MERKUR, Nr. 897, Februar 2024

Literarische Besteckszenen. Über den sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel

Von Carlos Spoerhase

 

In seiner großen Studie über den Bildungsroman schildert Franco Moretti, dass Dinner-Szenen in der Romanliteratur des langen 19. Jahrhunderts eine wichtige Funktion zukam: Das Dinner habe einen sozialen Raum geschaffen, in dem sich alle Personen angstfrei und unter dem Schutz klarer sozialer Regelwerke begegnen konnten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts habe dann aber eine veritable »Dinnerdämmerung« eingesetzt.1 Das Dinner sei immer häufiger zu einem angstbesetzten und ambigen sozialen Raum geworden, der gerade keine übergreifende Verhaltenssicherheit mehr habe gewährleisten können.

Das von Unsicherheiten begleitete gemeinsame Essen mit Besteck gehört inzwischen zu dem populären Imaginären. In der Besteckszene prägt sich meist ein verbreitetes Verständnis von Klassendifferenzen aus. Das gemeinsame Essen mit Messer und Gabel kann in der Gegenwart schon deshalb keine sozial neutrale Szene eröffnen, weil die grundlegenden Regeln des Besteckgebrauchs nur einem privilegierten Teil der Gesellschaft vertraut sind. Ein paar Beispiele aus jüngeren literarischen und essayistischen Werken, in denen Sozialaufsteiger im Zentrum stehen: Bei Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse, 2020) muss den Kindern erst beigebracht werden, »wie man Pizza mit Messer und Gabel isst«. Bei Daniela Dröscher offenbart sich in Zeige deine Klasse (2018) die bäuerliche Herkunft des Vaters darin, dass »die rechte Hand […] beim Essen mitunter auf dem Schoß« liegt und »nicht wie die linke auf dem Tisch«. Bei Sharon Dodua Otoo lässt sich der soziale Status daran erkennen, dass man nicht in Restaurants »mit mehreren Bestecken und diversen Gläsern« geht.2

Ralph Tharayil berichtet in Herz & Habitus (2023), erst lernen zu müssen, »wie das Besteck zu halten ist«, und auch in seinem Roman Nimm die Alpen weg (2023) stellt sich die Frage, ob man mit nach Hause eingeladenen Gästen mit den Händen oder doch mit Besteck isst. In Deniz Ohdes Streulicht (2020) wird die Protagonistin von ihrem hilflosen Vater instruiert, das Besteck »immer von außen nach innen« zu verwenden, wobei er allerdings nur auf »imaginäre Fischgabeln und Dessertlöffel« zeigen kann. Französische Schriftsteller, die über Sozialaufsteiger schreiben und gegenwärtig von deutschsprachigen Literaten intensiv gelesen werden, handhaben es ebenso: In Edouard Louis’ Anleitung ein anderer zu werden (2022) muss der Protagonist erst in einer mehrseitigen bürgerlichen Instruktionsszene von seiner Freundin Elena unterwiesen werden, wie man »die Gabel und das Messer in die Hand« nimmt. Und obwohl er mit bemerkenswerter Geschwindigkeit lernt, ist er doch überwältigt, als sich später auf einer Abendgesellschaft vor ihm »Dutzende von Messern, Gabeln und Löffeln in verschiedenen Größen« bedrohlich aufbauen: »ich hatte keine Ahnung, welche man wofür benutzen musste«.

