Merkur Nr. 799, Dezember 2015

Zwei, drei, viele Houellebecqs. Zu den Nach- und Nebenleben eines Autors

von Danilo Scholz

 

Die Kunst, so schrieb der Ethnologe Claude Lévi-Strauss in Das wilde Denken, nimmt ihren Platz auf »halbem Wege zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und mythischem oder magischem Denken« ein. Sie versucht, historische Ereignisse aus ihrer unbehauenen und unerträglichen Kontingenz in eine sinnhafte Struktur zu überführen. Das gilt nicht nur für traditionelle Stammesgesellschaften, sondern auch für die Moderne, in der die Kunst ein letztes Reservat »wilden Denkens« bildet. Sie ermöglicht es, das Weltgeschehen komprimiert, aber doch ganzheitlich zu erfassen. Sie ist unmittelbare und zugleich verstehende Anschauung.

Lévi-Strauss zählte spätestens seit Plattform (2001) zu den begeisterten Lesern Michel Houellebecqs. Er sah sogar einige Parallelen zu Traurige Tropen.[1. Lévi-Strauss hat hier vor allem die Passagen aus Traurige Tropen im Sinn, in denen er seine »Antipathie« gegenüber dem Islam erörtert. Als Houellebecq 2001 von muslimischen Verbänden und Menschenrechtsorganisationen angegriffen wurde, weil er den Islam als »dümmste Religion überhaupt« bezeichnet hatte, reihte sich der 93-Jährige in die Schar seiner Verteidiger ein.] Houellebecq bedankte sich artig: In Die Möglichkeit einer Insel (2005) versichert der Stand-up-Comedian Daniel1, er habe in seiner Zeit als Schauspieler Lévi-Strauss stets mit Gewinn gelesen, denn moderne Gesellschaften und indigene Kulturen funktionierten im Wesentlichen nach der gleichen Logik. Darüber hinaus spielt Houellebecq die Ethnologie gegen all jene aus, die auf einer politischen Deutung seiner Texte bestehen. Die Arbeit des Künstlers Jed Martin wird in Karte und Gebiet (2010) für ihren ethnologischen Blick auf die Wirklichkeit gewürdigt, dem nichts fremder wäre als ein billiger »politischer Kommentar«. Am Anfang von Houellebecqs Ethnologie steht jemand und nicht etwa niemand oder irgendwer.[1. An dieser Frage entzündet sich die anhaltende Kontroverse um die Schärfe von Houellebecqs Figurenzeichnung. So wirft MarcÉdouard Nabe Houellebecq vor, in seinen Werken dem unterbestimmten Durchschnitt auf den Thron verholfen zu haben.]

»Et alors? Moi aussi, j’étais quelqu’un«, barmt der Protagonist François in Unterwerfung (2015). [1. Noch ein Wort zum Titel: Unterworfenheit (soumission) ist für Houellebecq nicht nur eine Kategorie des Religiösen oder Politischen, sie bezeichnet auch einen Grundzustand des Künstlers, der, so der Erzähler in Karte und Gebiet, »mysteriösen und unvorhersehbaren Botschaften unterworfen ist, die man wohl oder übel und in Ermangelung religiöser Überzeugungen als Intuitionen bezeichnen müsste«] In Elementarteilchen wurde sie dem Leser als im Tierreich weitverbreitetes Phänomen präsentiert: Die Unterwerfungsgeste erspart dem schwächeren Tier einen Kampf, in dem es aller Wahrscheinlichkeit nach unterliegen würde. Ich ist kein Anderer – Houellebecq hat für die Psychoanalyse nichts übrig –, sondern Jemand. Trotz dieser aufblitzenden Selbstbehauptung des Einzelnen ist Houellebecqs Menschenkunde nicht individualistisch, sondern strukturalistisch, böse Zungen würden sagen schablonenhaft. In all seinen Romanen findet sich die Feststellung, dass die Menschen wenn nicht völlig »identisch«, so doch einander »äußerst ähnlich« seien. Die relative Gleichförmigkeit der menschlichen Gattung verhindert indes nicht immer, dass die Trennlinie zu anderen Arten unterlaufen wird.

