Wozu Austerität?
Antworten aus dem 20. Jahrhundert von Dominik FlügelAntworten aus dem 20. Jahrhundert
Nachdem die Regierungen des globalen Nordens sich mit einer gigantischen Ausweitung ihrer Haushaltsdefizite durch die Corona-Zeit gerettet haben, sind sie mittlerweile fast überall wieder zu strikter Austeritätspolitik zurückgekehrt: In Frankreich, im Vereinigten Königreich und in der Schweiz, um nur einige Beispiele zu nennen, werden zur Zeit heftige Kämpfe darüber ausgetragen, wo im öffentlichen Haushalt gespart werden kann und soll. In Deutschland wiederum sah sich der neue Bundesfinanzminister Lars Klingbeil dazu veranlasst, alle Ressorts per Rundschreiben zu strikter Sparsamkeit aufzufordern. Die Ministerien dürfen nicht nur keine Projekte planen, die zu einer Netto-Mehrausgabe führen, sie sollen überdies auch noch Stellen streichen, und das, obwohl sich die Spielräume für Investitionen durch die Abkehr von der Schuldenbremse de facto vergrößert haben.
Kürzungen im Staatshaushalt, das ist Austerität, wie sie meist verstanden wird, vor allem in den Wirtschaftswissenschaften: Geringere Staatsausgaben (oder höhere Steuern) sorgen für geringere Staatsverschuldung.1 Es gibt allerdings gute Gründe dafür, Austeritätspolitik nicht nur über den Staatshaushalt, sondern über ihre Effekte auf die Gesamtwirtschaft zu definieren, denn dann lassen sich die Sparprogramme von Regierungen in einen breiteren Zusammenhang einbetten: Sei es durch Stellenabbau in den Bundesministerien oder durch die Kürzung bei Programmen wie zum Beispiel dem Bundesfreiwilligendienst, der Bundeshaushalt 2025 wird in bestimmten Bereichen den Lebensstandard der Bevölkerung senken. Dieser Effekt wird in Kauf genommen, mit der Absicht, Fiskalregeln einzuhalten und Finanzmärkten zu signalisieren, dass der Haushalt langfristig nicht aus dem Ruder läuft.2
Unter dieses breitere, auf Effekte abstellende Verständnis von Austerität würde dann auch eine Erhöhung des Leitzinses fallen, obwohl dieser heutzutage meist außerhalb des Entscheidungsbereichs gewählter Regierungen liegt und den Staatshaushalt nur indirekt betrifft. Denn ob der Staat weniger Geld ausgibt oder es qua Zinspolitik verknappt: Die Folge ist, dass weniger davon ankommt, was vor allem bei solchen Haushalten und Unternehmen zu spüren ist, die zuvor mehr darauf angewiesen waren. Sogar die immer häufiger zu hörende Forderung nach längeren Arbeitstagen oder weniger Feiertagen lässt sich in diesem Sinne als Austerität verstehen.
Ob über den Staatshaushalt, die Zentralbankpolitik oder andere Regulierungen – Austeritätspolitik, breit verstanden, basiert auf der Annahme, dass die Bevölkerung zu viel konsumiert und zu wenig produziert. Längere Arbeitszeiten lassen auf stärkeres Wachstum und höhere Steuereinnahmen hoffen, das Schuldenproblem würde sich so langfristig von selbst lösen. Wenn das Wachstum aber nicht reicht, müssen öffentliche Leistungen eben reduziert werden, damit die Schulden langfristig noch bedient werden können. Durch Geldverknappung kann die Zentralbank den Staat zusätzlich disziplinieren, denn natürlich werden auch Staatsschulden durch eine Erhöhung des Zinssatzes teurer.
So erklärt sich, warum Rufe nach Austerität oft nach der unmittelbaren Überwindung von Krisen laut werden. Auf die Bankenkrise 2007/8 etwa folgte unmittelbar ab 2009 eine Staatsschuldenkrise, und es ist einer der großen Framing-Erfolge konservativer Politik, in der Beschäftigung mit Letzterer Erstere vergessen zu lassen:3 Länder hätten über ihre Verhältnisse gelebt, nicht etwa die Kosten der Bankenrettungen getragen. Und auch das Klingbeil-Memo knüpft an die Politik Christian Lindners an, die darin bestand, im Nachgang zur Covid-Krise die Staatsausgaben zurückzufahren.
Wer angesichts dessen nach Orientierung sucht, kann zwei exzellente, kürzlich in Übersetzung erschienene Bücher zu Rate ziehen. Das erste, Die Ordnung des Kapitals der Ökonomin Clara Mattei, beschäftigt sich mit Austeritätspolitik in Großbritannien und Italien nach dem Ersten Weltkrieg.4 Das Zweite, Gebrochene Versprechen des Historikers Fritz Bartel,5 ist eine Geschichte des Kalten Krieges, im Anschluss an den Ölpreisschock von 1973.
Von beiden Büchern können wir lernen, den Blick über die unmittelbare staatliche Haushaltsbilanz hinaus zu richten und danach zu fragen, wer eigentlich für wen sparen soll, wenn Austerität auf der Agenda steht. Bartel nimmt dabei eher einen analytischen Standpunkt ein, er sieht Austerität als die notwendige Selbstkorrektur eines Staates an, der zu hohe Versprechen gegeben hat und um sein Überleben kämpft. Mattei hingegen geht es explizit darum, ihre Analyse für Kämpfe gegen den kapitalistischen Konsens nutzbar zu machen. Aber bei beiden ist Austerität eine Politik, die Kapitalinteressen zugutekommt.
