Wozu Austerität?
Antworten aus dem 20. Jahrhundert von Dominik FlügelAntworten aus dem 20. Jahrhundert
Nachdem die Regierungen des globalen Nordens sich mit einer gigantischen Ausweitung ihrer Haushaltsdefizite durch die Corona-Zeit gerettet haben, sind sie mittlerweile fast überall wieder zu strikter Austeritätspolitik zurückgekehrt: In Frankreich, im Vereinigten Königreich und in der Schweiz, um nur einige Beispiele zu nennen, werden zur Zeit heftige Kämpfe darüber ausgetragen, wo im öffentlichen Haushalt gespart werden kann und soll. In Deutschland wiederum sah sich der neue Bundesfinanzminister Lars Klingbeil dazu veranlasst, alle Ressorts per Rundschreiben zu strikter Sparsamkeit aufzufordern. Die Ministerien dürfen nicht nur keine Projekte planen, die zu einer Netto-Mehrausgabe führen, sie sollen überdies auch noch Stellen streichen, und das, obwohl sich die Spielräume für Investitionen durch die Abkehr von der Schuldenbremse de facto vergrößert haben.
Kürzungen im Staatshaushalt, das ist Austerität, wie sie meist verstanden wird, vor allem in den Wirtschaftswissenschaften: Geringere Staatsausgaben (oder höhere Steuern) sorgen für geringere Staatsverschuldung. Es gibt allerdings gute Gründe dafür, Austeritätspolitik nicht nur über den Staatshaushalt, sondern über ihre Effekte auf die Gesamtwirtschaft zu definieren, denn dann lassen sich die Sparprogramme von Regierungen in einen breiteren Zusammenhang einbetten: Sei es durch Stellenabbau in den Bundesministerien oder durch die Kürzung bei Programmen wie zum Beispiel dem Bundesfreiwilligendienst, der Bundeshaushalt 2025 wird in bestimmten Bereichen den Lebensstandard der Bevölkerung senken. Dieser Effekt wird in Kauf genommen, mit der Absicht, Fiskalregeln einzuhalten und Finanzmärkten zu signalisieren, dass der Haushalt langfristig nicht aus dem Ruder läuft.
Unter dieses breitere, auf Effekte abstellende Verständnis von Austerität würde dann auch eine Erhöhung des Leitzinses fallen, obwohl dieser heutzutage meist außerhalb des Entscheidungsbereichs gewählter Regierungen liegt und den Staatshaushalt nur indirekt betrifft. Denn ob der Staat weniger Geld ausgibt oder es qua Zinspolitik verknappt: Die Folge ist, dass weniger davon ankommt, was vor allem bei solchen Haushalten und Unternehmen zu spüren ist, die zuvor mehr darauf angewiesen waren. Sogar die immer häufiger zu hörende Forderung nach längeren Arbeitstagen oder weniger Feiertagen lässt sich in diesem Sinne als Austerität verstehen.
Ob über den Staatshaushalt, die Zentralbankpolitik oder andere Regulierungen – Austeritätspolitik, breit verstanden, basiert auf der Annahme, dass die Bevölkerung zu viel konsumiert und zu wenig produziert. Längere Arbeitszeiten lassen auf stärkeres Wachstum und höhere Steuereinnahmen hoffen, das Schuldenproblem würde sich so langfristig von selbst lösen. Wenn das Wachstum aber nicht reicht, müssen öffentliche Leistungen eben reduziert werden, damit die Schulden langfristig noch bedient werden können. Durch Geldverknappung kann die Zentralbank den Staat zusätzlich disziplinieren, denn natürlich werden auch Staatsschulden durch eine Erhöhung des Zinssatzes teurer.
So erklärt sich, warum Rufe nach Austerität oft nach der unmittelbaren Überwindung von Krisen laut werden. Auf die Bankenkrise 2007/8 etwa folgte unmittelbar ab 2009 eine Staatsschuldenkrise, und es ist einer der großen Framing-Erfolge konservativer Politik, in der Beschäftigung mit Letzterer Erstere vergessen zu lassen: Länder hätten über ihre Verhältnisse gelebt, nicht etwa die Kosten der Bankenrettungen getragen. Und auch das Klingbeil-Memo knüpft an die Politik Christian Lindners an, die darin bestand, im Nachgang zur Covid-Krise die Staatsausgaben zurückzufahren.
Wer angesichts dessen nach Orientierung sucht, kann zwei exzellente, kürzlich in Übersetzung erschienene Bücher zu Rate ziehen. Das erste, Die Ordnung des Kapitals der Ökonomin Clara Mattei, beschäftigt sich mit Austeritätspolitik in Großbritannien und Italien nach dem Ersten Weltkrieg. Das Zweite, Gebrochene Versprechen des Historikers Fritz Bartel, ist eine Geschichte des Kalten Krieges, im Anschluss an den Ölpreisschock von 1973.
