Merkur, Nr. 47, Januar 1952

Die Einheit der Welt

von Carl Schmitt

I

Die Einheit der Welt, von der ich hier spreche, ist nicht die allgemeine biologische Einheit des Menschengeschlechts, auch nicht die Art Ökumene, die sich von selbst versteht und die trotz aller Gegensätze unter den Menschen in irgendeiner Form zu allen Zeiten irgendwie vorhanden war. Es ist auch nicht die Einheit des Weltverkehrs, des Welthandels, des Weltpostvereins oder ähnliches, sondern etwas Schwierigeres und Härteres. Es handelt sich um die Einheit der Organisation menschlicher Macht, die die ganze Erde und die ganze Menschheit planen, lenken und beherrschen soll. Es handelt sich um das große Problem, ob die Erde heute schon reif ist für ein einziges Zentrum politischer Macht.

Die Eins und die Einheit sind ein schwieriges Problem bis in die Mathematik hinein. In der Theologie, der Philosophie, der Moral und der Politik wächst dieses Problem der Einheit zu ungeheuerlichen Proportionen auf. Es ist nicht sinnlos, an die vielen schwierigen Seiten des Problems der Einheit zu erinnern, angesichts der Oberflächlichkeit der Schlagworte, die heute üblich sind. Alle Fragen, selbst die der reinen Physik, verwandeln sich heute unerwartet schnell in grundsätzliche Probleme. In Fragen der menschlichen Ordnung aber tritt uns die Einheit oft als ein absoluter Wert entgegen. Wir stellen uns die Einheit als Einmütigkeit und Einstimmigkeit vor, als Frieden und gute Ordnung. Wir denken an das Evangelium von dem Einen Hirten und dem Einen Schafstall und sprechen von der Una Sancta. Dürfen wir infolgedessen abstrakt und allgemein behaupten, daß die Einheit besser ist als die Vielheit?

Auf keinen Fall. Die Einheit, abstrakt gesprochen, kann ebensosehr eine Steigerung des Bösen wie des Guten sein. Nicht jeder Hirt ist ein guter Hirt und nicht jede Einheit eine Una Sancla. Nicht jede gut funktionierende, zentralistische Organisation entspricht schon als bloße Einheit dem Vorbild menschlicher Ordnung. Auch das Reich Satans ist eine Einheit, und Christus selbst ging von diesem einheitlichen Reich des Bösen aus, als er vom Teufel und Beelzebub sprach. Auch der Versuch eines Turmbaues von Babel war der Versuch einer Einheit. Angesichts mancher modernen Formen organisierter Einheit dürfen wir sogar sagen, daß die babylonische Verwirrung besser sein kann, als eine babylonische Einheit.

Der Wunsch nach einer gut funktionierenden globalen Einheit der Welt entspricht dem heute herrschenden, technisch industriellen Weltbild. Die technische Entwicklung führt unwiderstehlich zu neuen Organisationen und Zentralisationen. Wenn wirklich die Technik und nicht die Politik das Schicksal der Menschheit ist, dann kann man das Problem der Einheit als gelöst betrachten.

Seit über hundert Jahren haben alle guten Beobachter bemerkt, daß die moderne Technik von sich aus eine Einheit der Welt bewirkt. Schon 1848, im ersten europäischen Bürgerkrieg, stand das fest. Die marxistische Doktrin lebt von dieser Erkenntnis. Doch handelt es sich hier nicht um eine spezifisch marxistische Beobachtung. Wir könnten hier auch Donoso Cortés zitieren, der unter dem Eindruck derselben Erfahrung stand. In seiner Rede vom 4. Januar 1849 beschreibt er die ungeheure Machtmaschine, die unwiderstehlich, ohne Rücksicht auf Gut und Böse, jeden Machthaber immer noch mächtiger macht. Donoso entwirft hier das Bild eines alles verschlingenden Leviathan, dem die moderne Technik tausend neue Hände, Augen und Ohren verschafft und gegen dessen durch die Technik vertausendfachte Macht jeder Versuch einer Kontrolle oder eines Gegengewichtes hilflos und absurd erscheint.