Selbst die aktuelle Ratgeberliteratur verwendet faktuale und fiktionale Aufstiegsgeschichten als Argumentationsressource und Anschauungsmaterial: In Doris Märtins Hier geht’s hoch wird etwa auf die Bücher von Christian Baron, Daniela Dröscher, Didier Eribon, Annie Ernaux, Anke Stelling und Ulla Hahn sowie auf Ron Howards Netflix-Verfilmung von Hillbilly Elegy verwiesen, die auf den Memoiren von J. D. Vance beruht.3 Weshalb wird der gelungene Aufstieg in eine höhere soziale »Klasse« in diesen Werken immer wieder daran festgemacht, »ob man weiß, wie man sich im Restaurant benimmt«,4 mithin ob man weiß, »welches Besteck man benutzt, wenn man zu einem Dinner mit mehreren Gängen eingeladen« wird?5

»Bildungswundergeschichte« Besonders bemerkenswerte Besteckszenen finden sich in der kommerziell erfolgreichsten deutschsprachigen autofiktionalen Romanreihe der letzten Dekaden. Ulla Hahns Geschichte der Hilla Palm, die mittlerweile in vier umfangreichen Bänden vorliegt. Der erste Band der 2400 Seiten umfassenden Tetralogie erschien 2001 unter dem Titel Das verborgene Wort und verkaufte sich mehr als eine halbe Million Mal. Es folgten Aufbruch (2009), Spiel der Zeit (2014) und Wir werden erwartet (2017) sowie eine Verfilmung der ersten beiden Bände durch Hermine Huntgeburth. Die Geschichte der Hilla Palm, die der Lebensgeschichte der Autorin nachempfunden ist, ist eine westdeutsche »Aufstiegsgeschichte« und »Bildungswundergeschichte«.6

Hilla Palm, die im Laufe der Erzählung ihren Namen Hildegard durch Hilla austauscht, ist wie Ulla Hahn eine katholische Arbeitertochter vom Lande.7

Hilla wächst im katholischen Rheinland in einem kleinen Dorf als Tochter eines ungelernten Arbeiters auf und besucht gegen den Widerstand ihrer Familie, aber mit Unterstützung der örtlichen Lehrer und des lokalen Pfarrers das Gymnasium. Aufgrund ihres frühen schulischen Erfolgs und einer bemerkenswerten Assimilationsfähigkeit an bürgerliche Sprachnormen und Verhaltensstandards gelingt ihr eine steile Bildungskarriere, die sie bis an die Hochschule führt. In Wir werden erwartet, dem letzten Band der Tetralogie, resümiert die Protagonistin diesen steilen Aufstieg: »Ich kannte die Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Hatte Anpassung gelernt. Hochdeutsch statt Platt, Essen mit Messer und Gabel. Manieren. Aufsteigerin.«

In allen vier Bänden kommen Besteckszenen an entscheidenden Wendepunkten vor. Bereits der erste Band Das verborgene Wort nutzt die Besteckszene, um die kulturelle Differenz zwischen der Herkunft in der Arbeiterschicht und dem Aspirationsraum des Bürgertums zu exponieren. Hilla muss bei einem Kindergeburtstag in einem bürgerlichen Haus überrascht feststellen, dass alle Kinder außer ihr »mit Messer und Gabel« essen. Als sie »wie die anderen Messer und Gabel« ergreift, wird sofort offenbar, dass sie nicht weiß, »was in welche Hand« gehört. Die Szene führt vor Augen, dass Hilla nicht nur nicht weiß, welche Speisen man in bürgerlichen Milieus mit Besteck isst, sondern dass ihr der Umgang mit Messer und Gabel überhaupt fremd ist. Übungserfolge stellen sich aber rasch ein. Hilla praktiziert die neuerworbenen Fähigkeiten auch am elterlichen Esstisch.

Die Bemühungen der Tochter um einen bürgerlichen Besteckgebrauch und das strafende Verhalten des Vaters am heimatlichen Küchentisch werden von Hahn besonders grell kontrastiert. Das Essen mit Messer und Gabel wird vom Familienpatriarchen umgehend als kindliches Bemühen um Vornehmheit verstanden und noch am Esstisch unterbunden. Der gewalttätige Vater wird an dieser Stelle – wie an einigen anderen der Tetralogie – zur Personifikation der Aufstiegshindernisse, die sich der begabten Hilla entgegenstellen.