Die »Erfindung« von Austerität
Die zwei Teile von Die Ordnung des Kapitals lassen sich als Aktion und Reaktion verstehen. Im ersten Teil wird die Ideenlandschaft in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg beschrieben. Die zentrale These: Die Verstaatlichung ganzer Industrien und die Einführung einer Quasiplanwirtschaft mit dem Ziel der Rüstungsproduktion eröffneten in Großbritannien und Italien sozialistische Möglichkeitsräume, die – damit beschäftigt sich der zweite Teil des Buches – durch Austeritätspolitik in den 1920ern wieder geschlossen werden sollten.
Da britische Unternehmen während des Ersten Weltkriegs durch Exporte deutlich höhere Profite erzielen konnten als durch die Belieferung der eigenen Armee, wurden diverse staatliche Maßnahmen ergriffen, um die Industrieproduktion in kriegsdienliche Bahnen zu lenken. So wurden etwa Transportunternehmen zu Lieferungen verpflichtet und dazu, ihre Leistung unter den marktüblichen Preisen anzubieten. Weite Teile der Munitionsproduktion wurden direkt verstaatlicht, die Profite der verbliebenen privat betriebenen Firmen gedeckelt. In Italien entschied das Landwirtschaftsministerium, welche Saaten von welchen Betrieben angebaut werden sollten. Arbeiter waren in beiden Ländern durch die hohe Zahl der eingezogenen Soldaten eigentlich in einer exzellenten Verhandlungsposition, wurden durch den Staat aber stark diszipliniert. In Italien etwa galten Arbeiter in bestimmten Fabriken als Soldaten und jede Arbeitsverweigerung somit als Fahnenflucht – mit den entsprechenden Sanktionen.
Durch den erfolgreichen Einsatz staatlicher Planung in Kriegszeiten waren die Imperative des freien Marktes und des Profits als Steuerungselement laut Mattei auch in Friedenszeiten angezählt. So wurde die politische Natur von Ausbeutung offenbar: Der Staat trat an die Stelle von Privatunternehmen und übernahm die Disziplinierung von Arbeiterinnen und Arbeitern, die einschlägigen Theorien zufolge automatisch durch den Markt geschieht, einfach selbst. Mattei: »Mehrwert abzuschöpfen, war nicht länger eine Angelegenheit rein wirtschaftlichen Zwangs, der durch die unpersönlichen Gesetze des Marktes ausgeübt wurde – die Ausbeutung wurde nun durch staatliche Intervention erzwungen«
Den revolutionären Geist, der dieser Erkenntnis entsprang, verdeutlicht Mattei an verschiedenen Experimenten der Epoche. 1919 etwa drohte die Miners’ Federation of Great Britain, die etwa eine Million britische Bergarbeiter repräsentierte, mit einem nationalen Streik, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Diese umfassten neben besseren Arbeitsbedingungen auch politisch-systemische Änderungen, die langfristige Verstaatlichung der Zechen und ein Mitbestimmungsrecht der Arbeiter. Um sich Zeit zu kaufen, wandte die Regierung ein heute noch beliebtes Mittel an: Sie setzte eine Kommission ein, die nach ihrem Vorsitzenden, einem Richter, benannte Sankey-Kommission. Zu gleichen Teilen aus Vertretern der Bergarbeiter und drei von der anderen Seite ausgewählten Ökonomen bestehend, kam sie unter breiter Aufmerksamkeit der Medien zu dem Schluss, dass die Profitorientierung der Bergwerke unterm Strich negative Folgen hatte. Die Löhne wurden künstlich niedrig gehalten und Investitionen verschleppt, um kurzfristig Gewinne zu steigern. Diese radikalen Schlüsse in einer von der Regierung eingesetzten Kommission sieht Mattei als Beleg dafür, dass antikapitalistische Positionen zeitweise bis in den Mainstream anschlussfähig waren.
Ein Beispiel für die Absage an Profitorientierung stellte das britische Gildensystem dar, zu dem unter anderem Baugilden zählten, die sich um Regierungsaufträge bewarben und so am Wohnungsbau beteiligten. Das wirtschaftswissenschaftlich streng orthodoxe Quarterly Journal of Economics untersuchte die Gilden 1922 empirisch und war erstaunt, wie gut diese wirtschafteten. Die großzügige Lohnfortzahlung im Krankheitsfall etwa führte nicht zu Missbrauch. Im Gegenteil, die Anzahl an Krankheitstagen war geringer als in privaten Unternehmen.
In Italien sprossen Genossenschaften aus dem Boden, die – teils mithilfe des Staates, teils finanziert durch ein Netzwerk genossenschaftlicher Banken – im Krieg verstaatlichte Betriebe aufkauften und ihren Gewinn in Versicherungen und Auszahlungen an alle Arbeiter aufteilten. Diese Genossenschaften waren demokratisch organisiert und wollten ausdrücklich einen Gegenpol zu der in der Privatwirtschaft vorherrschenden Profitorientierung bilden.
Für Matteis Narrativ – dass die beschriebenen Experimente kleingehalten werden sollten – ist es wichtig zu zeigen, dass bei den Architekten der Austeritätspolitik auch ein Bewusstsein über den kritischen Zeitgeist bestand. Hier ist ihr Buch allerdings am wenigsten überzeugend. Denn obwohl sie einige Akten, Vermerke und Zitate zutage bringt, drängt sich eine Alternativerklärung auf: dass nämlich die britischen und italienischen Technokraten das Wirtschaftswachstum steigern wollten, Austerität hierfür als das beste Mittel erachteten und sich vor einem öffentlichen Backlash fürchteten.
Fest steht, dass die austeritätsaffinen Eliten sich intensiv mit der öffentlichen Meinung beschäftigten. Auf den Konferenzen von Brüssel 1920 und Genua 1922 trafen sich Technokraten aus mehreren europäischen Ländern, um über wirtschaftspolitische Lösungen für die hohe Verschuldung nach dem Ersten Weltkrieg zu diskutieren. Die Konferenzen werden von der Geschichtsschreibung generell als weniger wichtig erachtet, weil sich in der Frage von zwischenstaatlicher Verschuldung wenig tat. Mattei hebt dagegen hervor, wie sich in Brüssel und Genua ein internationaler Konsens über die Krise und deren Lösung formierte. Die Teilnehmer diagnostizieren eine Art Anspruchsinflation, die für die angespannte Lage der öffentlichen Haushalte verantwortlich sei.