Die Denker und Beobachter von 1848 standen unter dem Eindruck der Eisenbahn, des Dampfschiffes und des Telegraphen. Sie hatten eine Technik vor Augen, die noch an Schienen und Drähte gebunden war, eine Technik, die heute jedem Kinde primitiv und kümmerlich erscheint. Was war die Technik von 1848 im Vergleich mit den Möglichkeiten des heutigen Flugzeuges, der elektrischen Wellen und der Atomenergie? Für die Denkweise eines Technikers ist die Erde im Vergleich zum Jahre 1848 ihrer Einheit heute um ebensoviel näher, wie Verkehrs- und Transportmittel heute schneller sind als damals, oder wie die Durchschlagskraft der Vernichtungsmittel heute diejenige von damals übersteigt. Infolgedessen ist die Erde in gleichem Maße kleiner geworden. Der Planet schrumpft ein, und für den Technokraten wäre die Herstellung der Einheit der Welt eine Kleinigkeit, der sich heute nur noch einige altmodische Reaktionäre widersetzen.

Für Millionen Menschen ist das heute absolut selbstverständlich. Es ist für sie aber nicht nur selbstverständlich, sondern gleichzeitig der Kern eines bestimmten Weltbildes und damit auch einer bestimmten Vorstellung von der Einheit der Welt, ein echter Glaube und ein echter Mythos. Dabei handelt es sich nicht nur um die Pseudo-Religion der großen Massen industrialisierter Länder. Auch herrschende Schichten, in deren Hand die Entscheidungen der Weltpolitik liegen, sind von diesem Bild einer technisch-industriellen Einheit der Welt beherrscht. Wir brauchen uns nur der wichtigen, im Jahre 1932 verkündeten Doktrin des damaligen Außenministers der Vereinigten Staaten von Amerika, Henry L. Stimson, zu erinnern. Stimson erläuterte den Sinn seiner Doktrin in einer Rede vom 11. Juni 1941. Seine Argumentation enthält ein echtes Glaubensbekenntnis. Er sagt, die Erde sei heute nicht größer als im Jahre 1861, bei Ausbruch des Sezessionskrieges, die Vereinigten Staaten von Amerika, die damals schon zu klein waren für den Gegensatz zwischen Nord- und Südstaaten. Die Erde, versicherte Stimson 1941, ist heute zu klein für zwei entgegengesetzte Systeme.

Verweilen wir einen Augenblick bei dieser wichtigen Erklärung des berühmten Urhebers der Stimson-Doktrin. Sie ist nicht nur von praktischer Bedeutung als Ausdruck der Überzeugung eines führenden Politikers der stärksten Weltmacht. Sie ist auch unter philosophischen und metaphysischen Gesichtspunkten überraschend. Natürlich will sie nicht philosophisch oder metaphysisch sein. Wahrscheinlich ist sie in einem rein positiv-pragmatischen Sinne gemeint. Aber gerade dadurch wird sie nur um so philosophischer. Ein hervorragender amerikanischer Politiker entscheidet sich, mit einer unfreiwilligen metaphysischen Wucht, für die politische Einheit der Welt, während noch bis vor kurzem ein philosophischer Pluralismus das eigentliche Weltbild Nordamerikas zu bestimmen schien. Denn der Pragmatismus, die Philosophie bis dahin typisch amerikanischer Denker wie William James, war bewußt pluralistisch. Er lehnte den Gedanken einer Einheit der Welt als unmodern ab und sah in der Vielheit möglicher Weltbilder, sogar in der Vielheit der Wahrheiten und der Loyalitäten die wahre moderne Philosophie. Im Laufe von dreißig Jahren, während einer einzigen menschlichen Generation, ist das reichste Land der Welt mit dem stärksten Kriegspotential der Erde vom Pluralismus zur Einheit übergegangen.

So scheint die Einheit der Welt die selbstverständlichste Sache der Welt zu sein.

 

II

Die politische Wirklichkeit bietet jedoch heute nicht das Bild einer Einheit, sondern das einer Zweiheit, und zwar einer beunruhigenden Zweiheit. Zwei riesige Partner stehen sich feindlich gegenüber und bilden den Gegensatz von Westen und Osten, von Kapitalismus und Kommunismus, widersprechenden Wirtschaftssystemen, widersprechenden Ideologien und völlig verschiedenen, heterogenen Typen herrschender Klassen und Gruppen. Ihre Feindschaft äußert sich in einer Mischung von kaltem und offenem Krieg, von Nerven- und Waffenkrieg, diplomatischem Noten-, Konferenz- und Propagandakrieg. Der Dualismus zweier Fronten tritt hier als klare Unterscheidung von Freund und Feind hervor.

