Heft 844, September 2019

What’s the Matter with Fergus Falls?

Reisen ins Herz der politischen Rechten von Jens Wietschorke

Reisen ins Herz der politischen Rechten

»To grasp the native’s point of view«: Das forderte der Pionier der ethnologischen Feldforschung, Bronisław Malinowski, in seinem 1922 erschienenen Klassiker über die Argonauten des westlichen Pazifik. Die wissenschaftliche Ethnografie hat sich von dieser Formulierung längst verabschiedet, sie hat die Konstruktion der »natives« ebenso grundsätzlich in Frage gestellt wie die auktoriale Position des Forschers, und sie hat die Idee vom »point of view« durch eine multilokale und multiperspektivische Forschungsoptik ersetzt. Die Kritik des othering richtet sich seit der Writing-culture-Debatte der 1980er Jahre gegen den ethnisierenden, homogenisierenden ethnologischen Blick, der das Forschungsfeld künstlich befremdet und seine Akteurinnen und Akteure erst zu den »Anderen« macht, die sie ohne ihn gar nicht wären. Gefragt sind seitdem sensible Techniken des dialogischen, partizipativen Forschens, die mit der eigenen Position als Wissenschaftler/in möglichst reflektiert umgehen.

Seit einiger Zeit ist nun der Boom einer Textsorte zu beobachten, in der Malinowskis Maxime wiederaufzuerstehen scheint: Studien, Reportagen und Sachbücher über Gegenden, in denen es zu frappierenden Wahlergebnissen für rechtskonservative oder rechtsradikale Parteien gekommen ist. What’s the Matter with Kansas? fragte Thomas Frank 2004, als er sich für die zunehmenden Wahlerfolge der konservativen Republikaner in seinem Heimatstaat interessierte.1 »What’s the matter?« fragen sich seither zahllose Autoren, Berichterstatter und Kommentatoren – sei es im Zuge der Hausse von Pegida und AfD (nicht nur) in den ostdeutschen Bundesländern, sei es nach den Ergebnissen des Brexit-Plebiszits und der US-amerikanischen Präsidentenwahl, sei es im Hinblick auf den Rechtsruck in Österreich oder Ungarn oder die Proteste der »gilets jaunes« in Paris. Die Untersuchungen und Berichte nehmen nicht selten eine klassisch ethnologische Forschungshaltung ein: hinfahren, die Leute kennenlernen, die Leute verstehen, die Story aufschreiben. Wie brüchig diese Heuristik und Methodologie ist, kann man nicht nur in den genannten wissenschaftlichen Theoriedebatten nachlesen, meist merkt man es den Texten selber an.

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