Die Lösungen, auf die sich die Konferenzteilnehmer (unter denen fast keine Gewerkschaftsvertreter waren) einigen konnten, fasst Mattei unter zwei Begriffen zusammen: »Konsens« und »Zwang«. Geht es bei »Konsens« darum, die Bevölkerung von der Notwendigkeit einer Austeritätspolitik zu überzeugen – etwa indem der Staat als Vorbild voranschreitet und einen ausgeglichenen Haushalt vorweist –, besteht »Zwang« schlicht in der Umsetzung von Austerität, auch gegen Widerstand. Dabei richtete sich das Misstrauen der Technokraten nicht nur gegen linke, sondern allgemein gegen demokratisch gewählte Regierungen. Entscheidungen über Wirtschaftspolitik, befanden sie, sollten der demokratischen Entscheidungsfindung enthoben werden.
Für die wissenschaftliche Rechtfertigung ist im britischen Fall der Ökonom Ralph Hawtrey zentral, der für das Finanzministerium ein mathematisches Modell aufstellte, das vor allem zwischen Sparern und Konsumenten unterscheidet. Vereinfacht gesagt fließt durch die Gleichsetzung von Sparen und Investieren (das umstrittene Saysche Theorem) eine Klassenpolitik in das Modell ein. Wer Geld übrighat, trägt automatisch zu Innovation und Wirtschaftswachstum bei. Wer seine monatlichen Einnahmen direkt wieder ausgibt, steht dagegen im Verdacht, über seine Verhältnisse zu leben, und muss dazu gezwungen werden, weniger zu konsumieren. Mancherorts schlägt diese subtile Klassenpolitik in offenen Klassismus um: »Alles in allem scheint es offensichtlich, dass die Klassen mit niedrigeren Einkommen im Vergleich zu den anderen einen erheblichen Mangel an Qualitäten aufweisen. Daher ist dieser Mangel [deficienza] die Ursache für das niedrigere Einkommen und nicht das niedrigere Einkommen die Ursache für den Mangel.« So wird etwa der italienische Ökonom und Mitarbeiter des Finanzministeriums Maffeo Pantaleoni zitiert.
Wirtschaftspolitische Steuerung richtet sich dieser Schule folgend gegen den Konsum derjenigen Schichten, die nicht sparen (also investieren). Konkret nahm das drei Formen an: erstens fiskalisch, über eine Senkung der Staatsausgaben. Der fielen vor allem die angesprochenen antikapitalistischen Experimente zum Opfer, in Großbritannien etwa das Public-housing-Programm sowie alle Forderungen aus dem Sankey-Abschlussbericht. In Italien wurde zudem das Steuersystem regressiver, so dass die Last anteilig stärker auf unteren Klassen lag. Zweitens monetär: Noch bevor der Monetarismus in den 1970ern Einzug in Zentralbanken hielt, stellte der Leitzins (»bank rate«) einen effektiven Weg dar, Volkswirtschaften abzuwürgen. Dadurch wurde die Verhandlungsposition der Arbeiterklasse geschwächt, was schließlich drittens durch industriepolitische Austerität verfestigt wurde, also eine Einschränkung dessen, was durch Arbeitskämpfe erreicht werden konnte. Auch Privatisierungen fallen in diese Kategorie.
Der Untertitel des Buches – »Wie Ökonomen die Austerität erfanden und dem Faschismus den Weg bereiteten« – wird im siebten Kapitel eingelöst, wenn auch nicht auf eine befriedigende Art und Weise. Mattei verwendet viel Zeit darauf, zu erklären, inwiefern Austerität eine Kontinuitätslinie in der Wirtschaftspolitik Mussolinis ist und inwiefern dies auf vier Ökonomen – zwei davon offene Faschisten, zwei davon liberale – zurückgeht. Diese operierten mit ähnlichen Theorien und Grundannahmen wie in Großbritannien. Wenn aber diese vier Ökonomen erst mit Mussolini an die Macht kamen, fragt sich, wie man davon sprechen kann, Austerität habe dem Faschismus den Weg bereitet. Dennoch steht nach der Lektüre von Matteis Buch außer Frage, dass selbst die liberalen Ökonomen – einer von ihnen, Luigi Einaudi, würde später der erste gewählte Präsident der Republik Italien werden – sich herzlich wenig für die antidemokratischen und gewaltvollen Nebeneffekte der von ihnen bevorzugten Wirtschaftspolitik interessierten.
Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht die Beschreibung der Ereignisse in Italien aus der Sicht britischer Beobachter. Diese zeigten sich durchweg beeindruckt von der »Leistung« Mussolinis auf ökonomischem Gebiet. Die politischen Mittel, um dieses Ziel zu erreichen – Schlägertrupps, Verhaftungen, offene Gewalt –, wurden dabei entweder ignoriert oder mit unverhohlenem Rassismus gerechtfertigt: Italiener bräuchten eben eine härtere Hand, denn sie stammen von römischen Sklaven ab, heißt es in einem anonymen internen Papier der Bank of England aus der Zeit.
Die britische Perspektive auf Italien ist nicht nur als Fußnote interessant, britisches (und amerikanisches) Kapital war maßgeblich am Erfolg Mussolinis beteiligt. So verhalfen die Zentralbanken der beiden Länder 1925 und 1926 zu einer Umstrukturierung bestehender Schulden, die es Italien ermöglichten, sich weiter zu verschulden. Gleich im Anschluss an die Umschuldung erhielt die Regierung ein Darlehen in Höhe von 100 Millionen US-Dollar von J. P. Morgan. Als es Italien dann 1926 gelang, den Goldstandard wieder einzuführen,6 gratulierte kein Geringerer als Winston Churchill, damals Finanzminister. Dieser letzte Erfolg »[krönt] die große Arbeit, die Sie für die Wiederherstellung der italienischen Finanzen geleistet haben«.