Wenn die Einheit an sich etwas Gutes ist, so ist die Zweiheit an sich etwas Böses und Gefährliches. Binarius numerus infamis, sagt Thomas von Aquin. Die Zweiheit der heutigen Welt ist in der Tat in sich böse und gefährlich. Die Spannung wird von jedem als unerträglich empfunden, als ein in sich selbst unhaltbarer Übergangszustand. Die Unerträglichkeit einer solchen dualistischen Spannung drängt von innen heraus zu einer Entscheidung. Vielleicht dauert die Spannung trotzdem länger, als die meisten Menschen erwarten. Das Tempo der geschichtlichen Ereignisse hat ein anderes Maß als die Nerven der menschlichen Individuen, und die Weltpolitik nimmt wenig Rücksicht auf das Glücksbedürfnis der Einzelnen. Dennoch können wir uns der Frage nicht entziehen, wohin die Lösung der dualistischen Spannung geht.

Für die allgemeine Tendenz zur technisch-industriellen Einheit der Welt ist die heutige Zweiheit nur ein Übergang zur Einheit, die letzte Runde in dem großen Kampf um die Einheit der Welt. Das würde bedeuten, daß der Überlebende der heutigen Weltzweiheit morgen der einzige Herr der Welt ist. Der Sieger würde die Einheit der Welt verwirklichen, natürlich unter seinem Gesichtspunkt und nach seinen Ideen. Seine Eliten würden den Typus des neuen Menschen darstellen. Sie würden planen und organisieren, nach ihren politischen, wirtschaftlichen und moralischen Ideen und Zielen. Wer an eine heute bereits selbstverständliche, technisch-industrielle Einheit der Welt glaubt, sollte sich dieser Konsequenz bewußt bleiben und sich das Bild des Einen Herrn der Welt recht konkret vor Augen führen.

Aber die endgültige globale Einheit, die durch einen restlosen Sieg des einen Partners über den anderen eintreten würde, ist keineswegs die einzige denkbare Möglichkeit, um die Spannung der heutigen Zweiheit zu beenden. Die Fronten des heutigen Westens und des heutigen Ostens bilden ein Dilemma, in dem sich die ganze heutige Welt durchaus nicht erschöpft. Das Entweder-Oder der heutigen Zweiheit der Welt ist viel zu eng, als daß die ganze Menschheit darin aufgehen könnte. Beide feindliche Lager des heutigen Westens und des heutigen Ostens zusammengenommen sind noch lange nicht die ganze Menschheit. Wir zitierten eben den Ausspruch des amerikanischen Staatssekretärs Stimson vom Jahre 1941, wonach die ganze Erde heute nicht größer ist, als die Vereinigten Staaten von Amerika bei Ausbruch des Sezessionskrieges 1861. Auf diesen Ausspruch hat man schon vor Jahren erwidert, daß die ganze Erde immer größer sein wird als die Vereinigten Staaten von Amerika. Fügen wir hinzu, daß sie erst recht immer größer sein wird als der heutige kommunistische Osten und auch als beide zusammen. Die Erde mag noch so klein geworden sein, sie wird immer viel mehr darstellen, als die Summe der Gesichtspunkte und Horizonte, unter denen sich die Alternative des heutigen Weltdualismus stellt. Mit anderen Worten: Es gibt immer noch einen dritten Faktor, und wahrscheinlich nicht nur einen, sondern mehrere solcher dritten Faktoren.