 

 

Der soziale Aufstieg gelingt nur, weil das Kind sich letztlich doch gegen den Vater durchsetzt und auch im familiären Kreis mit Messer und Gabel essen darf. In allen Fragen, die über das Essen mit Messer und Gabel hinausgehen, konsultiert Hilla im Folgeband Aufbruch dann ein Benimmbuch, nämlich das unter dem Autorinnennamen »Dr. Gertrud Oheim« im Jahre 1955 erstmals publizierte und bis 1964 schon in 42. Auflage verlegte Einmaleins des guten Tons. Hilla unterwirft sich vollständig dem strikten Regelkatalog des Bestsellers und bemüht sich darum, »à la Dr. Oheim« zu essen und zu leben.

Der in Ulla Hahns Autosoziobiografie geschilderte Kontrast zwischen dem ungebildeten Hilfsarbeiter am Küchentisch, der beim heimatlichen Sonntagsessen »wie immer Gemüse, Kartoffel und Soße zu einem Brei« quetscht, und der imaginären promovierten Hausfrau mit sprechendem Namen, die eine vorbildliche bürgerliche Lebensweise in verbindliches Regelwissen auszuformulieren vermag, ist drastisch. In gewisser Hinsicht ist dieser Kontrast selbst dem impliziten Gesellschaftskonzept des westdeutschen Benimmbuchklassikers entnommen. Die Universalisierung des Bürgerlichen kommt selbst noch im Namen der vertrauensvoll hinzugezogenen Ratgeberin zur Geltung: Die Tatsache, dass die Gegenfigur zur Lebensweise des leiblichen Vaters die einer imaginären Tante (»Oheim«) ist, markiert unmissverständlich, dass das Erlernen der bürgerlichen Manieren ideologisch im Rahmen einer innerfamiliären Erziehungsarbeit situiert bleibt – auch wenn die Erziehung hier tatsächlich an die Institution des Buchmarkts delegiert worden ist.

Es ist bemerkenswert, wie häufig die Besteckszene auf den 2400 Seiten der Tetralogie leitmotivisch wiederkehrt. Dem in hohem Maße formalisierten, in sozialen Szenen beobachtbaren und durch populäre Benimmbücher normierten Besteckgebrauch scheint bei Ulla Hahn eine geradezu emblematische Dimension zuzukommen: Der richtige Umgang mit Messer und Gabel steht dabei für die Tatsache gesellschaftlicher Schichtung überhaupt; er steht für die Möglichkeit, die Position einer Person innerhalb des geschichteten sozialen Gefüges bestimmen zu können, und er steht für die Sorge, in einer Besteckszene unversehens als »Prolet« oder eben als Tochter eines »Proleten« entlarvt werden zu können.

In der westdeutsch geprägten bildungsgetriebenen Aufstiegsseligkeit, die die Tetralogie insgesamt bestimmt, gerät aber etwas aus dem Blick: Die Besteckszene lässt nämlich nicht nur die gesellschaftliche Schichtung manifest werden, vielmehr sind die Tischmanieren ebenso wie die anderen Normen der bürgerlichen Gesellschaft an der Produktion dieser Schichtung – also an der sozialen Herstellung des »Proleten« – selbst wesentlich beteiligt. In der Geschichte der Hilla Palm kann das gar nicht in den Blick kommen, da die – im richtigen Besteckgebrauch zur Geltung kommende – Bürgerlichkeit darin ohne jede Reserve als Lebensnorm affirmiert wird. Die in der Besteckszene erfolgreich unter Beweis gestellten Manieren sind für die Protagonistin keine situativ mehr oder weniger zweckdienlichen Verhaltensoptionen, sondern schlechthin identitätsstiftend.

 

Sozialprüfung auf öffentlicher Bühne

Die Besteckszene erfreut sich in der Populärsoziologie der Gegenwartsliteratur wie in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung einer großen Beliebtheit. Ihr kommt dabei nicht allein die Funktion eines für sich interessanten gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungsobjekts zu, sondern der Status eines partikularen narrativen Bezugsobjekts, das eine generellere theoretische Perspektive auf das Soziale zu veranschaulichen und zu plausibilisieren verspricht.