Am Ende wurde der Kapitalismus also in beiden Ländern gerettet. Austerität wirkte dabei als »Leitplanke« (Mattei) des Wirtschaftssystems, indem sie jeden fundamentalen Widerstand im Keim erstickte, wobei, zumindest in Italien, offene Gewalt angewendet wurde. Aber auch in England, das ist Mattei wichtig zu betonen, vertrugen sich Austerität und Demokratie nicht gut, nur wurde die Demokratie hier durch eine Auslagerung von Macht an eine unabhängige Zentralbank eingeschränkt.
Gebrochene Versprechen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs
Die Einordnung von Austerität als Leitplanke des Kapitalismus einerseits und als antidemokratisches Projekt andererseits steht quer zum Narrativ von Fritz Bartels Gebrochene Versprechen, das Anfang der 1970er Jahre ansetzt und die Endphase des Kalten Krieges erzählt. Einerseits ist Demokratie in dieser Erzählung der Grund, warum Austerität überhaupt umgesetzt werden kann. Andererseits bedeutet Austerität nicht nur die Rettung des Kapitalismus, sondern hätte auch die Rettung des Kommunismus sein können, wenn man gewagt hätte, sie einzusetzen. Eine der großen Stärken von Bartels Buch ist es, die Erfahrungen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.
Alles beginnt mit dem Ölpreisschock im Jahr 1973, als der globale Marktpreis von Öl von etwa 20 auf über 50 Dollar pro Barrel anstieg und dadurch dem globalen Norden die Grundlage des Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit entzogen wurde.7 Die billige Energie hatte den westlichen und den östlichen Staaten bis dahin ermöglicht, in Konkurrenz zueinander ihren Bevölkerungen immer höhere Lebensstandards zu versprechen. Ein einprägsames Beispiel für diese Konkurrenz ist die »Küchendebatte«, bei der Richard Nixon und Nikita Chruschtschow sich 1959 während einer Messe in Moskau darüber stritten, wer seinen Bürgern die besseren Leben versprechen kann. Bartel: »Vor einem weltweiten Fernsehpublikum pries Nixon das amerikanische [System], in dem sich ›jeder Stahlarbeiter‹ ein Eigenheim samt Geschirrspüler und Farbfernseher leisten könne. Chruschtschow prahlte, im Kommunismus hätten die Arbeiter ein ›Recht auf Wohnen‹, und erklärte, innerhalb von sieben Jahren werde die Sowjetunion ›Amerikas Niveau erreichen, und dann gehen wir noch weiter. Wenn wir an euch vorbeiziehen, winken wir freundlich, und wenn ihr wollt, halten wir an und laden euch ein: Kommt bitte gern hinter uns her.‹«
Versprechen sind das zentrale Motiv des Buches, das sich mit dem Satz zusammenfassen lässt, »[d]er Kalte Krieg begann als Rennen darum, Versprechen zu geben, aber endete als Rennen darum, Versprechen zu brechen«. Wurde der Systemwettbewerb zunächst als ein Wettbewerb um die leistungsfähigeren und zugleich billigeren Kühlschränke und Toaster ausgetragen, ging es ab 1973 um das Gegenteil: Wem gelingt es besser, versprochene materielle Verbesserungen nicht umzusetzen und trotzdem als politisches System zu überleben? Und hier hatten die demokratischen Staaten des Westens, so Bartels These, einen entscheidenden Vorteil: »Der demokratische Kapitalismus setzte sich im Kalten Krieg durch, weil er imstande war, sich ökonomische Disziplin aufzuerlegen; der Kommunismus kollabierte, weil ihm dies nicht gelang.«
Um den Druck zu verdeutlichen, der auf den beteiligten Staaten lastete, schildert Bartel ausführlich, wie sich in den siebziger Jahren eine Privatisierung des Kalten Krieges vollzog. Während Finanzen in Zeiten des Nachkriegsbooms eine untergeordnete Rolle gespielt hatten, wurde Geld nach 1973 zu einer zentralen Ressource. Dies hatte den Aufstieg von Kapitalmärkten im Allgemeinen und den »euromarkets«8 im Besonderen zur Folge. Zwischen 1970 und 1980 verzehnfachte sich das Volumen des auf diesen Märkten gehandelten Kapitals nahezu. Kontrolle über diese Märkte wurde zu einem essenziellen Vorteil im Kalten Krieg.
Polen und Ungarn sind dafür instruktive Beispiele. Während die gestiegenen Ölpreise Produktionskosten in die Höhe trieben, wurde das Geld, das die Förderländer mit dem teureren Öl verdienten, auf den Euromärkten angelegt. Auf diesen fingen beide Länder nun an, sich massiv Geld in westlicher Währung zu leihen, um ihre gestiegenen Importe zu bezahlen. Eine der vielen Ironien, die Bartel aufzeigt, besteht darin, dass westliche Banken eine Zeitlang die kommunistischen Satellitenstaaten mitfinanzierten. Als Schnittstelle dieser Finanzierung dienten Bankiers wie der Pole Jan Wołoszyn. Sie waren trotz ihres kommunistischen Hintergrunds sehr beliebt bei den westlichen Banken, wie Bartel anhand von Zitaten aus der Finanzpresse zeigt: »Im Bankgeschäft ›kommt es auf den Menschen an‹, erklärte Euromoney, und so habe Wołoszyn ›mit seinem Charisma, Ansehen und seiner Persönlichkeit viele Banken davon überzeugt, Polen Kredite zu geben‹.« Diese Männer gewannen durch ihr seriöses Auftreten das Vertrauen kapitalistischer Banken. Sie gingen zudem davon aus, dass ihre Anlage durch die autoritären Institutionen und im Zweifelsfall durch die Sowjetunion als lender of last resort gesichert war. Doch Ende der 1970er Jahre zeichnen sich Risse im Vertrauen der Finanzmärkte ab. Die Menge geliehenen Kapitals und der rapide Anstieg der Verschuldung weckten Zweifel, ob diese Schulden langfristig würden bedient werden können.