 

 

Hier sollen nicht die vielen verschiedenen Möglichkeiten erörtert werden, die denkbar sind und praktisch in Betracht kommen. Das ergäbe eine politische Diskussion über Fragen, wie z. B. die Lage und die Bedeutung Chinas oder Indiens oder Europas, des Britischen Commonwealth, der Hispano-Lusitanischen Welt, des Arabischen Blocks und vielleicht noch anderer, unerwarteter Ansätze zu einer Pluralität von Großräumen. Sobald eine dritte Kraft erscheint, öffnet sich sehr schnell der Weg zu einer Mehrheit von dritten Kräften, und es bleibt nicht bei der einfachen Dreizahl. Denn hier zeigt sich die Dialektik aller menschlichen Macht, die niemals grenzenlos ist, sondern unfreiwillig die Kräfte fördert, die ihr eines Tages die Grenze setzen werden. Jeder der beiden Gegner des primitiven Weltdualismus hat ein Interesse daran, andere auf seine Seite zu ziehen, Schwächere zu schützen und gegen den andern zu fördern, womit er sie möglicherweise auch gegen sich selbst fördert. Auch hier liegt es im Wesen dieser mannigfachen Träger einer dritten Kraft, daß sie die Gegensätze der beiden großen Partner für sich ausnutzen und selber nicht überwältigend stark zu sein brauchen, um sich zu halten.

Ich spreche hier nicht von Neutralität oder Neutralismus. Es ist irreführend, das Problem der dritten Kraft mit dem der Neutralität oder des Neutralismus zu verwechseln, mögen sie sich noch so stark berühren und gelegentlich überschneiden. Die Möglichkeit einer dritten Kraft bedeutet zahlenmäßig nicht eine simple Dreiheit, sondern eine Vielheit, das Aufbrechen eines echten Pluralismus. Damit ist zugleich die Möglichkeit eines Gleichgewichts der Kräfte gegeben, eines Gleichgewichts mehrerer Großräume, die unter sich ein neues Völkerrecht schaffen, auf neuer Ebene und mit neuen Dimensionen, aber doch auch mit manchen Analogien zu dem europäischen Völkerrecht des 18. und 19. Jahrhunderts, das ebenfalls auf einem Gleichgewicht mehrerer Mächte beruhte und dadurch seine Struktur erhielt. Auch im Jus Publicum Europaeum gab es eine Einheit der Welt. Sie war europa-zentrisch, aber sie war nicht die zentrale Macht eines einzigen Herrn der Welt. Ihr Gefüge war pluralistisch und ermöglichte eine Koexistenz mehrerer politischer Größen, die sich gegenseitig nicht als Verbrecher, sondern als Träger autonomer Ordnungen betrachten konnten.

Die feindliche Zweiheit der Welt ist demnach einer Dreiheit und damit einer Vielheit ebenso nahe wie einer endgültigen Einheit. Die ungeraden Zahlen – Drei, Fünf usw. – haben hier den Vorzug, weil sie ein Gleichgewicht eher ermöglichen als die geraden Zahlen. Das bedeutet zugleich, daß sie den Frieden eher ermöglichen. Es ist durchaus denkbar, daß die heutige Zweiheit einer solchen Vielheit näher ist als einer endgültigen Einheit und daß die meisten Kombinationen der „one world“ sich als übereilt erweisen.

 

III

Die feindliche Spannung, die zur Zweiheit gehört, setzt dialektisch eine Gemeinsamkeit und damit wieder eine Einheit voraus. Der Eiserne Vorhang wäre sinnlos und keiner würde sich die Mühe geben, ihn zu organisieren, wenn er nur innerlich beziehungslose Räume voneinander trennen sollte. Die Deutung des Eisernen Vorhanges, die Rudolf Kaßner (Merkur, April 1951) gegeben hat, meint die Trennung von Existenz und Nicht-Existenz, von Existenz und Idee. Sie setzt jedoch voraus, daß auf der horizontalen, der politischen Ebene die Trennung sich innerhalb einer gemeinsamen Ideologie vollzieht. Die Gemeinsamkeit liegt im Welt- und Geschichtsbild beider Partner des Welt-Dualismus. Wie der Weltkampf zwischen Katholizismus und Protestantismus, zwischen Jesuitismus und Calvinismus im 16. und 17. Jahrhundert die Gemeinsamkeit des Christentums voraussetzte und erst diese Einheit die furchtbare Feindschaft hervorbrachte, ebenso liegt heute der Zweiheit die Einheit einer geschichtsphilosophischen Selbst-Interpretation zugrunde.