Wenn Georg Simmel über die »Haltung von Messer und Gabel« sinniert,8 so dient ihm der Besteckgebrauch als Musterbeispiel für die Vergesellschaftung durch eine Formalisierung des Sozialen. Für Norbert Elias ist der Gebrauch des Bestecks ein Paradigma für die Dynamik kultureller Prozesse.9 Das Besteck markiert für ihn einen bestimmten Zivilisationsstandard: Nicht umsonst wurde die These seines wichtigsten Werks mittels der Formulierung »Aufstieg der Gabel« zusammengefasst.10 Die »Gabel« ist für Elias tatsächlich »nichts anderes als die Inkarnation eines bestimmten Affekt- und Peinlichkeitsstandards«.11 Und das strikte Verbot des Messergebrauchs beim Kartoffelessen, an dem schon der von Ulla Hahn zitierte Benimmführer die Grenze zwischen dem Primitiven und dem Zivilisierten festmacht, wird auch bei Elias als entscheidende zivilisatorische Schwelle charakterisiert: »Am bekanntesten und relativ am schwersten ist […] das Verbot des Schneidens von Kartoffeln mit dem Messer.« In Marcel Mauss’ wegweisendem Aufsatz zu »Körpertechniken« dient die Diskussion von Messer und Gabel der Entwicklung einer Theorie des Habitus.12 Und auch in Pierre Bourdieus habitustheoretischer Kultursoziologie der »feinen Unterschiede« wird der Besteckszene ein wichtiger Platz zugewiesen.13

Schließlich gewinnt die in der Tischgemeinschaft verankerte Besteckszene bei Albert O. Hirschman den Charakter einer Grundsituation menschlicher Kollektivität. 14 Wie lässt sich die bemerkenswerte Prominenz der Besteckszene in der Sozial- und Kulturtheorie erklären? Darauf gibt es eine Reihe von Antworten. Erstens ist die Besteckszene in der gesellschaftlichen Alltagserfahrung bereits als Beispiel für gelungene Sozialisation etabliert und als solche nicht zuletzt durch populäre Medien kulturell eingeübt: Als vielfach behandeltes Skript ist sie im Alltag verfügbar und dient der kulturellen Selbstbeobachtung. Dabei wohnt ihr eine gewisse Departikularisierungstendenz inne: Beobachten und bewerten die Tischnachbarinnen und Tischnachbarn, ob man richtig mit Messer und Gabel umgehen kann, so wird damit nicht nur der Umgang mit dem Besteck, sondern das gesamte »gute Benehmen« geprüft: »Gute Manieren beim Essen und Trinken gehören unbestreitbar zu den Prüfsteinen des guten Benehmens«, dekretiert bereits Dr. Oheim. Diese Departikularisierungstendenz wird sogar noch gesteigert, wenn die Besteckszene nicht allein als pars pro toto für die Kultiviertheit eines Individuums, sondern auch für die Zivilisiertheit eines ganzen kulturellen Zusammenhangs stehen soll.

Die Besteckszene eignet sich zweitens aber auch deshalb so gut für eine kulturwissenschaftliche Theorieszene, die eine übergreifende sozialtheoretische Perspektive illustrieren und plausibilisieren soll, weil sie soziale Phänomene, die eher latent und unsichtbar sind, beobachtbar macht. Plötzlich wird die hintergründige Klassenstruktur der Gesellschaft für alle Beteiligten erkennbar. Die Besteckszene ist ein Arrangement von Personen und Objekten, das zu ermöglichen scheint, die Differenzen, die sich zwischen unterschiedlichen Personen in der Gesellschaft auftun, auf einen Blick wahrzunehmen: eine privilegierte soziale Szene also, in der die sonst verdeckte gesellschaftliche Ungleichheit so offensichtlich wird, dass man tatsächlich direkt »Klassen sehen« kann.15