Hier tut sich – zuerst für Polen – eine Alternative auf, die sich allen im Buch besprochenen Ländern in der einen oder anderen Form immer wieder anbietet: die zwischen Austerität (dem »Brechen von Versprechen«) und einer allmählichen Abgabe von politischer Souveränität an die eigene Bevölkerung oder an internationale Institutionen. Schon früh waren der polnischen Elite die Probleme bewusst, die sie sich mit der Verschuldung einkaufte. Ihr Überleben hing davon ab, dass auf Dauer genug Devisen ins Land kamen, denn die Schulden waren nicht in eigener Währung denominiert. Solange mehr importiert als exportiert wurde, war das Gegenteil der Fall. Devisen, die für Exporte ins Land kamen, reichten nicht, um die Importe zu bezahlen, geschweige denn Schuldenabbau zu betreiben. Dieses Verhältnis konnte nur umgedreht werden, indem man bewusst die Lebensstandards und damit Importe senkte – durch Austerität.
Genau daran versuchte sich Polen im Jahr 1976. Während Austerität bei Clara Mattei einen der drei Wege kapitalistischer Staaten gehen musste – fiskalisch über die Staatsausgaben, monetär über Zentralbankpolitik oder industriepolitisch über die Regulierung von Arbeitskämpfen –, kommt bei Bartel eine vierte, nichtkapitalistische Option hinzu: die Preissteuerung. Da Preise in den Ländern des Ostblocks politisch bestimmt wurden, stellten sie den einfachsten Weg dar, Nachfrage zu steuern. 1976 visierte die polnische Regierung eine drastische Erhöhung der Lebensmittelpreise um 60 Prozent an. Doch schon die Ankündigung dieser Preissteigerung löste in einem solchen Umfang Streiks und Demonstrationen aus, dass die Regierung den Plan bis auf Weiteres aussetzte.
In den Jahren 1980/81 versuchte es die polnische Regierung erneut, diesmal indem sie die Gewerkschaft Solidarność und die Kirchen für den Plan zu vereinnahmen versuchte. Doch diese verlangten zu viel demokratische Mitbestimmung. Die Zusammenarbeit scheiterte, und die Krise endete 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts. Demonstrationen wurden brutal niedergeschlagen, die Solidarność-Führung wurde verhaftet. So konnte Polen Austerität zwar autoritär umsetzen, doch zementierte sich der Vertrauensverlust in die Regierung, der nicht mal ein Jahrzehnt später zum Fall des kommunistischen Staates führen sollte.
Anhand des Vereinigten Königreichs zeigt Bartel, wie Austerität nahezu zeitgleich unter demokratischen Bedingungen verwirklicht werden konnte. Hier nahm die Krise nicht die Form einer Schulden- und Bilanzkrise an (mehr Importe als Exporte, nicht genügend Devisen, um Schulden abzubezahlen), sondern die einer Währungskrise. Bartel: »Da westliche Währungen im Gegensatz zu denen des Ostblocks frei konvertierbar waren, firmierten die Krisen auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs jeweils unter anderem Namen. Während westliche Gesellschaften von Währungskrisen geplagt waren, wurden die Ostblockstaaten von Schuldenkrisen heimgesucht. In beiden Fällen handelte es sich jedoch nur um unterschiedliche Manifestationen ein und desselben Phänomens: Das internationale Kapital hatte die Zuversicht in die Tragfähigkeit der betreffenden Volkswirtschaften verloren.«
Das sinkende Vertrauen in das Vereinigte Königreich seitens der Finanzmärkte zeigte sich darin, dass Anleger aus dem Pfund ausstiegen. Um den Wert des Pfunds zu stützen, brauchte die Bank of England Reserven anderer Währungen, die sich die britische Regierung von den USA, Deutschland und dem Internationalen Währungsfonds lieh. Letzterer verlangte als Bedingung eine Umstrukturierung der Wirtschaft, kurz: Austerität. Ein britischer Beobachter fasste die Situation auf eine Weise zusammen, die stark an die von Mattei zitierten Austeritätsexperten erinnert: »›Das Grundproblem ist, dass die Wähler keine Haushaltsbeschränkungen kennen.‹«
In den Augen vieler Beobachter stellten die Gewerkschaften dabei das zentrale Hindernis dar, weil sie auf jede Preiserhöhung eine Lohnerhöhung folgen ließen. Statt einer sinkenden Lebensqualität hatte jegliche Wirtschaftspolitik also Inflation zur Folge. Im »Winter of Discontent« 1978/79 etwa bestand die Reaktion auf die Austeritätspolitik (von Margaret Thatchers Labour-Vorgänger James Callaghan) in derart heftigen Streiks, dass es zu Engpässen in der Medikamentenversorgung kam. Nach Bartel waren es insbesondere zwei strategische Kniffe, die Thatcher die Umkehrung der Verhältnisse ermöglichten.
Erstens gelang es ihr, sich von der Vorgängerregierung zu distanzieren und ihre eigenen Reformen als notwendige Antwort auf die verfehlte Politik der siebziger Jahre zu präsentieren.9 Im autoritären Polen war dies nicht möglich, weil ja immer die gleiche Partei regierte. Eine Kritik der Regierungspolitik war also immer auch eine Kritik am Staat als solchem. Zweitens unterfütterte Thatcher ihre Reformen mit neoliberaler Ideologie, die einen Rückzug des Staates propagierte, der in der Tradition des Marxismus-Leninismus nicht vermittelbar gewesen wäre.10 So gelang es Thatcher mit dem Haushalt von 1981, eine Wende in der britischen Wirtschaftspolitik einzuläuten, die zunächst vor allem die unteren Schichten der britischen Gesellschaft belastete. Und tatsächlich begann die britische Wirtschaft ab 1981 wieder zu wachsen.
