Heft 854, Juli 2020

Wissenschaftskommunikation in »postfaktischen« Zeiten

von Thomas Thiemeyer

Im November – kurz bevor die Corona-Krise den erklärenden Wissenschaftler zum Medienstar machen sollte – hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in einem Grundsatzpapier einen »Kulturwandel hin zu einer kommunizierenden Wissenschaft« angemahnt. Besonders viel mahnen muss es eigentlich nicht, denn an den Forschungseinrichtungen im Land hat sich längst herumgesprochen, dass, wer Geld bekommen und als relevant wahrgenommen werden möchte, nicht nur forschen, sondern auch darüber reden muss. Die Rektorate und Präsidien der Universitäten dirigieren größere Pressestäbe und investieren massiv in die Außendarstellung – vom Corporate Design bis zur Hochglanzbroschüre –, und Sonderforschungsbereiche verfügen über eigene Teilprojekte, die einzig dazu da sind, die Forschungsergebnisse unter die Leute zu bringen.

Der Kulturwandel, der dem Ministerium vorschwebt, soll freilich tiefer gehen: inhaltlich und strukturell. Inhaltlich läuft er darauf hinaus, »dass Wissenschaftskommunikation nicht nur die Ergebnisse vermittelt, sondern auch die Prozesse und Methoden von wissenschaftlicher Arbeit transparent macht und dabei die Komplexität und Vorläufigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen thematisiert. Aus Sicht des BMBF sind vor allem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler primäre Akteure der Wissenschaftskommunikation. Durch Transparenz und Dialog können sie selbst einen wichtigen Beitrag leisten, das Vertrauen in Wissenschaft zu stärken.«1 Wissenschaft verständlich zu machen bedeutet so gesehen nicht allein, vermeintlich eindeutige Fakten allgemeinverständlich zu vermitteln, sondern auch zu erklären, wie in der Forschung Erkenntnisse entstehen und wo ihre Grenzen liegen. Damit wird Wissenschaftskommunikation anspruchsvoller, weil sie nicht mehr nur eine Logik nachvollziehbar machen will, sondern darauf aus ist, Laien in die Lage zu versetzen, Entscheidungsprozesse nachvollziehen und sich Alternativen vorstellen zu können.

Dieses Plädoyer für Transparenz und Dialog in der Wissenschaft ist alt und neu zugleich. Alt sind Befund und Ansatz: Bereits 1985 beklagte die Royal Society in London, dass Schüler, Medien und weite Teile der britischen Bevölkerung grundlegende Zusammenhänge in Wissenschaft und Technik nicht mehr verstünden. Ihr Unbehagen an diesem Zustand fasste die königliche Gesellschaft zur Wissenschaftspflege damals in einen Begriff, der seitdem die wissenschaftspolitische Diskussion prägt: »public understanding of science«.2 Der Royal Society schienen neben den Schulen insbesondere die Forschungseinrichtungen im Vereinigten Königreich in der Pflicht. Je komplexer das Wissen, die Techniken und Therapieformen werden, desto mehr müssten Forscher erklären, was sie tun und wie sie zu grundlegenden Einsichten kommen: »Understanding includes not just the facts of science, but also the method and its limitations as well as an appreciation of the practical and social implications. A basic understanding of statistics including the nature of risks, uncertainty and variability.«3

Mit dem Report der Royal Society rückte – wie nun auch beim BMBF – die konkrete Arbeit der Wissenschaften in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Impulse dafür kamen unter anderem aus der Grundlagenforschung: Wissenschaftsgeschichte und science and technology studies hatten zu diesem Zeitpunkt begonnen, Wege und Formen der Wissensproduktion in der Forschung genauer zu analysieren. Sie untersuchten, wie im Labor, im Museum oder bei der naturkundlichen Expedition Erkenntnis zustande kam. Welche Geräte wirkten daran mit? Welche Hypothesen und Vorannahmen lenkten den Blick? Welche Arbeitsweisen lagen dem zugrunde? Und welche Bilder stellten das neue Wissen dar oder präfigurierten es? Ein wenig Licht fiel so in die Black Box, in der sich der Experte verbarg. Sichtbar wurden die vielen Zufälle, Intuitionen und blinden Flecken der Forscher, die Teil jeder Forschung sind.

Auf die große Bühne der internationalen Wissenschaftspolitik schaffte es das Thema Wissenschaftskommunikation Mitte der 1980er Jahre nicht zuletzt deshalb, weil die Royal Society die politische Dimension des Vermittlungsproblems betonte: »Almost all public policy issues have scientific or technological implications. Everybody, therefore, needs some understanding of science, its accomplishments and its limitations.« Dieses politische Leitmotiv hat sich durch die Digitalisierung noch einmal verstärkt.

Die Dystopien des 21. Jahrhunderts hören auf die Namen »Postdemokratie«, »Überwachungskapitalismus«, »Fake News« oder »Künstliche Intelligenz«. Sie zeichnen das Bild einer Gegenwart und Zukunft, in denen die politische Mündigkeit und Teilhabe untergraben werden, weil das Wissen, das nötig ist, um mitreden zu können, so kompliziert geworden und so ungleich verteilt ist, dass nur noch wenige Auserwählte verstehen, was passiert. Dass Algorithmen wichtige Entscheidungen treffen, die wir – sofern wir von ihnen wissen – oft nicht wirklich nachvollziehen können, macht die Lage nicht einfacher.

Grundproblem all dieser Entwicklungen ist, dass Funktionsweisen und Entscheidungen für das Gros der Bevölkerung undurchsichtig bleiben. Sie lassen sich nicht substantiell kritisieren. Die Befähigung zur Kritik an Grundfragen des Alltags und Zusammenlebens aber ist Voraussetzung des demokratischen Rechtsstaats, der von einem eigenverantwortlichen, mündigen Staatsbürger ausgeht. Dieser citoyen versteht im Normalfall, was um ihn herum geschieht. Unverständnis hingegen lähmt nicht nur, sondern nährt Populismen und Verschwörungstheorien aller Art. Sie verbreiten sich umso leichter, je unkontrollierter in den sozialen Netzwerke Falschmeldungen als »alternative Fakten« herumschwirren, die sich durch wissenschaftliche Befunde nicht weiter irritieren lassen. In dieser neuen Situation der »zunehmenden Abschottungstendenzen gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen« hat das Wissenschaftsministerium nun sein Grundsatzpapier lanciert.

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