Aus einer poetologischen Perspektive erweist sich die Besteckszene zudem als eine soziale Szene, die eminent dramatisierbar ist. Für den auftretenden Akteur stellt sich die Frage, ob die soziale Katastrophe eintritt oder nicht, ob der Absturz vor versammelter Tischgemeinschaft erfolgt oder nicht. Die Besteckszene ist eine »Szene« im engeren Sinne, die durch die beteiligten Akteure konstituiert wird: Der Restaurantgänger ist nicht allein, sondern tritt vor seinen aufmerksamen Tischgenossinnen und Tischgenossen auf. Er wird beobachtet und für seinen Auftritt bewertet. Das Verhalten bei Tisch gleicht somit einer Sozialprüfung auf öffentlicher Bühne, bei der man vor den Augen aller Anwesenden durchfallen kann. Die Besteckszene kann so zu einer dramaturgischen Verdichtungsform des Sozialen werden, zu einem Kammerspiel hochregulierter Sozialität, das nicht nur vor einer Tischgemeinschaft, sondern auch und vor allem vor einem Lese- oder Filmpublikum aufgeführt wird. Und dabei werden die von Norbert Elias ins Feld geführten kulturellen »Affekt- und Peinlichkeitsstandards« aktiviert: Gut inszenierte Besteckszenen können im Kinosaal oder im Lesesessel nervöse Angstlust auslösen.

 

Spontansoziologie

Aber die Besteckszene hat Grenzen: So sehr sie latente soziale Gegebenheiten in einer Aufführung des Sozialen manifest werden lässt, so sehr lässt sie doch nur ganz ausgewählte und situative Aspekte des Sozialen sichtbar werden. Fokussiert werden nämlich erstens nur Formen von sozialer Ungleichheit, die interaktiv hergestellt werden: »Klasse« wird an die persönliche Performanz in einer konkreten sozialen Situation gebunden. Es scheint dann, als würde die Zugehörigkeit zu einer »Klasse« in jedem Moment auf dem Spiel stehen, als würde sich das soziale Schicksal aller Beteiligten in der Besteckszene entscheiden. Aber stimmt das überhaupt?

Führt die szenische Dramatisierung durch temporale Verdichtung des Sozialen hier nicht dazu, dass wir die soziale Relevanz derartiger Konstellationen überschätzen? Die Besteckszene legt ferner eine kulturalistische Konzeption von gesellschaftlicher Schichtung nahe: Soziale Ungleichheit erscheint als eine Frage des ungleichen Zugangs zu symbolischen Ressourcen und als eine Frage der ungleich verteilten Kompetenz, diese Ressourcen wahrnehmen, beurteilen und einsetzen zu können. Der soziale Aufstieg erfolgt, will man Hahn glauben, dadurch, dass man sich die entscheidenden symbolischen Ressourcen so umfassend wie möglich aneignet. Die Frage ist also weniger, ob man selbst über Tafelsilberverfügt, sondern ob man mit dem Tafel lber anderer Leute angemessen hantieren kann.

Wird damit ein Verständnis von sozialer Schichtung artikuliert, das die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Gegenwart angemessen zu fassen vermag? Weiterhin wird soziale Ungleichheit hier in formalisierten Kontexten lokalisiert, also in Situationen, die sich durch das Erlernen des Regelkatalogs eines Benimmbuchs beherrschen lassen: Beim Besteck gibt es am ehesten ein klares Richtig oder Falsch. Bei vielen anspruchsvolleren sozialen Interaktionsformen ist das aber gerade nicht der Fall: Hier spielt Takt eine entscheidende Rolle.16