Von beiden Büchern können wir lernen, den Blick über die unmittelbare staatliche Haushaltsbilanz hinaus zu richten und danach zu fragen, wer eigentlich für wen sparen soll, wenn Austerität auf der Agenda steht. Bartel nimmt dabei eher einen analytischen Standpunkt ein, er sieht Austerität als die notwendige Selbstkorrektur eines Staates an, der zu hohe Versprechen gegeben hat und um sein Überleben kämpft. Mattei hingegen geht es explizit darum, ihre Analyse für Kämpfe gegen den kapitalistischen Konsens nutzbar zu machen. Aber bei beiden ist Austerität eine Politik, die Kapitalinteressen zugutekommt.
Die »Erfindung« von Austerität
Die zwei Teile von Die Ordnung des Kapitals lassen sich als Aktion und Reaktion verstehen. Im ersten Teil wird die Ideenlandschaft in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben. Die zentrale These: Die Verstaatlichung ganzer Industrien und die Einführung einer Quasiplanwirtschaft mit dem Ziel der Rüstungsproduktion eröffneten in Großbritannien und Italien sozialistische Möglichkeitsräume, die – damit beschäftigt sich der zweite Teil des Buches – durch Austeritätspolitik in den 1920ern wieder geschlossen werden sollten.
Da britische Unternehmen während des Ersten Weltkriegs durch Exporte deutlich höhere Profite erzielen konnten als durch die Belieferung der eigenen Armee, wurden diverse staatliche Maßnahmen ergriffen, um die Industrieproduktion in kriegsdienliche Bahnen zu lenken. So wurden etwa Transportunternehmen zu Lieferungen verpflichtet und dazu, ihre Leistung unter den marktüblichen Preisen anzubieten. Weite Teile der Munitionsproduktion wurden direkt verstaatlicht, die Profite der verbliebenen privat betriebenen Firmen gedeckelt. In Italien entschied das Landwirtschaftsministerium, welche Saaten von welchen Betrieben angebaut werden sollten. Arbeiter waren in beiden Ländern durch die hohe Zahl der eingezogenen Soldaten eigentlich in einer exzellenten Verhandlungsposition, wurden durch den Staat aber stark diszipliniert. In Italien etwa galten Arbeiter in bestimmten Fabriken als Soldaten und jede Arbeitsverweigerung somit als Fahnenflucht – mit den entsprechenden Sanktionen.
Durch den erfolgreichen Einsatz staatlicher Planung in Kriegszeiten waren die Imperative des freien Marktes und des Profits als Steuerungselement laut Mattei auch in Friedenszeiten angezählt. So wurde die politische Natur von Ausbeutung offenbar: Der Staat trat an die Stelle von Privatunternehmen und übernahm die Disziplinierung von Arbeiterinnen und Arbeitern, die einschlägigen Theorien zufolge automatisch durch den Markt geschieht, einfach selbst. Mattei: »Mehrwert abzuschöpfen, war nicht länger eine Angelegenheit rein wirtschaftlichen Zwangs, der durch die unpersönlichen Gesetze des Marktes ausgeübt wurde – die Ausbeutung wurde nun durch staatliche Intervention erzwungen«
Den revolutionären Geist, der dieser Erkenntnis entsprang, verdeutlicht Mattei an verschiedenen Experimenten der Epoche. 1919 etwa drohte die Miners’ Federation of Great Britain, die etwa eine Million britische Bergarbeiter repräsentierte, mit einem nationalen Streik, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Diese umfassten neben besseren Arbeitsbedingungen auch politisch-systemische Änderungen, die langfristige Verstaatlichung der Zechen und ein Mitbestimmungsrecht der Arbeiter. Um sich Zeit zu kaufen, wandte die Regierung ein heute noch beliebtes Mittel an: Sie setzte eine Kommission ein, die nach ihrem Vorsitzenden, einem Richter, benannte Sankey-Kommission. Zu gleichen Teilen aus Vertretern der Bergarbeiter und drei von der anderen Seite ausgewählten Ökonomen bestehend, kam sie unter breiter Aufmerksamkeit der Medien zu dem Schluss, dass die Profitorientierung der Bergwerke unterm Strich negative Folgen hatte. Die Löhne wurden künstlich niedrig gehalten und Investitionen verschleppt, um kurzfristig Gewinne zu steigern. Diese radikalen Schlüsse in einer von der Regierung eingesetzten Kommission sieht Mattei als Beleg dafür, dass antikapitalistische Positionen zeitweise bis in den Mainstream anschlussfähig waren.