Unsere Diagnose der gegenwärtigen Weltlage wäre unvollständig, wenn sie die geschichtliche Selbst-Interpretation der Partner des Welt-Dualismus außer acht ließe. Nur dort ist die Einheit zu finden, die ihre Zweiheit dialektisch ermöglicht. Mehr als jede andere Größe ist die Selbst-Interpretation ein Element der heutigen Weltsituation. Angesichts des Problems der Einheit der Welt ist jeder geschichtlich handelnde Mensch gezwungen, sowohl eine Diagnose wie eine Prognose zu stellen, die nicht nur bloße Tatsachen betrifft. Auch der nüchternste politische Rechner interpretiert die statistischen Informationen, die er erhält, und zwar interpretiert er sie in einem geschichtsphilosophischen Sinne. Alle Menschen, die heute planen und große Massen hinter ihre Planungen zu bringen suchen, treiben in irgendeiner Form Geschichtsphilosophie. Das Problem der Einheit der Erde und das des heutigen Welt-Dualismus wird dadurch zu einem Problem geschichtsphilosophischer Weltdeutung.

Zu allen Zeiten haben sich die Menschen irgendwie durch religiöse, moralische oder wissenschaftliche Überzeugungen bestimmen lassen, die auch gewisse Vorstellungen vom Gang der Geschichte enthielten. Aber das Zeitalter der Planung ist in einem besonderen Sinne das der Geschichtsphilosophie. Wer heute plant, muß den Massen, die er hinter seine Planung zu bringen sucht, gleich eine handfeste Geschichtsphilosophie mitliefern. Insofern hat Geschichtsphilosophie heute einen überaus praktischen und effektiven Sinn. Sie ist nämlich ein unabdingbarer Bestandteil der Planung.

Das gilt ohne weiteres und offensichtlich mit Bezug auf den heutigen kommunistischen Osten. Der Osten hat ein festes Ziel, das auf die Einheit der Erde und ihre Unterwerfung unter den weltgeschichtlich legitimierten Herrn dieser Erde gerichtet ist. Sein Gedanke der Einheit beruht auf der Doktrin des dialektischen Materialismus, die in aller Form zu einem kollektivistischen Credo erhoben worden ist. Der dialektische Materialismus, das Kernstück des Marxismus, ist — in einer spezifischen und sogar ausschließlichen Weise – Philosophie der Geschichte. Er bewahrt die Struktur der Philosophie Hegels, d. h. des einzigen ausgebauten geschichtsphilosophischen Systems der bisherigen Weltgeschichte. Nun ist diese Hegelsche Philosophie scheinbar idealistisch; sie erblickt das Ziel der Menschheit in der Einheit des zu sich selbst zurückkehrenden Geistes und der absoluten Idee, nicht in der materiellen Einheit einer elektrifizierten Erde. Aber das methodische Kernstück, die dialektische Bewegung der Weltgeschichte, läßt sich auch in den Dienst einer materialistischen Weltauffassung stellen. Der Gegensatz von Materialismus und Idealismus wird unwesentlich, wenn alle Materie Strahlung und alle Strahlung Materie wird.

Alle die vielen Planungen des Ostens, angefangen von dem ersten berühmten Fünf-Jahres-Plan, der schon fast mythischen Piatiletka von 1928, haben ihre Überlegenheit über andere Planungen darin, daß sie in eine dialektische Bewegung hineinkonstruiert werden, die zur Einheit der Welt führen soll. Es handelt sich hier weder um Ontologie noch um Moral-Philosophie, sondern um die Behauptung des richtig erkannten, ganz konkreten Ablaufs der geschichtlichen Entwicklung, in der wir heute stehen. Der Marxismus – und mit ihm das ganze offizielle Credo des kommunistischen Ostens — ist in intensivstem Grade Geschichtsphilosophie. Darauf beruht seine faszinierende Wirkung, die auch den Gegner dieses Systems zwingt, sich auf seine eigene geschichtliche Situation und sein eigenes Geschichtsbild zu besinnen, wenn er mit diesem gefährlichen Feind in Kontakt gerät. Hier, im Osten, ist der Zusammenhang von Einheit der Welt und konkreter Geschichtsphilosophie mit Händen zu greifen.

