»Wenn der Selbstmord erlaubt ist …«
von Bernhard SchindlbeckI.
»Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen. Die Entscheidung des Einzelnen, seinem Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren. Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.«
So beginnen die Leitsätze der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020, einer Entscheidung, die weithin als überraschend, erstaunlich und epochal kommentiert wurde. Es ging dem Gericht darum, das »in § 217 Abs. 1 STGB strafbewehrte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« zu kippen, das »es Suizidwilligen faktisch unmöglich« gemacht habe, »die von ihnen gewählte, geschäftsmäßig angebotene Suizidhilfe in Anspruch zu nehmen«.
Das Gericht wollte ganz klar den Zugang zu ärztlich assistierter Sterbehilfe ermöglichen. Deshalb erhob es den Suizid zu einem Freiheitsrecht, das es im Artikel 2 des Grundgesetzes verankerte, der jedem Menschen die »freie Entfaltung seiner Persönlichkeit« garantiert. Es mutet dabei einigermaßen paradox an, dass die Entfaltung der Persönlichkeit auch in der Vernichtung der Person bestehen soll, denn die Vernichtung als eine Art Entfaltung zu verstehen, ist ein logisch-semantischer Widerspruch in sich selbst; es ist, zugespitzt gesagt, als würde man das Stehlen zum Schenken umdefinieren.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte im März 2017 die Sterbehilfe in Ausnahmefällen erlaubt. »Schwer kranke Menschen können zukünftig Anspruch auf Medikamente zur schmerzlosen Selbsttötung haben. ›In extremen Ausnahmesituationen‹ dürfe ihnen dies nicht verwehrt werden, entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.« Die Leitsätze dieses Urteils lauten folgendermaßen: »Der Erwerb eines Betäubungsmittels zum Zweck der Selbsttötung ist grundsätzlich nicht erlaubnisfähig. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Menschen, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben enden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln. Im Hinblick auf dieses Grundrecht ist § 5 Abs. 1 Nr. 6 BTMG dahin auszulegen, dass der Erwerb eines Betäubungsmittels für eine Selbsttötung mit dem Zweck des Gesetzes ausnahmsweise vereinbar ist, wenn sich der suizidwillige Erwerber wegen einer schweren und unheilbaren Erkrankung in einer extremen Notlage befindet. Eine extreme Notlage ist gegeben, wenn – erstens – die schwere und unheilbare Erkrankung mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können, – zweitens – der Betroffene entscheidungsfähig ist und sich frei und ernsthaft entschieden hat, sein Leben beenden zu wollen und ihm – drittens – eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches nicht zur Verfügung steht.«
Man sieht, dass das Bundesverfassungsgericht das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung auch auf anderem Wege hätte aufheben können, etwa über Ausnahmeregelungen wie sie der Absatz 2 des § 217 STGB ohnehin schon kannte, oder über eine Indikationenregelung (»unheilbar schwer krank« etc.), wie sie auch beim Schwangerschaftsabbruch Anwendung finden, also ohne ein Grundrecht auf Suizid zu postulieren. Eine Einschränkung der Sterbehilfe auf schwerst oder unheilbar kranke Menschen jedoch hat das Verfassungsgericht mit seinem »Recht auf selbstbestimmtes Sterben« als Persönlichkeitsrecht auch verworfen.
Eigentlich müsste also künftig jeder Suizident bei der Ausübung seines Freiheitsrechts auf Selbsttötung ärztliche Unterstützung in Anspruch nehmen können, was der Gesetzgeber in dieser uneingeschränkten Weise wohl nicht erlauben wollen wird. Zumindest eine Pflicht zur Beratung durch Psychiater oder Psychologen mit anschließender Erlaubnis (oder Nichtgenehmigung) wird vermutlich die Regel werden. Welche Gründe dann für einen beantragten Suizid akzeptiert werden und welche nicht, ist eine interessante Frage. Die Feststellung, ob eine Willensentscheidung zum Suizid »frei« getroffen wurde oder nicht, bleibt letztlich eine willkürliche Setzung.
II.
Im Folgenden aber geht es nicht um den assistierten Suizid, um unheilbare Krankheiten, Grenzziehungen, Abwägungen oder Alternativen wie Palliativmedizin, sondern nur um die Behauptung des Verfassungsgerichts, dass es ein im allgemeinen Persönlichkeitsrecht enthaltenes Grundrecht zur Selbsttötung gebe. So groß die Überraschung darüber war, dass das Gericht sich diese Ansicht zu eigen macht, neu ist sie keineswegs.
Der Rechtsphilosoph Reinhard Merkel etwa wirbt schon lange dafür und bemüht dabei wie selbstverständlich auch den Würdebegriff. Der Suizid sei die Wahl des kleineren Übels, wenn etwas beginnt, »das ich definitiv nicht mehr ertragen kann«. Daraus ergebe sich die Maxime: »Zu entscheiden, ob ein Sterben erträglich oder unerträglich für jemanden ist, möge man bitte ihm selbst überlassen. Es gehört zu seiner Autonomie und damit zu seiner Würde, dass er selbst das ihm Unerträgliche festlegen kann.« Hier sieht man exemplarisch, wie willkürlich und apodiktisch als bloße Behauptung auch der Autonomiebegriff verwendet wird, dessen großer Verfechter im deutschen Idealismus, Immanuel Kant, Merkel natürlich massiv widersprechen würde.
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