Was wäre aber, wenn in modernen Gesellschaften der Gegenwart soziale Ungleichheit nicht primär in formalisierten Interaktionskonstellationen, sondern in informelleren Situationen hergestellt würde? Damit hängt ein weiterer Punkt zusammen: Die Fokussierung auf das Formalisierte und Regelhafte läuft darauf hinaus, das Verstehen des Sozialen als eine Einführung in verschlüsseltes Regelwissen zu konzipieren. Der Protagonist der Netflix-Verfilmung von J. D. Vance’ Hillbilly Elegy fragt angesichts eines überwältigenden Tischgedecks bei einem Ivy-League-Dinner: »Why are there so many fuckin’ forks?« Die Frage lässt sich nur klären, weil seine Partnerin, die er umgehend telefonisch um Rat bittet, die vielen geheimen Regeln beherrscht. Die Notwendigkeit, die Besteckszene zu »enträtseln«, impliziert, dass es sich bei dem Sozialen um einen Code handelt, der sich zwar immer wieder in sozialen Situationen indirekt zeigt, aber doch nur von wenigen richtig dechiffriert werden kann. Gesellschaft wird somit als ein feststehender Code von symbolischen Handlungen wahrgenommen, der erst geknackt werden muss.

Tatsächlich aber handelt es sich bei der Besteckszene um populäre Alltagssoziologie, die komplexere strukturelle Erklärungen meidet: In der Besteckszene wird unterstellt, man könnte durch die Beherrschung bestimmter Regeln schließlich doch noch die »ease« erhalten, um die es in dieser stereotypisierten Version der Oberschicht eigentlich gehe.17 Es soll hier aber nicht um das normative Urteil gehen, es würde bloß Alltagssoziologie betrieben. Analytisch interessanter ist, dass hier oft ein Publikum adressiert wird, das sich dieser Alltagssoziologie als einer mehr oder weniger spontanen Soziologie bedient und die soziale Scheidelinie von Unten und Oben anhand der individuellen Beherrschung eines Regelwissens zieht. Mit anderen Worten: Viele literarische und filmische Besteckszenen liefern dem Publikum genau die Spontansoziologie, über die es bereits verfügt. Zudem sollte man nicht aus dem Blick verlieren, dass es unterschiedliche Personen und Organisationen gibt, die genau diese Spontansoziologie äußerst erfolgreich propagieren und vermarkten:

So manches erfolgreiche Geschäftsmodell beruht auf Spontansoziologie. In Benimmkursen etwa spielen Besteckszenen eine wichtige Rolle. Mag es sich dabei um kostengünstige Volkshochschulkurse oder hochpreisige Führungskräfteseminare handeln, meist ist die Schulung im angemessenen Besteckgebrauch ein wichtiger Bestandteil der Veranstaltungen, und nicht selten enden die Benimmkurse sogar mit einer veritablen Besteckszene, wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses abschließend bei einem gemeinsamen Essen das gerade zuvor erlernte richtige Benehmen vor den Augen aller Beteiligten unter Beweis stellen sollen.

Wie Elisabeth Timm in ihrer ethnografischen Studie Ausgrenzung mit Stil herausgearbeitet hat, lässt sich in derartigen Benimmkursen eine Dialektik des Verrätselns und Enträtselns des Sozialen feststellen: Die Gesellschaft wird gleichsam als ein großes Geheimnis präsentiert, in das die Kurse »einzuweihen versprechen«. Dabei spielt das Erlernen der »fremden›Sprache des Bestecks‹« eine wichtige Rolle. Die »Benutzung von Besteck und anderen Utensilien bei Tisch« verlangt in diesen Kursen immer nach einer »Thematisierung der ›Regeln‹«, die das Soziale hintergründig beherrschen. Die Studie beschreibt die gängige Praxis in den Benimmkursen entsprechend »als eine Suche nach ›Geheimnissen‹«, deren Aufdeckung durch die kompetente Kursleitung erst letzte Gewissheit über das richtige Verhalten in der Gesellschaft zu geben vermag.

