welt verfügt – bei der zweiten großen Entdeckung in einer Stadt namens Cabimas regnete das Öl neun Tage lang vom Himmel. Mit dem Geld aus dem Ölgeschäft baute man in Caracas lange Boulevards, und die Reichen gingen auf Einkaufstour nach Paris, um sich die neueste Mode zuzulegen. In den 1970er Jahren und insbesondere nach der Verstaatlichung der Ölindustrie im Jahr 1976 war Venezuela eines der reichsten Länder der Welt. Keine Regierung unternahm jemals ernsthafte Schritte zur Diversifizierung der Wirtschaft. Warum auch, wenn das Land doch la Venezuela saudita (Saudi-Venezuela) genannt wurde und in Petrodollars schwamm? Die Menschen flogen nach Miami, um sich von Elektronik bis hin zu Möbeln alles zu kaufen, was ihr Herz begehrte. Sie waren so wohlhabend, dass man in den 1970ern über Venezolaner im Ausland spottete, ihr Leitspruch sei »Tá barato, dame dos!« (»Das ist so billig, gib mir gleich zwei!«).

In seinem unvoreingenommenen Buch Things Are Never So Bad That They Can’t Get Worse über den jüngsten Zusammenbruch und Parallelen zu früheren Krisen schreibt der ehemalige Korrespondent der New York Times William Neuman, dass das unerschütterliche Vertrauen auf das Öl »eine bereits bestehende Tendenz zu einer stark zentralisierten Regierung mit einer mächtigen Exekutive noch verstärkt hat«. Venezuela blickt auf eine lange Vergangenheit von Diktaturen zurück, aber auch auf eine Tradition demokratischer Öffnungen, wie die kurze Präsidentschaft von Rómulo Gallegos, einem der berühmtesten lateinamerikanischen Schriftsteller seiner Zeit, im Jahr 1948. Neuman zitiert den ersten Ölminister der venezolanischen Demokratie, Juan Pablo Pérez Alfonzo, der an der Gründung der OPEC beteiligt war. Er warnte in den 1970er Jahren davor, dass der Reichtum des Landes auch seinen Ruin bedeuten würde, und bezeichnete Erdöl als »das Exkrement des Teufels«.

In ihrem soziologischen Klassiker The Paradox of Plenty (1997) zeigt die Politikwissenschaftlerin Terry Karl, dass Länder, in denen große Ölvorkommen entdeckt werden, wie Venezuela, Nigeria, Iran, Algerien und Indonesien, oft die Illusion von Wohlstandswachstum erleben und dann zu Petrostaaten werden, destabilisiert durch die zunehmende Dominanz derer, die durch das Öl reich geworden sind. In Venezuela sprudelten die Gewinne schnell und heftig, und vor allem kamen weit mehr der Zuwendungen bei den Reichen an als bei den Armen. Die Gewerkschaften ergatterten zwar Verträge mit staatlichen Unternehmen, die sich bereit erklärten, mehr Arbeiter einzustellen, als gebraucht wurden; doch die privaten Unternehmen profitierten von zinsgünstigen Krediten, staatlichen Aufträgen und niedrigen Steuern. Bedürftige bekamen Wohnungen, alte Menschen bekamen Renten, alle bekamen fast kostenloses Benzin. »Zwar ist es in jedem Land so, dass Regierungen bevorzugte Wählergruppen mit manchen von diesen Vergünstigungen und Wahlgeschenken bei der Stange halten«, schreibt Neuman, »doch die Venezolaner betrachteten sie bald als wesentliche Bestandteile ihrer Staatsbürgerschaft – unabhängig davon, ob die Ölpreise hoch oder niedrig waren.« Die Wohlhabenden und Mächtigen gingen noch einen Schritt weiter – das Ausmaß von Korruption im Land ist legendär. »In den Augen seiner Bürger«, so Neuman, »ist der venezolanische Staat kaum mehr als ein Geldautomat.«