Was hat der heutige, von den Vereinigten Staaten von Amerika geführte Westen dieser Geschichtsphilosophie entgegenzusetzen? Er hat jedenfalls kein derart geschlossenes, einheitliches Weltbild. Heute dürfte Arnold Toynbee, der bei der UNO aggregierte wissenschaftliche Berater, der bekannteste Geschichtsphilosoph des Westens sein. Seine Theorie ist natürlich kein offizielles Credo, aber seine Auffassung und vielleicht noch mehr seine Stimmung sind doch in hohem Maße symptomatisch für die weltgeschichtliche Selbst-Interpretation führender Schichten und Eliten des angelsächsischen Westens. Das ist auf jeden Fall beachtlich, angesichts der großen Bedeutung, die dem Geschichtsbild führender Gruppen zukommt.

Und was ist das geschichtliche Bild, das sich aus dem Werk des berühmten englischen Historikers ergibt? Wir brauchen hier den oftmals dargestellten Inhalt seines Werkes nicht zu wiederholen. Das Entscheidende ist, daß nach Toynbee eine Anzahl von Hochkulturen (Zivilisationen) der Menschheit entsteht, wächst, umbricht und vergeht und daß wir uns in unserer gegenwärtigen Zivilisation damit trösten dürfen, wieder christlich werden zu können und eigentlich doch noch viel Zeit vor uns zu haben, angesichts der riesigen Zeiträume, mit denen die Geschichte, wie Toynbee sie auffaßt, zu arbeiten pflegt. Das ist ein schwacher Trost, der nicht einmal ein spezifisch christliches Geschichtsbild gibt. Nimmt man dann noch hinzu, daß viele angelsächsische Gelehrte in der rapiden Bevölkerungszunahme der östlichen Welt die eigentliche Kriegsursache sehen und als Heilmittel nichts anderes als Geburtenkontrolle zu bieten haben, so erscheint die geschichtliche Selbst-Interpretation des Westens schwach und kraftlos. Denn schließlich wäre es doch schlimm, wenn hinter dem Dualismus der heutigen Welt nichts anderes stände als der Gegensatz von birth-control und animus procreandi, so daß jedes neugeborene Kind gleich als Aggressor zur Welt käme und in das System moderner Kriminalisierungen einbezogen würde.

Ich möchte keinen Verehrer Toynbees oder Julian Huxleys kränken, wenn ich das ausspreche. Auch kenne ich die Kritik und die Zweifel an der Ideologie des Fortschritts, die von führenden angelsächsischen Autoren geäußert worden sind. Aber das alles ändert nichts an dem ideologischen Gesamtbild eines Westens, dessen Kern, soweit er noch weltgeschichtliche Kraft hat, ebenfalls geschichtsphilosophisch ist, nämlich die Saint-Simonistische Geschichtsphilosophie des industriellen Fortschritts und der geplanten Menschheit, mit allen ihren zahlreichen Variationen und Popularisierungen von Auguste Comte und Herbert Spencer bis zu den vielleicht etwas skeptischer gewordenen Schriftstellern des heutigen Tages.

Die großen Massen des industrialisierten Westens und namentlich der Vereinigten Staaten von Amerika haben eine unendlich einfache und massive Geschichtsphilosophie. Sie führen den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts in einer groben Form weiter, ohne sich um die Finessen kultivierter Engländer zu kümmern. Diese Massen haben eine Religion der Technizität, und jeder technische Fortschritt erscheint ihnen zugleich als eine Vervollkommnung des Menschen selbst, als ein direkter Schritt zu dem irdischen Paradies der one world. Ihr evolutionistisches Credo konstruiert eine grade Linie des Aufstiegs der Menschheit. Der Mensch, biologisch und von Natur ein überaus schwaches und hilfsbedürftiges Wesen, schafft sich durch die Technik eine neue Welt, in der er das stärkste, ja sogar das alleinige Wesen ist. Die gefährliche Frage, bei welchen Menschen sich die ungeheuerliche Macht über andere Menschen konzentriert, die mit dieser Steigerung technischer Mittel notwendig verbunden ist, darf nicht gestellt werden.

