Heft 869, Oktober 2021

Zur Singularität des Holocaust

Eine Antwort auf Sebastian Conrad von Martin Schulze Wessel

Eine Antwort auf Sebastian Conrad

Koloniale Gewalt und Rassismus sind lange verdrängt worden, weltweit und speziell in Deutschland. Das Postulat, die Geschichte der Kolonialverbrechen aufzuarbeiten, ist unabweislich. Aber weshalb soll das Paradigma des Kolonialismus mit dem des Holocaust verbunden werden? Ein wirkungsvoller Anstoß zu einer Diskussion über den fraglichen Zusammenhang ging 2009 von dem Buch Multidirectional Memory des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg aus, hierzulande wurde die öffentliche Debatte jüngst durch den polemischen Essay Der Katechismus der Deutschen des australischen Genozid-Forschers Dirk Moses angefacht.1 Das Holocaust-Gedenken, für Moses eine Ausprägung »deutscher Staatsräson«, macht er dafür verantwortlich, dass andere Massenverbrechen, speziell koloniale Gewalt, in Deutschland marginalisiert wurden. Im Hintergrund sieht er amerikanische und israelische »Eliten« am Werk.

Von einer derart klischeehaften, verschwörungstheoretisch anmutenden Rede ist der Text, den der Berliner Globalhistoriker Sebastian Conrad zum selben Thema veröffentlich hat, weit entfernt.2 Aber auch er stellt die Holocaust-Erinnerung in Deutschland als ein Hemmnis für die Erinnerung der Kolonialverbrechen dar. Am Ende heißt es in seinem Essay zwar im Hinblick auf die Verbrechen des Holocaust und die Verbrechen des Kolonialismus: »Ein vergleichender Opferwettstreit steht nicht auf der Tagesordnung« – als ob Historiker den Erinnerungsdiskurs vorhersehen oder gar bestimmen könnten. Er stellt aber, darin Dirk Moses ähnlich, den Holocaust und die Verbrechen des Kolonialismus nicht als jeweils spezifische Formen von Unrecht dar, sondern rückt beides zusammen. Im Kern wendet sich der Essay gegen das Verständnis des Holocaust als singuläres Menschheitsverbrechen.

Symptomatisch für die Intention des Autors ist eine Frage, die er am Anfang seines Essays aufwirft, um die »Tagesordnung« der Öffentlichkeit zu beschreiben: »Sollte die deutsche Gesellschaft auf der Einzigartigkeit des Holocaust bestehen, oder gibt es eine Verantwortung für die Opfer des Kolonialismus?« Das suggeriert, dass wir es hier mit einer Entweder-oder-Entscheidung zu tun hätten. Doch weshalb sollte es der Aufarbeitung der Kolonialverbrechen hinderlich sein, wenn man aus guten Gründen den Holocaust für ein einzigartiges Menschheitsverbrechen hält? Für Conrads Essay ist es kennzeichnend, dass er sich auf eine geschichtswissenschaftliche Diskussion der Singularitätsthese gar nicht einlässt. Er diskutiert diese nur als Narrativ, gesteht zu, dass sie gegen erhebliche Widerstände in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren etabliert worden ist und hält sie in der globalisierten Gegenwart für obsolet.

Gegen Conrads narratologische Betrachtung muss man geschichtswissenschaftlich auf einer anderen Perspektive bestehen: Wird das Verbrechen, das wir mit dem Namen »Holocaust« bezeichnen, präziser beschrieben, wenn wir es mit dem Paradigma der kolonialen Verbrechen verbinden, oder trägt dies eher zur Verunklarung bei?3 Zwar gibt es zwischen kolonialer Gewalt und dem Holocaust überlappende Aspekte, so kann man zum Beispiel argumentieren, dass die Ermordung der Juden in der Sowjetunion auch den Zweck hatte, Siedlungsraum für Deutsche zu schaffen. Doch ist der Holocaust allein im Hinblick auf die furchtbare Rationalität, die kolonialer Gewalt eignet, nicht zu begreifen. Saul Friedländer hat in einem Zeitungsaufsatz auf das aufschlussreiche Beispiel der kleinen jüdischen Fischergemeinden auf den griechischen Inseln Rhodos und Kos hingewiesen.4 Deren Bewohner wurden im Juli 1944, als die Rote Armee vor Warschau stand und die westlichen Alliierten bereits in der Normandie gelandet waren, mit einem Boot nach Athen verschifft und von dort mit dem Zug nach Auschwitz transportiert und vergast.

Wie die Geschichte der Juden von Rhodos und Kos exemplarisch zeigt, ist der Holocaust mit den Paradigmen des Kolonialismus und Rassismus nicht annähernd angemessen zu beschreiben, denn es stellte im Sinne von geostrategischer Herrschaft, kolonialer Ausbeutung und Unterdrückung kein irgendwie zweckmäßig erscheinendes Ziel dar, die kleinen jüdischen Fischergemeinden zu vernichten. Juden waren aus der Sicht der Nationalsozialisten nicht eine andere Rasse, sondern die »Gegenrasse«, die nur auf Kosten und zum Schaden der »natürlichen« Völker existieren konnte. Das von dem auf Herrschaft, Ausbeutung und Unterdrückung zielenden Rassismus zu unterscheidende Konzept des Antisemitismus ist nur in der epochenübergreifenden Kontinuität von Judenhass, das heißt in der engen Verflechtung mit der vormodernen Geschichte des Antijudaismus zu begreifen. Judenfeindschaft unterlag dem Wandel, gerade im Übergang in die Moderne, doch war, wie Philipp Lenhard in einem sehr lesenswerten Aufsatz betont, der Antijudaismus nie nur religiös motiviert, der Antisemitismus nie nur rassistisch.5 Der Holocaust ist zwar nicht einfach aus der langen Geschichte des Antisemitismus herzuleiten. Aber der gnostisch geprägte »Erlösungsantisemitismus« (Saul Friedländer), der Massenmord im Zeichen einer perversen Heilserwartung, unterscheidet den Holocaust grundlegend von Formen kolonialer Gewalt.

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