Auch bei den beiden Hauptakteuren des Kalten Kriegs sind in Bartels Narrativ Energie und Finanzen zentral. Zu Ende der Siebziger war nicht nur das britische Pfund in Gefahr, sondern auch der US-Dollar. Inflation und eine zeitweise Abwertung gegenüber dem Yen spiegelten die Unsicherheit globaler Anleger bezüglich der langfristigen Vertrauenswürdigkeit des Dollar wider. Dieses Vertrauen wieder herzustellen, kam dem noch von Jimmy Carter ernannten Zentralbankchef Paul Volcker zu. Dieser wartete die Wahl Reagans im Jahr 1980 ab, um den Leitzins auf über 20 Prozent zu erhöhen (die höchsten Zinssätze seit der Geburt Jesu Christi, kommentierte Helmut Schmidt). Die unmittelbaren Folgen waren dramatisch: eine Rezession, steigende Arbeitslosigkeit und eine im internationalen Vergleich geschwächte Industrie.11 Reagan nutzte diese Schwächung der Arbeiterklasse, um die monetäre Austeritätspolitik Volckers durch eine industriepolitische zu ergänzen. Das stärkste Beispiel hierfür war die Entlassung von 11 000 streikenden Fluglotsen. Amerikanische Löhne wurden so von Produktivitätssteigerungen entkoppelt – und sind es bis heute.
Eine indirekte Folge dieser kleinen Revolution war eine radikale Neuordnung der internationalen politischen Ökonomie. Die hohen Zinssätze machten eine Anlage in den USA deutlich attraktiver. Das starke Leistungsbilanzdefizit, das auch Donald Trump noch schlaflose Nächte bereitet, nimmt hier seinen Anfang. Die gesteigerte Verfügbarkeit von Kapital ermöglichte es den USA, die massiven Haushaltsdefizite zu finanzieren, die Reagans Steuersenkungen und Aufrüstungspolitik mit sich brachten. Die Umkehr der Kapitalflüsse war nicht geplant, und die Experten hinter Reagan waren selbst überrascht, dass die monetäre und industriepolitische Austerität sich so gut mit immensen Mehrausgaben für Aufrüstung in Einklang bringen ließ.12 Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs hatte die Sowjetunion nicht so viel Glück. Die finanzielle Bedrängnis, in die sie im Laufe der siebziger Jahre geraten war, wurde 1985/86 noch verschärft, als ein Fall des Ölpreises sie dazu zwang, sich in Fremdwährung zu verschulden.
Bartel grenzt sich bewusst von historiografischen Narrativen ab, die das Ende des Kalten Kriegs vor allem als Geschichte der persönlichen Beziehung zwischen Reagan und Gorbatschow erzählen. Für ihn ist Geopolitik eine Folge materieller Bedingungen. Der Betonung diplomatischer Glanzleistungen stellt er die Beschreibung des ökonomischen Gleichgewichts der beiden Supermächte entgegen. Die Sowjetunion konnte es sich schlicht nicht leisten, beim Aufrüsten mitzuhalten. Die Abrüstungsverhandlungen waren für Gorbatschow eine willkommene Möglichkeit, Ressourcen von der Waffenindustrie abzuzweigen, um die Senkung des Lebensstandards innerhalb der Sowjetunion unbedingt zu vermeiden.
Auch die Breschnew-Doktrin, also das (militärische) Intervenieren in den Satellitenstaaten, fiel diesem Imperativ zum Opfer. »›Die UdSSR kann […] nicht mehr einspringen‹«, zitiert Bartel Gorbatschow im Jahr 1986. Eine weitere Ironie dieser Geschichte ist, dass sich die Sowjetunion sogar von Helmut Kohl dafür bezahlen lässt, die in der DDR stationierten Soldaten abzuziehen. Diese wären nach einer frühen Währungsreform in D-Mark zu bezahlen und somit unmöglich zu finanzieren gewesen.
Auch in der DDR fand während der siebziger Jahre eine Verschuldung bei kapitalistischen Banken statt. Immer mehr zog sich die Sowjetunion aus den oben beschriebenen Gründen von ihrer Rolle als Energielieferant und militärischer Schutzpatron zurück. Eindrücklich beschreibt Bartel, wie jedes Mal, wenn ein Vertreter der DDR nach Moskau reiste und ohne die erhofften Energie- oder monetären Subventionen zurückkam, die Frustration stieg. Die Besonderheit besteht hier darin, dass mit der Bundesrepublik ein finanzstarker Geldgeber zur Seite stand, der im Gegensatz zum IWF, mit dem Polen und Ungarn Vorlieb nehmen mussten, zunächst keine ökonomischen Bedingungen stellte, sondern nur auf offenere Grenzen pochte. Dieser Option wandte sich die DDR nach und nach zu.