 

Kartoffeln essen

Wenn man die autosoziobiografische Literatur der letzten Zeit konsultiert, müssteman Sozialaufsteiger als Personen definieren, die erst das Geheimnis lüften müssen, was es mit dem Besteckgebrauch auf sich hat. Dabei gibt es allerdings markante Unterschiede: In J. D. Vance’ US-amerikanischer Besteckszene wird in erster Linie die Parkettsicherheit des Protagonisten in elitären Zirkeln thematisiert: Es geht um eine situative Anpassung an soziale Verhaltenserwartungen in außeralltäglichen Situationen. Die sozialen Voraussetzungen dafür, sich im Alltag regelkonform zu verhalten, scheinen dagegen nicht besonders hoch zu sein.

Was aber, wenn sich die Bemühungen um regelkonformes Verhalten nicht schon darin erschöpfen, bei einem Dinner ein paar telefonisch übermittelte Handlungsmaximen zu befolgen, sondern eine umfassende Veränderung der eigenen Verhaltensdispositionen erforderlich machen? Blickt man auf die Besteckszenen in der Geschichte der Hilla Palm, gewinnt man den Eindruck, dass bereits die Anpassung an alltägliche Verhaltensstandards viel mühevoller ist, als die Hillbilly Elegy uns glauben machen will: Ulla Hahn erkundet in ihrer Romantetralogie Besteckszenen, in denen nicht weniger als die gesamte bürgerliche Existenz einer Person auf dem Spiel zu stehen scheint.

Weshalb belehren uns Ulla Hahns vierteilige Geschichte und andere vielbeachtete Werke der Gegenwartsliteratur immer wieder über den korrekten Umgang mit Kartoffeln? So wünscht sich etwa der unglückliche Protagonist von Bov Bjergs Roman Serpentinen (2020), ein erfolgreicher akademischer Sozialaufsteiger, dass er »auf dem Internat gewesen« wäre, weil er dort wenigstens gelernt hätte, dass man »die Kartoffeln, wie es sich gehört, mit der Gabel zerteilt«. Und der kaum glücklichere Protagonist von Christian Krachts Eurotrash (2021), der ein renommiertes Internat besucht haben muss, zeigt uns, wie man es richtig macht, wenn er in einem Schweizer Restaurant seine »Kartoffel mit dem Gabelrand« zerteilt.

Die Besteckszene, der richtige Umgang mit der Kartoffel, steht hier pars pro toto für eine privilegierte Herkunft, für eine vermögende soziale Schicht, die ihre Kinder auf kostspielige Internate schickt. Das allgemeine Bild des Sozialen, das die in der autosoziobiografischen Gegenwartsliteratur allgegenwärtige Besteckszene evoziert, speist uns mit Imaginationen vom korrekten Umgang mit gekochten Kartoffeln ab: als würde für Hilla Palm und ihre vielen realen und erfundenen aufstiegswilligen Leidensgenossinnen und Leidensgenossen der richtige Umgang mit Besteck das eigentliche gesellschaftliche Geheimnis darstellen und nicht die schwer zu durchschauende Struktur einer stratifizierten Gesellschaft, die den mühsamen sozialen Aufstieg mit Messer und Gabel in der Hand erst notwendig gemacht hat.

 


Weitere Beiträge der Reihe Zweite Lesung.


 

