Heft 856, September 2020

Werk mit Autoren

Gerhard Richters Birkenau-Zyklus von Nora Bierich

Gerhard Richters Birkenau-Zyklus

Die Fotos

Es gibt vier berühmte Fotos aus Auschwitz, die ein Häftling des Sonderkommandos, der Grieche Alberto Errera, 1944 im Rahmen einer kollektiven Aktion heimlich und unter großer Gefahr im Lager Auschwitz-Birkenau aufgenommen hat. Die Fotos wurden aus dem Lager geschmuggelt, tauchten jedoch erst nach dem Ende des Kriegs in Krakau auf. Sie waren in großer Eile aufgenommen, zwei durch die Tür des Krematoriums V hindurch. Auf zwei der schwarzweißen Fotos sind Leichen zu sehen, die auf dem Verbrennungsplatz vor der Gaskammer des Krematoriums V verbrannt werden, man sieht Rauch und sechs beziehungsweise acht Männer, ein paar schleifen die Leichen in Richtung Feuer. Auf dem dritten Foto sieht man mehrere laufende nackte Frauen vor einem Wäldchen, sie sind auf dem Weg in die Gaskammer, zwei Frauen heben sich vorn vor der Menschengruppe ab, die anderen sind nur undeutlich zu erkennen. Auf dem vierten Bild sieht man nur ein paar dunkle Äste und etwas Himmel. Das Besondere dieser vier Fotos ist, dass es die einzigen bekannten Fotografien sind, die KZ-Häftlinge in Auschwitz selbst gemacht haben, und dass es die einzigen Fotos sind, auf denen zu sehen ist, wie KZ-Opfer verbrannt werden. Sie gelten als Akt des Widerstands und gehören zu den wichtigsten fotografischen Zeugnissen der Shoah.

Neu wahrgenommen wurden diese Fotografien, als der französische Kunsthistoriker und Philosoph Georges Didi-Huberman 2002 anlässlich der Genfer Ausstellung »Mémoire des camps« für den Katalog die Geschichte dieser Bilder und ihre Bedeutung analysierte und damit vor allem in Frankreich eine heftige Debatte auslöste. 2003 veröffentlichte Didi-Huberman den Beitrag erneut in seinem Buch Images malgré tout (Bilder trotz allem), in dessen zweitem Teil er sich mit den in dieser Debatte vor allem von dem Filmregisseur Claude Lanzmann sowie den Psychoanalytikern Gérard Wajcman und Elisabeth Pagnoux erhobenen Vorwürfen auseinandersetzt. Sie hatten sich gegen das öffentliche Zeigen der Fotos ausgesprochen, da dieses ihrem Verständnis nach einen Verstoß gegen das Bilderverbot von Bildern der Shoah darstellte. Claude Lanzmann hatte schon anlässlich von Spielbergs Film Schindlers Liste ein ultimatives Urteil gesprochen: »Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, dass er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist: Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine Überzeugung, dass jede Darstellung verboten ist.«

Didi-Huberman vertrat im Streit um die vier Auschwitz-Fotos eine Gegenposition: Man müsse die Bilder, welche die Gefangenen der Hölle von Auschwitz unter größter Gefahr entrissen hätten und die kostbarer seien als alle erdenklichen Kunstwerke, unbedingt zeigen, darin bestehe gerade unsere heutige Verantwortung den Bildern gegenüber. Gerhard Richter kannte Didi-Hubermans Bilder trotz allem, und er kannte zumindest eins der Fotos, es ist in seinem Atlas, dem seit Anfang der sechziger Jahre geführten Archiv mit den für sein künstlerisches Werk wichtigen Fotos, Zeitungsausschnitten und Entwürfen, für das Jahr 1967 abgebildet.