Liberalisierung also als letzter Ausweg eines in die Ecke gedrängten Regimes. Warum etwa wurde die aufkeimende Bürgerrechtsbewegung nicht brutal niedergeschlagen? Die späte DDR konnte ohne die Devisen, die ihr die Bundesrepublik lieferte, nicht leben. Ebenso war sie immer noch auf Kredite von westlichen Banken angewiesen. Beide hätten im Falle von Gewalt den Geldhahn zugedreht. Am Ende waren die Beteiligten selbst überrascht, wie schnell es ging. Kohl soll noch 1989 zu einem Berater gesagt haben: »Wir waren uns einig: Selbst wenn die Einheit erst am Ende dieses Jahrhunderts erreicht sein sollte, wäre das ein Glücksfall der Geschichte.« Nur elf Monate später kam die Wiedervereinigung. Eine letzte Besonderheit und ein von Bartel angeführtes bemerkenswertes Detail ist die Tatsache, dass die Bedrängnis, in der die DDR zu stecken dachte, viel schwächer war als gedacht. Als die Bundesbank in den 1990er Jahren die Bilanzen der späten DDR nachrechnet, stößt sie auf Fehler: Die DDR-Elite hatte geglaubt, mit 20,6 Milliarden US-Dollar verschuldet zu sein, tatsächlich waren es nur 10,8 Milliarden.
Austerität heute
Während beide Bücher mit einer ähnlichen Vorstellung davon operieren, was Austerität ist, gehen sie in der Frage, was Austerität soll, auseinander, zumindest auf den ersten Blick. Implizit scheint sich Bartel mit seinen Akteuren einig zu sein, dass Austerität keine Klassenpolitik ist, sondern ein Mittel, das Außenhandelsdefizit auszugleichen. Weniger Importe bedeuten mehr Mittel zum Abbezahlen von Schulden. Die Bevölkerung ist das Opfer dieser Konsolidierungen. Für Mattei hingegen ist dieselbe Bevölkerung der Gegner, der das System infrage stellt und unterdrückt werden soll.
Was sagen uns diese historischen Perspektiven über die Gegenwart? Bei Bartel liegt eine Übertragung recht nahe: Krisen und Transformationen (im historischen Beispiel der Ölpreisschock) ziehen nach sich, dass Teilen der Bevölkerung Einschnitte zugemutet werden müssen. Die Ampel-Koalition, die immerhin den Versuch einer Dekarbonisierung unternommen hat, kann ein Lied davon singen, wie es ist, vermeintliche Verlierer einer Transformation und ihre medialen Fürsprecher gegen sich zu haben. Dass sie unter demokratischen Bedingungen umgesetzt werden sollte, hat der grünen Transformation – oder was von ihr übrig ist – bislang wenig geholfen. Eine grüne Margaret Thatcher, die die Bevölkerung von der Notwendigkeit einer radikalen Neuordnung der Wirtschaft überzeugen könnte, steht nach wie vor aus.
Mattei dagegen lässt sich schwerer ins Heute übertragen, auch wenn sie ihr Buch ausdrücklich als Ressource in politischen Kämpfen verstanden wissen will. So liegt es fern, Austerität heute als Waffe gegen sozialistische Bewegungen zu verstehen. Erstens scheinen diese schlicht zu marginal, um eine Bedrohung des kapitalistischen Mainstream darzustellen. Zweitens kann man zynisch konstatieren, dass Sparpolitik gar nicht die effektivste Waffe ist, um den Kapitalismus gegen links zu verteidigen. Dass linke Protestbewegungen der 2010er Jahre im Sande verlaufen sind, führt eine politikwissenschaftliche Studie etwa darauf zurück, dass Zentralbanken gezielt die Geldpolitik gelockert haben, also das Gegenteil von Austerität.13 In dieser Logik ist es erfolgversprechender, Bürger durch Kompensation zu demobilisieren, statt ihre Wut mit Austerität noch anzustacheln. Manche Bewegungen wie Occupy Wall Street sind überhaupt erst aus Anti-Austeritäts-Protesten hervorgegangen. Selbst wenn man Mattei nicht glaubt, dass Austerität üblicherweise eingesetzt wird, um progressive Politik zu unterbinden, so ist es allerdings häufig ihre Wirkung.
Nimmt man beide Bücher gemeinsam in den Blick, lassen sich drei weitere Erkenntnisse gewinnen. Erstens: Kapitalströme sind die Master-Variable einer globalen Ökonomie. Ohne das Vertrauen der Finanzmärkte wäre Mussolinis Regime schnell eingeknickt; und auch Reagans Aufrüstung-cum-Austeritäts-Experiment wäre gescheitert. Das Einzige, was Donald Trump bisher Einhalt gebieten konnte, war eine kleine Panik auf Märkten für amerikanische Staatsanleihen.14 Der globale Süden ist diesen Bewegungen noch schonungsloser ausgesetzt, da die Zentralbanken des Nordens maßgeblich über die Verfügbarkeit von Kapital entscheiden und somit auch darüber, wie viel in den Süden abfließt.15 Auf der sonnigen Seite des Vertrauens von Finanzmärkten kann sich Deutschland mehrmals 100 Milliarden Euro über einen kurzen Zeitraum leihen, ohne größere Finanzierungsprobleme.
Zweitens sind sich Mattei und Bartel einig, dass Austerität die Antwort auf eine Systemfrage ist, die sich infolge einer Krise stellt. Matteis Narrativ kann mitunter unbefriedigend oder erzwungen wirken,16 weil sie den Kampf um Austerität als eine direkte Auseinandersetzung zwischen dem System und seinen Gegnern darstellt, was nicht immer reibungslos zum empirischen Material passt. Doch Bartel zeigt uns, dass Austerität indirekt tatsächlich immer auch ein Kampf um das Überleben des Systems ist. Das des Westens hat überlebt, das des Ostens nicht.
