Zielart auf 11 Uhr, zwischen Blättern versteckt
von Claudia KellerDas Nachtsichtgerät lassen wir zuhause, denn ich habe keine Lust auf Diskussionen mit den israelischen Grenzbeamten, denen ich plausibel machen müsste, dass wir nur an in der Dämmerung verborgenen Vögeln und nicht an Staatsgeheimnissen interessiert sind. Auf dieser Reise möchte ich mich auf die Vögel konzentrieren, für die dieses Gebiet die wichtigste Verbindung zwischen Afrika und Europa ist. Doch schon bald nach unserer Ankunft bestätigt sich, was ich geahnt habe: Die Karten der Vögel und die Karten der Politik überschneiden sich, und beide erzählen von Landverlust und Migration, von Resilienz und Widerstand.
Gleich nach der Landung, während wir am Flughafen auf das Mietauto warten, machen wir unsere erste Entdeckung. Wir sehen einen Jerichonektarvogel, dessen englischer Name für mich wie die Ver-heißung einer Postkarte klingt: Palestine sunbird. Es ist der vielleicht schönste Vogel, den ich je gesehen habe, und ich sehe ihn nur dank J. und S., meinen beiden Reisebegleitern, die mich auf ihn aufmerksam machen. Sein in Blau, Türkis, Violett changierendes Glänzen übertrifft die bunte Leuchtreklame hinter ihm, aber das eine ist ohne das andere nicht zu haben: Wir haben Flugtickets gekauft, ein Auto gemietet, Hotelübernachtungen gebucht, die es uns ermöglichen, seltene Naturerfahrungen zu machen. So werden die Vögel, die zu sehen wir uns schon lange wünschen, nun real, »fast wie ein Einhorn, das aus dem Wald herausspaziert«.
Die Namen dieser Vögel haben für mich den Klang einer fantastischen Welt: Smaragdspint, Hirtenmaina, Zistensänger, Tristramstar, Akaziengrasmücke. Meine Reisebegleiter hatten im Flugzeug nicht über Einhörner, sondern über »Zielarten« geredet, und entsprechend anders klingt ihre Wunschliste, die nicht nach Schönheit der Namen, sondern nach Seltenheit gegliedert ist: Graudrossling, Halsbandfrankolin, Sandlerche, Maskenwürger. Unsere Reise folgt unzähligen Punkten auf digitalen Plattformen, von denen jeder ein Beobachtungsgebiet darstellt und woraus sich eine Kartografie der Möglichkeiten ergibt – jeder Wassertümpel eine Chance.
Tatsächlich aber folgt unsere Reise auch den politischen Bruchlinien des Landes. Jericho, wo das erste beschriebene Exemplar, das sogenannte Typusexemplar, des schönsten Vogels herstammt und von Charles Lucien Jules Laurent Bonaparte, einem Neffen Napoleons, beschrieben wurde, können wir mit unserem israelischen Mietauto nicht besuchen – es liegt nach einer langen und wechselhaften kolonialen Besatzungsgeschichte seit 1994 in der »Area A«, den etwa 3 Prozent der West Bank, die ganz von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwaltet werden.
Von Tarnungen und Anpassungen
An der Strandpromenade von Tel Aviv liegt J. mit seinem Fotoapparat auf der wie Kunstrasen aussehenden hellgrünen Wiese und fotografiert die Halsbandsittiche. Wir lachen darüber, dass das Militärgrün seiner Tarnkleidung heraussticht, während das leuchtende Neongrün der Vögel sich als die perfekte Anpassung an diese Wiese erweist. Die Sittiche, die ursprünglich in der Sahelzone und Indien vorkommen, sind an dieser Strandpromenade heimisch geworden als sogenannte Gefangenschaftsflüchtlinge. Dies bedeutet, dass es einigen in Käfigen gehaltenen Vögeln gelungen ist, in die Freiheit zu entfliehen und zu überleben.
Da sie sich schon seit mehr als drei Generationen fortpflanzen, gelten Halsbandsittiche als Neozoen – und da sie dies nicht nur hier, sondern auch in verschiedenen europäischen Ländern sehr erfolgreich tun, werden sie inzwischen in Deutschland als »potenziell invasiv« eingestuft. Ich beobachte, wie ein Sittich gekonnt ein hartes Stück Brot mit seinem Fuß zum Schnabel führt, bis er von zwei anderen angegriffen wird. Solche Anpassungen und Tarnungen sind für die Tiere überlebenswichtig. Immerhin sind seit dem Jahr 1492 – Kolumbus ist der Beginn dieser Zeitrechnung – mindestens 159 Vogelarten ausgestorben. Prognosen besagen, dass am Ende des 21. Jahrhunderts jedes Jahr mindestens zehn weitere Vogelarten aussterben werden, zusammen mit unzähligen anderen Arten.
Nicht als invasive Art, sondern als Kulturfolger oder Hemerophile (was auf Deutsch so viel heißt wie »kultivierte Freunde«) werden hingegen die Mauersegler bezeichnet, die in unserem Hotel nisten. Ihr Sirren erfüllt den Himmel, und wir sehen, wie sie einander hinterherfliegen und Kunststücke im Flug machen. Umgekehrt staunen wir ein paar Tage später im En-Awdat-Canyon, der sich wie eine schmale grüne Linie durch die Negev-Wüste schlängelt, über die Spatzen, die zwischen den Felswänden umherfliegen, als handle es sich um die Zürcher Bahnhofstraße. Ich konnte mir Spatzen bislang gar nicht außerhalb von Städten vorstellen – nun aber leuchtet es mir ein, dass die Bahnhofstraße ja auch nur eine Schlucht ist, so wie unser Hotelgebäude eine senkrechte Wand mit Höhlen. Wie wir suchen sie, wie es scheint, einfach nach Unterschlupf, Nahrung, Rausch und Spiel.