Die Bilder

Im Sommer 2014 malte Richter nach der Vorlage der eher kleinen Auschwitz-Fotos vier Bilder mit den Maßen 260 mal 200 Zentimeter. Zunächst projizierte er die Fotografien in vergrößertem Maßstab auf die Leinwände, zeichnete die Szenerien mit den Gestalten ab, trug dann Schwarz- und Grautöne auf, überzog alles mit einem Braun-Grau-Schwarz, fügte Rot und Grün hinzu. Ende August waren die Bilder ganz mit Farbschichten übermalt. Mit den horizontal und vertikal ineinander verstrichenen Strukturen wirken die Bilder düsterer als viele von Richters anderen Rakelbildern. Von den anfangs übertragenen Fotografien ist nichts mehr zu sehen.

Im Februar 2015 wurden die vier großen Bilder zusammen mit anderen Werken des Künstlers im Rahmen der Ausstellung »Gerhard Richter. Neupräsentation im Albertinum« erstmals der Öffentlichkeit präsentiert. Die Bilder trugen den Titel: Abstrakte Bilder (937/1–4). Ihnen gegenüber hing die digitale Reproduktion der Bilder, wobei jede der vier Reproduktionen wiederum in vier Rechtecke unterteilt ist. Ein Jahr später hingen die Werke samt ihrer Reproduktion im Zentrum einer Ausstellung mit abstrakten Werken Richters und einiger zeitgenössischer Künstler im Museum Frieder Burda in Baden-Baden. Nun trugen sie erstmals den Namen Birkenau, der auf ihre Entstehungsgeschichte verweist und ihnen zugleich eine Bedeutung zuschreibt, die für den Betrachter aus den Bildern selbst nicht ersichtlich wird.

Ebenso ausgestellt waren die vier Häftlingsfotos aus Auschwitz, die Richter als Vorlage gedient hatten, sowie Tafeln aus seinem Atlas, die zeigen sollten, dass sich der Künstler schon früh mit fotografischen Dokumenten der NS-Zeit auseinandergesetzt hatte. Während alle früheren Ansätze, Fotos von Opfern des Naziterrors bildlich umzusetzen, gescheitert seien, so der Ankündigungstext zur Ausstellung, konnte es »mit den ›Birkenau-Bildern‹ erstmals zu einer malerischen Lösung durch den Künstler kommen«. Mit dem Verweis auf den Atlas wurde nicht nur Richters Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte »belegt«, sondern den Birkenau-Bildern ein genealogischer Platz im Werk des Malers zugeordnet.

Zusätzlich wurden in der Ausstellung noch 93 fotografische Details des Birkenau-Zyklus gezeigt, die Richter unter dem Titel Birkenau auch als Buch veröffentlicht, dem nur ein kurzer Text beigefügt ist: »Birkenau. 93 Details aus meinem Bild. Gerhard Richter, 2015«. In einer weiteren Vitrine waren darüber hinaus 15 Berichte von Überlebenden der Shoah ausgestellt, die unter dem Titel Mit meiner Vergangenheit lebe ich beim Suhrkamp Verlag erschienen und deren Bucheinbände samt Schuber mit Ausschnitten aus Richters Birkenau-Bildern versehen sind.

Im September 2017 wurde der Bilderzyklus Birkenau dem Deutschen Bundestag übergeben. Allerdings hängen in der westlichen Eingangshalle des ehemaligen Reichstags nicht die vier Originalbilder, sondern Reproduktionen auf Aluminium. An der gegenüberliegenden Wand hing zu diesem Zeitpunkt bereits Richters über zwanzig Meter hohe Farbkomposition Schwarz Rot Gold, die er 1999 zur Wiedereröffnung des Gebäudes als Deutscher Bundestag geschaffen hatte. Damals hatte Richter zunächst Entwürfe gefertigt, denen verschiedene Fotos von Opfern aus dem Warschauer Ghetto und dem Konzentrationslager Mauthausen zugrunde lagen, doch er verwarf diese letztendlich und entschied sich für seine in Farbe und Form modifizierte deutsche Einheitsflagge.

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