Die Lektüre von Bartels Buch lässt progressive Leser zwar enttäuscht zurück, denn Austerität und das Aufkommen des Neoliberalismus zeigen sich als der einzige Weg, den demokratischen Kapitalismus zu erhalten.17 Doch gerade hier könnte es helfen, mit Mattei auch Alternativen außerhalb des Kapitalismus mitzudenken. Wie sie anhand der Genossenschaften und Gilden in Italien und Großbritannien zeigt, müssen diese Alternativen gar nicht mit einer Revolution beginnen, sondern können sich im Kleinen, Lokalen entwickeln.18
In einem letzten Punkt aber lassen sich die beiden Perspektiven nicht so leicht zusammenbringen, nämlich dem Verhältnis von Austerität und Gewalt. Bei Mattei sind diese zwei miteinander verstrickt, ein »unbesiegbares Duo«. Die Wirtschaftsordnung wird entweder direkt durch staatliche Gewalt erhalten oder indirekt, indem Staatsgewalt an unabhängige Zentralbanken ausgelagert wird. Bei Bartel ist die Verbindung historisch kontingent: In der DDR konnte Sparpolitik nicht durch Repression durchgedrückt werden, weil dadurch der Westen als Geldgeber abgesprungen wäre. Die Sowjetunion verzichtete zunächst auf Gewalt in den Satellitenstaaten und auf Aufrüstung, um der Bevölkerung keine Austerität zuzumuten. Doch schon kurz nach dem Zeitraum, dem sich Bartel in Gebrochene Versprechen widmet, gehörten Gewalt und Austerität in der Sowjetunion wieder zusammen. Als Boris Jelzin 1993 das Militär auf das russische Parlamentsgebäude schießen ließ, um die postkommunistische Schocktherapie umzusetzen, vor der sich Gorbatschow in den achtziger Jahren gefürchtet hatte, starben fast zwanzig Menschen.
So definieren etwa der orthodoxe Ökonom Alberto Alesina und Kollegen: »The term ›austerity‹ indicates a policy of sizeable reduction of government deficits and stabilization of government debt achieved by means of spending cuts or tax increases, or both.« Alberto Alesina /Carlo Favero /Francesco Giavazzi, Austerity. When It Works and When It Doesn’t. Princeton University Press 2019.
Claus Hulverscheidt, Klingbeil fordert Ministerkollegen zu striktem Sparkurs auf. In: Süddeutsche online vom 19. Mai 2025 (www.sueddeutsche.de/politik/bundeshaushalt-larsklingbeil-li.3255300).
Björn Bremer, Austerity from the Left. Social Democratic Parties in the Shadow of the Great Recession. Oxford University Press 2023.
Clara E. Mattei, Die Ordnung des Kapitals. Wie Ökonomen die Austerität erfanden und dem Faschismus den Weg bereiteten. Übersetzung von Thomas Zimmermann. Berlin: Brumaire 2025 (The Capital Order. How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism. University of Chicago Press 2022).
Fritz Bartel, Gebrochene Versprechen. Das Ende des Kalten Krieges und der Aufstieg des Neoliberalismus. Aus dem Englischen von Felix Kurz u. Utku Mogultay. Hamburger Edition 2025 (The Triumph of Broken Promises. The End of the Cold War and the Rise of Neoliberalism. Cambridge /Mass.: Harvard University Press 2022).
Um eine Währung an Gold zu koppeln, muss das Vertrauen in die Währung groß genug sein, dass es nicht zu massiven Goldforderungen kommt. Wenn dies passiert, kann eine Zentralbank versuchen, die Währung zu unterstützen, indem sie gegen Reserven die eigene Währung kauft und so den Kurs hebt. Dies ist aber nur so lange möglich, wie sie über Reserven verfügt. Der Goldstandard wirkt also wie ein externer Austeritätsdruck, weil Regierungen das Vertrauen in ihre Stabilität hochhalten müssen.
Die Angaben beziehen sich auf den Wert des Dollars im Jahr 2019.
Der Name hat nichts mit der europäischen Währung zu tun, sondern bezeichnet Kapitalmärkte, auf denen mit einer Währung gehandelt wird, aber außerhalb des für die Währung verantwortlichen Staates. In diesem Fall handelt es sich meist um Euro-Dollar-Märkte.
Dies ist die »economy-polity-distinction«, wie Max Krahé in seiner Besprechung von Bartels Buch erläutert. Max Krahé, No Alternative? In: Phenomenal World vom 25. März 2023 (www.phenomenalworld.org/reviews/broken-promises/).
Es gibt noch weitere Faktoren, die den Erfolg Thatchers erklären, etwa den für sie zu einem günstigen Zeitpunkt ausbrechenden Falklandkrieg, der die Briten in einer Welle von Nationalismus hinter ihrer Premierministerin vereinte. Auch taten die Gewerkschaften ihr Übriges, die Bevölkerung gegen sich aufzubringen, indem sie sogar Krankenhäuser bestreikten und wenig Mitleid für die nicht versorgten Patienten zeigten.
Vgl. Tim Barker, Das Blut der Anderen. Der Volcker-Schock und die Folgen. In: Merkur, Nr. 842, Juli 2019.
Für ein weiteres Beispiel für einen »inadvertent« Übergang zum Neoliberalismus vgl. Nicholas Mulder, The Neoliberal Transition in Intellectual and Economic History. In: Journal of the History of Ideas, Nr. 84/3, Juli 2023.
Federica Genovese u.a., The Eurotower Strikes Back: Crises, Adjustments and Europe’s Austerity Protests. In: Comparative Political Studies, Nr. 49/7, 2016.
Winand von Petersdorff-Campen, Trump knickt vor den Anleihemärkten ein. In: FAZ online vom 10. April 2025.
Joseph Stiglitz, Debt is crushing the developing world. In: Financial Times vom 2. Juni 2025 (www.ft.com/content/29a0f7fa-1871-4012-a730-48717fc61ecb).
Eine ähnliche Kritik formuliert Quinn Slobodian in seiner Rezension Clara Mattei. »The Capital Order: How Economists Invented Austerity and Paved the Way to Fascism«. In: American Historical Review, Nr. 129/3, September 2024.
»There was no alternative«, konstatiert etwa Max Krahé.
Vgl. Aaron Benanav, Beyond Capitalism – I. In: New Left Review, Nr. 153, Mai /Juni 2025 (newleftreview.org/issues/ii153/articles/aaron-benanav-beyond-capitalism-1).