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Franco Moretti, The Way of the World. The »Bildungsroman« in European Culture. London: Verso 2000.
  2. Sharon Dodua Otoo, Klassensprecher. In: Maria Barankow / Christian Baron (Hrsg.), Klasse und Kampf. Berlin: Ullstein 2021.
  3. Doris Märtin, Hier geht’s hoch. 21 Strategien für den Aufstieg, egal wo Sie stehen. Frankfurt: Campus 2023. J. D. Vance ist dabei ein besonderers interessanter Fall. Von jemandem, der aufzuzeigen versuchte, weshalb die Abgehängten in den Appalachen rechts wählen, wurde er zu einem Politiker der republikanischen Rechten und einem Verteidiger Trumps. Von einem kalifornischen Venture Capitalist und widerwilligen Beobachter der Politik in der US-amerikanischen Bundeshauptstadt wandelte er sich schließlich zu einem republikanischen Bewerber um einen Senatorensitz des Bundesstaats Ohio. Seine Wahlkampagne wurde vom rechtslibertären Investor Peter Thiel mit einem Betrag von 10 Millionen Dollar gefördert und nach verschiedenen Demutsgesten Richtung Mar-a-Lago auch von Trump unterstützt – was der Ex-Präsident mit der ihm eigenen robusten Zugewandtheit kommentierte: »JD is kissing my ass, he wants my support so much.« Seit November 2022 ist Vance Senator in Washington D. C., er ist zudem von einer Richtung des evangelikalen Protestantismus zum Katholizismus konvertiert.
  4. Jan Knobloch, Bis der Rhythmus stimmt. In: FAZ vom 27. Juli 2021.
  5. Martin Eisend, Soziale Herkunftserfahrung als Sensibilisierung für Chancengleichheit und Diversität. In: Julia Reuter u. a. (Hrsg.), Vom Arbeiterkind zur Professur. Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen. Bielefeld: transcript 2020.
  6. Susanne Mayer, Stud. phil. Ich. Ulla Hahn schreibt wieder über ihr Leben – mit Fleiß und Wut. In: Zeit vom 3. Dezember 2009.
  7. Vgl. Marcel Helbig / Thorsten Schneider, Auf der Suche nach dem katholischen Arbeitermädchen vom Lande. Religion und Bildungserfolg im regionalen, historischen und internationalen Vergleich. Wiesbaden: Springer VS 2014.
  8. Georg Simmel, Soziologie der Mahlzeit. In: Ders., Aufsätze und Abhandlungen, 1909–1918. Bd. I. Hrsg. v. Rüdiger Kramme u. Angela Rammstedt. Frankfurt: Suhrkamp 2001; vgl. Denis Thouard, Umgangsformen. Ein Modellfall der Formalisierung. In: Anja Röcke / Steven Sello (Hrsg.), Lebensführung, Lebenskunst, Lebenssinn. Im Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie. Weinheim: Beltz 2021.
  9. Vgl. Elisabeth Timm, Ausgrenzung mit Stil. Über den heutigen Umgang mit Benimmregeln. Münster: Westfälisches Dampfboot 2001.
  10. Keith Thomas, The Rise of the Fork. In: New York Review of Books vom 9. März 1978.
  11. Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt: Suhrkamp 1976; kritisch dazu Hasso Spode, Von der Hand zur Gabel. Zur Geschichte der Eßwerkzeuge. In: Alexandra Schuller / Jutta Anna Kleber (Hrsg.), Verschlemmte Welt. Essen und Trinken historisch-anthropologisch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994.
  12. Marcel Mauss, Les Techniques du corps. In: Journal de Psychologie, Nr. 32/3–4, 1935.
  13. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt: Suhrkamp. Bourdieu vermeidet aber eine zu starke Fokussierung auf den Besteckgebrauch und befasst sich auch intensiv damit, welche Speisen verzehrt werden, in welchen Räumen die Mahlzeiten stattfinden und welche Gespräche während des Essens geführt werden.
  14. Vgl. Albert O. Hirschman, Tischgemeinschaft. Zwischen öffentlicher und privater Sphäre. Wien: Passagen 1997; Iris Därmann / Harald Lemke (Hrsg.), Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen. Bielefeld: transcript 2008.
  15. Drehli Robnik (Hrsg.), Klassen sehen. Soziale Konflikte und ihre Szenarien. Münster: Unrast 2021.
  16. Zur Kategorie des Takts vgl. David Heyd, Tact: Sense, sensitivity, and virtue. In: Inquiry, Nr. 38/3, 1995; David Russell, Tact. Aesthetic Liberalism and the Essay Form in Nineteenth-Century Britain. Princeton University Press 2018.
  17. Zum Leitwert der »ease« in der Erziehung der Oberschichten vgl. Shamus Rahman Khan, Privilege. The Making of an Adolescent Elite at St. Paul’s School. Princeton University Press 2012.

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