Heft 878, Juli 2022

Zur politischen Figur des Parasiten

von Mathias Lindenau

Der Parasit ist kein Sympathieträger. Er gilt als abstoßendes Lebewesen, das nicht auf symbiotische Beziehungen zu seiner Lebensumwelt setzt, sondern seinen Wirt einseitig schädigt; in manchen Fällen bis hin zu dessen physischem Tod. Tatsächlich gehen die meisten Parasiten geschickter vor und vermeiden es, mit ihrem Wirt zugleich die eigene Lebensgrundlage zu vernichten. Cymothoa exigena, die große Assel, frisst zwar die Zunge ihres Wirtsfisches von innen heraus auf, um sich an deren Stelle in dessen Mund festzusetzen und auf diese Weise ohne weitere Anstrengungen an dessen Nahrungsaufnahme teilzuhaben, tötet ihn dabei aber nicht. Damit ist das entscheidende Merkmal der Begriffsbestimmung benannt, die nicht nur die biologische Bedeutung, sondern auch die übertragene Verwendung des Begriffs im Alltag prägt: Der Parasit lebt auf Kosten anderer.

In gesellschaftspolitischen Diskursen wird der Begriff besonders häufig dann bemüht, wenn das Zugangsrecht zu den sozialen Sicherungssystemen der Gesellschaft ausgehandelt wird. Wobei in aller Regel eine wichtige Differenzierung erfolgt: Einer Person, die gerechtfertigte Gründe zur Unterstützung durch die Solidargemeinschaft geltend machen kann, wird in der Regel niemand parasitäres Verhalten unterstellen, solange der Bezug der Leistungen lediglich vorübergehend erfolgt. Erst wenn diese Person erkennbar keine Anstrengungen unternimmt, ihre Situation zu ändern, obwohl sie dazu in der Lage wäre, ist sie vor der Zuschreibung parasitären Verhaltens nicht mehr geschützt. Indem man ihr parasitäres Verhalten unterstellt, missbilligt man ihr gegenwärtiges Verhalten, adressiert sie dabei allerdings nicht als ganze Person.

Bei der Zuschreibung als Parasit verhält sich das anders. Das Adjektiv »parasitär« und das Substantiv »Parasit« besitzen also offenbar einen anderen Stellenwert: Parasitäres Verhalten kann man annehmen, man kann es aber auch wieder ablegen. Mit dem Substantiv ist hingegen eine Wesensbestimmung verbunden. Eine Person, die zum Parasiten erklärt wurde, hat es deshalb keineswegs selbst in der Hand, ob und wann diese Bewertung wieder aufgehoben wird – selbst wenn sie ihr Verhalten ändert. Sie kann sogar ohne Berücksichtigung ihres individuellen Verhaltens qua Gruppenzugehörigkeit in Sippenhaft genommen werden.

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