Ziviler Ungehorsam Von Martin Luther King zur »Letzten Generation«?
von Andreas BrauneSeit geraumer Zeit halten die Aktionen der »Letzten Generation« die deutsche Öffentlichkeit in Atem, ja, im Grunde bereits seit dem Wahlkampf zur Bundestagswahl 2021, als einige Initiatoren in den Hungerstreik traten und damit versuchten, Gespräche mit den Spitzenkandidaten der wesentlichen Parteien zum Thema Klimaschutz zu erzwingen. Seitdem hat sich das Repertoire an Aktionsformen erweitert: allen voran die Sitzblockaden auf zentralen Straßen und die Interventionen in Kunstmuseen oder anderen Kultureinrichtungen oder auch am Hauptstadtflughafen BER.
Einmal mehr erscheint damit das Phänomen des »zivilen Ungehorsams« auf der politischen Bühne, und mit ihm nicht nur klangvolle Namen wie Thoreau, Gandhi und King, sondern auch altbekannte Muster des Umgangs mit dieser Protestform. Das betrifft vor allem auch die Kritik an den Aktivistinnen. Eine lautstarke und aktivistische Minderheit klinke sich aus dem regulären demokratischen Prozess aus, indem sie sich über Recht und Gesetz stelle. Mit Hilfe illegaler Aktionen versuche sie, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen, und geriere sich als moralisch überlegene Instanz. Um dessen Herr zu werden, bedürfe es der »harten Hand« des Rechtsstaats, im Zweifelsfall auch einer Verschärfung der zu verhängenden Strafen. Seit es das Phänomen des zivilen Ungehorsams in modernen Demokratien gibt, ist dies eine immer wiederkehrende Reaktion, für die Jürgen Habermas schon im Heißen Herbst 1983 die schöne Bezeichnung eines »autoritären Legalismus« gefunden hat. Es ist die typische Law-and-Order-Reaktion, die die Aktivistinnen als Unruhestifter bezeichnet und mit Kriminellen auf eine Stufe stellt.
Dabei trifft die Bezeichnung »Unruhestifter« im Kern genau das, worum es den Protestierenden geht, nämlich: Unruhe zu stiften. In seinem berühmten Letter from Birmingham City Jail wandte sich Martin Luther King Jr. 1963 an eine Reihe weißer Geistlicher, die seine Ziele zwar unterstützten, seine Methoden aber kritisierten. King und seine Mitstreiter hätten doch lieber den Verhandlungsweg wählen sollen. Kings Antwort: »Sie haben ganz recht damit, auf den Verhandlungsweg hinzuweisen. Gerade das ist ja der Zweck der gewaltlosen direct action: Sie will eine Krise herbeiführen, eine schöpferische Spannung erzeugen, um damit eine Stadt, die sich bisher hartnäckig gegen Verhandlungen gesträubt hat, zu zwingen, sich mit den Problemen auseinanderzusetzen. Sie will diese Probleme so dramatisieren, daß man nicht mehr an ihnen vorbei kann.« Genau dieses Ziel verfolgten im Bereich der Klimapolitik bereits die Protestierenden von »Fridays for Future«, die »Letzte Generation« hebt diese Dramatisierung nun auf die nächste Eskalationsstufe.
Doch bedeutet diese Eskalationsstufe eine Grenzüberschreitung, die der demokratische Rechtsstaat nicht mehr dulden muss oder sogar darf? Um dies sinnvoll diskutieren zu können, lohnt sich der Blick auf einen namhaften Zeitgenossen Martin Luther Kings: auf John Rawls und sein Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit. Selbst vielen Kennern ist nicht bekannt, dass sich in diesem bis heute vieldiskutierten Buch auch die wohl überzeugendste Theorie des zivilen Ungehorsams im demokratischen Rechtsstaat findet. Mit Blick auf das Erscheinungsjahr 1971 ist das wenig überraschend, entstand es doch während der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die den zivilen Ungehorsam mit ihren Blockaden, Sit-Ins, Bus-Boykotten und Freedom Rides sehr effektiv als innenpolitisches Instrument in einer Demokratie verwendete. Auch die Studentenbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg bilden den Hintergrund für Rawls’ Überlegungen.
John Rawls ist ein Schlüsseldenker des politischen Liberalismus. Er steht also nicht gerade im Verdacht, ein sonderlich radikaler Denker zu sein. Die plurale, konstitutionelle Demokratie, die er umreißt, zeichnet sich durch einen sehr starken Egalitarismus in Grundrechtsfragen, aber auch eine erkennbar soziale und umverteilende Komponente aus. Auch wenn er nicht für das Deutschland des Jahres 2022 schrieb: Was wir heute hier vorfinden, dürfte recht weitgehend seinen Vorstellungen einer »annähernd gerechten Gesellschaft« entsprechen. Und umso wichtiger: Selbst dort hat für ihn ziviler Ungehorsam seinen Platz.
Das hat im Wesentlichen zwei Gründe. Erstens: Verfassungen und Institutionen können sich zwar einer gewissen Verfahrensgerechtigkeit annähern. Das bedeutet unter anderem, dass die verfassungsmäßigen Regelungen des Mehrheitsentscheids gerecht organisiert sind, beispielsweise, dass das Prinzip »one person, one vote« möglichst gut umgesetzt ist. Doch selbst vollkommene Verfahrensgerechtigkeit könnte nicht garantieren, dass die Ergebnisse eines Mehrheitsentscheids immer gerecht oder klug ausfallen. »Mehrheiten werden Fehler machen, wenn nicht aus Mangel an Informationen und Urteilskraft, dann wegen parteiischer und eigennütziger Auffassungen.« Selbst in annähernd gerechten Gesellschaften kann es daher zu gravierenden Ungerechtigkeiten oder einer törichten, vielleicht sogar einer zerstörerischen und verhängnisvollen Politik kommen.
Das führt zweitens zu der Frage, ob Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie unter allen Umständen dazu verpflichtet sind, ungerechte Gesetze zu befolgen oder eine törichte Politik zu dulden, selbst wenn diese auf verfassungsmäßigem Weg zustande gekommen sind. Das verneint Rawls. Zwar gebe es eine grundsätzliche Pflicht zum Gehorsam, selbst gegenüber ungerechten Gesetzen und Politiken, die sich im Regelfall ja auf dem Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit oder durch die reguläre Willensbildung und Gesetzgebung ändern lassen. Doch können die Ungerechtigkeit und die Torheit einen Grad erreichen, der einzelne Bürgerinnen und Bürger in einen Pflichtenkonflikt geraten lässt: »An welchem Punkt ist die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungs-Mehrheit beschlossenen Gesetzen […] zu fügen, angesichts des Rechtes zur Verteidigung seiner Freiheiten und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht mehr bindend? Diese Frage rührt an den Sinn und die Grenzen der Mehrheitsregel. Daher ist das Problem des zivilen Ungehorsams ein Prüfstein für jede Theorie der moralischen Grundlage der Demokratie.«