Zeitreise in die Multibürgergesellschaft: Tokyo von Olympia zu Olympia
von Florian CoulmasMal angenommen, Zeitreisen wären möglich. Stellen wir uns vor, die Tokyoter und Tokyoterinnen, die sich heute für den Erhalt des Artikels 9 der japanischen Verfassung einsetzen, der Japan in aller Deutlichkeit zum Pazifismus verpflichtet, dass eben diese Leute nur ein Menschenleben zurück in der Zeit reisten, um dafür zu sorgen, dass die japanische Regierung ihren Ehrgeiz, in der Welt etwas zu bedeuten, auf die Olympischen Spiele 1940 konzentrierte, statt China mit Krieg zu überziehen. Die Welt sähe heute ganz anders aus. Tatsächlich war es ja ein großer Fortschritt für Japans internationales Renommee, als Tokyo 1936 den Zuschlag für die Olympischen Spiele 1940 bekam. Zum ersten Mal in Asien, sollten die Spiele stattfinden mit Japan als Leitgans, der die übrigen Länder der Region folgen würden. Dann aber fielen die Spiele aus, die japanische Führung blies sie 1938 ab. Einen Moment lang sah es so aus, als würden sie nach Helsinki verlegt, doch letztlich gingen sie im Kriegsgetümmel unter.
Hätte sich der Zeitreisende oder Visionär von 1940 einen konbini (24-Stunden-Laden) vorstellen können? Hätte er oder sie sich vorstellen können, dass die Bevölkerung von Tokyo-Yokohama schon fünf Jahre später um drei Millionen Menschen geschrumpft sein würde, nur weil die Regierung das internationale Standing Japans statt auf dem Sportplatz auf dem Schlachtfeld zu verbessern suchte?
Und weiter, dass die Urbanisierung so rapide voranschreiten würde, dass sich die Bevölkerung im Großraum Tokyo bis zu den Olympischen Spielen 1964 wieder verdoppelt und zu denen von 2020 mehr als verdreifacht haben würde? Das lag durchaus jenseits der Vorstellungskraft selbst weitsichtiger Zeitreisender, ganz zu schweigen von gegenwartsfixierten Politikern, die es 1948 für geboten hielten, Abtreibungen zu legalisieren, um des den Staat in vieler Hinsicht überfordernden Nachkriegsbabybooms Herr zu werden. Noch viel weniger hätten sie sich vorstellen können, dass es 2020 in ihrem Land Geisterstädte geben würde, dass sich die wenigen verbliebenen Bürgerinnen und Bürger abgelegener Dörfer nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf die Straße trauen, weil sie fürchten müssen, einem Bären zu begegnen, und dass die Natur hier und dort begonnen hätte, sich zurückzuholen, was menschliche Besiedlung ihr einst genommen hatte.
Oder Schulen. In jedes Dorf gehört eine Schule, zumindest eine Grundschule. Das war immer so (»immer« bezeichnet die zwei Generationen, die die Erinnerung zurückreicht). Zu Beginn der 2010er Jahre sah sich das Erziehungsministerium jedoch gedrängt, das »Gemeinschaftsprojekt verlassene Schulen« auszurufen. »Verbindet Euch mit der Zukunft!« verkündet ein lächelnder Knirps auf der Homepage des Ministeriums, um der Sache ein freundliches Gesicht zu geben. Der Landbevölkerung ist dabei allerdings nicht recht zum Lachen zumute. Allein 2012 wurden im ganzen Land über sechshundert öffentliche Schulen geschlossen, was für die betroffenen Gemeinden nicht nur bedeutet, dass ihre Kinder einen längeren Schulweg haben, sondern auch, dass sie eine wichtige Plattform des gesellschaftlichen Lebens verlieren. Das Leben auf dem Dorf wird immer unattraktiver, und die Überalterung der ländlichen Regionen schreitet voran. In den sechziger Jahren lebten 63 Prozent der japanischen Bevölkerung in Städten. Inzwischen sind es 92 Prozent, und die wenigen Prozent, die noch auf dem Land leben, sind uralt.
Das rührt nicht nur daher, dass die Menschen immer länger leben, was ja zweifellos willkommen ist und von einem erfolgreichen Gesellschaftsmodell zeugt. Hinzukommt, dass das Landleben vielen keine Zukunftsperspektive mehr bietet und sie deshalb in die Stadt ziehen. Wer bei den ersten Olympischen Spielen auf den Gedanken gekommen wäre, das 100 Kilometer nordwestlich von Tokyo gelegene Dorf Nanmoku zu besuchen, hätte dort noch um die 10 000 Einwohner angetroffen. 2021 war die Dorfbevölkerung auf ein Fünftel zurückgegangen, während das Medianalter auf 65,5 Jahre angestiegen ist, fast zwanzig Jahre älter als das der Gesamtbevölkerung Japans.
Dadurch entsteht ein Teufelskreis, den zu durchbrechen immer schwieriger wird. Das Steueraufkommen einer Gemeinde mit einem Medianalter über 65 strebt gegen Null, wenn es nicht schon negativ ist. Unter den dadurch unvermeidlich werdenden Einschränkungen der öffentlichen Ausgaben leidet die Infrastruktur, was noch mehr Menschen dazu bewegt, vom Land in die Stadt zu ziehen, und so weiter. Seit Anfang der 2000er Jahre sind im Land ungefähr vierzig Eisenbahnlinien stillgelegt worden, und auf jährlich Hunderten von Kilometern wird der Busverkehr eingestellt.
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