Das ist unverändert der alte, aber durch die moderne Technik gesteigerte Glaube an den Fortschritt und die unendliche Perfektibilität. Er wurde in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts geboren. Damals, im 18. Jahrhundert, war er noch die philosophische Überzeugung einiger führender Gruppen und Eliten. Im 19. Jahrhundert wurde er das Credo des westlichen Positivismus und Scientismus. Seine ersten Propheten waren Saint-Simon und Auguste Comte, sein erfolgreichster Missionar für die angelsächsische Welt Herbert Spencer. Heute, im 20. Jahrhundert, hat sich bei der Intelligenz längst ein Zweifel eingenistet, der Zweifel, ob technischer, moralischer und sonstiger Fortschritt überhaupt noch eine Einheit bilden. Die Intelligenz ist von der lähmenden Erkenntnis erfaßt, daß die Menschen durch die neuen technischen Mittel zwar mächtiger, aber keineswegs moralisch besser geworden sind. Es ist die Erkenntnis einer Diskrepanz des technischen und moralischen Fortschritts. Goethe hat das sehr einfach in dem Satze ausgesprochen: Nichts zerstört den Menschen so wie eine Vermehrung seiner Macht, die nicht mit einer Vermehrung seiner Güte verbunden ist.

Aber die Massen fragen nicht nach solchen Zweifeln und empfinden die Aufsplitterung des Fortschrittsbegriffs wahrscheinlich nur als sophistische Zerredungen einer dekadenten Intelligenz. Sie bleiben bei ihrem Ideal einer technisierten Welt. Das ist dasselbe Ideal einer Einheit der Welt, das Lenin verkündet hat, als er von der Einheit der elektrifizierten Erde sprach. Östlicher und westlicher Glaube fließen hier zusammen. Beide behaupten die wahre Menschheit, die wahre Demokratie zu sein. Sie stammen ja auch beide aus derselben Quelle, aus der Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Einheit, die der Zweiheit zugrunde liegt, wird hier sichtbar.

Westen und Osten sind heute durch einen Eisernen Vorhang getrennt. Aber die Wellen und Korpuskeln einer gemeinsamen Geschichtsphilosophie dringen durch den Vorhang hindurch und bilden die unfaßbare Einheit, durch welche die heutige Weltzweiheit dialektisch erst ermöglicht wird. Die Feinde begegnen sich in einer Selbst-Deutung ihrer weltgeschichtlichen Lage.

 

IV

Folgt aus dieser unsichtbaren, den Eisernen Vorhang durchdringenden Gemeinsamkeit eines geschichtsphilosophischen Weltbildes, daß der heutige Dualismus der endgültigen Einheit der Welt näher ist als einer neuen Vielheit?

Wenn es für uns heute kein anderes Geschichtsbild gäbe als das philosophische Programm der letzten zwei Jahrhunderte, so wäre die Frage nach der Einheit der Welt in der Tat längst entschieden. Dann könnte auch die Zweiheit der heutigen Weltlage nichts anderes sein als der Übergang zur planetarischen Einheit der reinen Technizität. Das wäre die Einheit, die zwar den großen Massen als eine Art irdischen Paradieses einleuchtet, vor der aber heute selbst schon manchem angelsächsischen Intellektuellen schaudert, weil er die eben erwähnte Aufsplitterung des Fortschrittbegriffes und die Diskrepanz von technischem und moralischem Fortschritt erkennt oder wenigstens wittert. Jeder sieht, daß der moralische Fortschritt andere Wege geht als der technische Fortschritt, sowohl bei den Machthabern, die planen und sich dabei der modernen Wissenschaft bedienen, wie beiden Eliten und den Massen, die auf das große Erntefest der Planung hoffen. Die planetarische Einheit einer derartig organisierten Menschheit wurde schon vor über hundert Jahren als Alpdruck empfunden. Der Alpdruck hat sich inzwischen in gleichem Maße gesteigert, wie die technischen Mittel menschlicher Macht sich gesteigert haben. Um so schwerer wird die Frage, die wir eben gestellt haben und die wir wiederholen: Folgt aus der Einheit des geschichtsphilosophischen Weltbildes die bevorstehende politische Einheit der Welt? Folgt aus ihr, daß die gegenwärtige Zweiheit nur das letzte Stadium vor der Einheit ist?

Ich glaube es nicht, weil ich nicht an die Wahrheit dieses geschichtsphilosophischen Weltbildes glaube. Wenn wir feststellen, daß sowohl der heutige Osten wie der heutige Westen von einer Geschichtsphilosophie bestimmt wird und daß sowohl die leitenden und planenden Eliten wie auch die von ihnen eingesetzten Massen vor allem auf der Seite der kommenden Dinge liegen wollen, so müssen wir hinzufügen, daß das Wort „Geschichtsphilosophie“ hier einen überaus prägnanten und spezifischen Sinn hat. Diese Geschichtsphilosophie nämlich, deren Gemeinsamkeit den Eisernen Vorhang durchdringt, ist mehr Philosophie als Geschichte. Das bedarf noch eines Wortes der Klärung.

In einem vagen und allgemeinen Sinne kann man jede allgemeine Vorstellung von der Geschichte, jedes Geschichtsbild, jede große Deutung der Vergangenheit und jede große Erwartung einer Zukunft als „Philosophie der Geschichte“ bezeichnen. In diesem ungenauen Sinne wäre z. B. die heidnische Vorstellung eines ewigen, sich unendlich wiederholenden Kreislaufs der Elemente, einer kyklischen Wiederkehr alles Geschehens, ebenfalls Geschichtsphilosophie. Auch ein religiöses Geschichtsbild würde Geschichtsphilosophie sein, und selbst die Juden, die den Messias erwarten, oder die Christen, die der Wiederkunft des triumphierenden Christus harren, würden dann Geschichtsphilosophie treiben. Das wäre eine Neutralisierung der Begriffe, eine schlimme Verwirrung und im letzten Ergebnis geradezu eine Fälschung.

Die Geschichtsphilosophie, um die es hier geht und die wir als die gemeinsame Basis der heutigen Zweiheit diagnostiziert haben, ist ein Bestandteil menschlicher Planung, und zwar einer Planung, die auf einer typisch philosophischen Deutung der Geschichte beruht. Sie ist philosophisch in dem ganz konkreten Sinne, den das Wort Philosophie durch die Aufklärung des 18. Jahrhunderts erhalten hat. Sie wird dadurch konkret, daß eine bestimmte Intelligenzschicht die Führungsansprüche anderer Eliten verneint. Diese Philosophie nimmt das Monopol der Intelligenz und der Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch. In dem Wort „Geschichtsphilosophie“ liegt der Akzent auf der Philosophie, und zwar einer geschichtlich und soziologisch ganz bestimmten Erscheinungsform der Philosophie, die ihre eigenen Fragen stellt und beantwortet, fremde Fragestellungen ablehnt und alle von anderer Seite gestellten Fragen als unphilosophisch, unwissenschaftlich, unmodern und geschichtlich überholt bezeichnet. Geschichtsphilosophie bedeutet demnach nicht nur den Gegensatz zu jeder Geschichtstheologie, sondern weiterhin auch den Gegensatz zu jedem Geschichtsbild, das sich ihrem Monopol der Wissenschaftlichkeit nicht unterwirft.

In diesem Sinne war Voltaire der erste Geschichtsphilosoph. Seine Geschichtsphilosophie machte die Geschichtstheologie Bossuets unmodern. Mit der französischen Revolution setzt die große Effektivität der spezifisch philosophischen Geschichtsphilosophie ein. Recht ist jetzt, was dem Fortschritt dient, Verbrechen, was ihn aufhält. Die Geschichtsphilosophie wird geschichtsmächtig. Sie glorifiziert den, der in ihrem Sinne richtig liegt, und kriminalisiert den, der zurückbleibt. Sie gibt den Mut zur globalen Planung. Allerdings stellt sich dann bald heraus, daß es nicht die Philosophen sind, die planen, sondern die Planer, die sich der Wissenschaft und der Intelligenz bedienen. Der Osten insbesondere hat sich der Geschichtsphilosophie Hegels nicht anders bemächtigt, wie er sich der Atombombe und anderer Erzeugnisse der westlichen Intelligenz bemächtigt hat, um die Einheit der Welt im Sinne seiner Planungen zu verwirklichen.

Aber wie die Erde größer bleibt als das Dilemma der dualistischen Fragestellung, ebenso bleibt die Geschichte stärker als jede Geschichtsphilosophie, und deshalb halte ich die heutige Zweiheit der Welt nicht für eine Vorstufe ihrer Einheit, sondern für einen Durchgang zu einer neuen Vielheit.


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