Houellebecq verwischt die Grenzen zwischen Ethnologie und Ethologie, indem er Affenarten heranzieht, um gewaltsames Verhalten unter Menschen zu beleuchten, oder die Ergebnisse von an Ratten durchgeführten Laborexperimenten resümiert, um die Angst vor Berührung zu ergründen. Umgekehrt ist Bösartigkeit kein Attribut, das der Spezies vorbehalten ist, die gemeinhin für die Krone der Schöpfung gehalten wird. Je näher Houellebecqs an Zola geschulter »Neo-Naturalismus« den Menschen an das Tierreich rückt, desto heftiger bäumen sich die Figuren gegen das auf, was Michel, der in Elementarteilchen vor dem Fernseher sitzt und sich Tierdokus ansieht, als »widerwärtige Sauerei« namens Natur bezeichnet. Der Hass des studierten Agrarökonomen auf die Umweltbewegung ist eine Begleiterscheinung des viel fundamentaleren Einwands gegen die Natürlichkeit: Als Eigenschaft ist sie mitnichten erstrebenswert, als Ideal richtet sie größte Verheerungen im Individuum und im Sozialen an.

 

Selbstbildpolitik

Es gibt schlechtere Einstiege in Houellebecqs Texte als die Bilder, die sie begleiten. Der passionierte Fotograf ist ein Meister der Selbstbildpolitik. Viele der Porträts auf den Buchrücken der französischen Ausgaben sind Selfies. Und ab und an kommen Fotos zustande, auf denen der Künstler mit den Insignien seiner philosophischen Weltanschauung abgebildet ist. 1998 zierte Houellebecq die Titelseite der Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles, auf der eine Supermarkttüte mehr Platz einnimmt als der Kopf des Autors. Das unscheinbare Objekt liefert einen wichtigen Anhaltspunkt, um seine Denkweise zu entschlüsseln. Die Welt tritt ihm vor allem als »Supermarkt und Hohn« entgegen, wie Houellebecq im Essay Ansätze für wirre Zeiten einräumt.[1. In: Michel Houellebecq, Die Welt als Supermarkt (1998). Köln: Dumont 1999.]

Der Supermarkt ist zum einen das wahre Paradies auf Erden, eine Sphäre kampfloser Verausgabung, ein Idyll des Überflusses. Aber er ist auch der Ort, an dem der Mensch wie nirgendwo sonst auf sich zurückgeworfen ist. Houellebecqs Protagonisten haben wochenlang keinen Kontakt zur Außenwelt, der Umkreis ihrer sozialen Interaktion schrumpft auf das knappe Gespräch mit der Kassiererin zusammen: »Haben Sie eine Kundenkarte? – Nein.« Das Gedicht Hypermarché-Novembre schildert so erschütternd wie komisch einen Zusammenbruch, den das lyrische Ich vor dem Käseregal erleidet. Erst im französischen Originaltitel des Essays – Le monde comme supermarché et comme dérision – klingt an, worauf Houellebecq abhebt: keine wohlfeile Konsumkritik, sondern eine philosophische Standortbestimmung im Rückgriff auf Arthur Schopenhauers Hauptwerk, das als Le monde comme volonté et comme représentation ins Französische übersetzt wurde. Der »Primat des Willens«, den Schopenhauer postuliert, hängt eng mit dem Geschlechtstrieb zusammen. Erlischt dieser, so zitiert Daniel1 die Parerga et Paralipomena in Die Möglichkeit einer Insel, ist »der eigentliche Kern des Lebens verzehrt« und nur eine leere Hülle bleibt zurück.

Das Ganze gleicht einer »Komödie«, die »von Menschen angefangen, nachher von Automaten, in deren Kleidern, zu Ende gespielt wird«. Die Logik des Supermarkts lässt die Vorstellung eines unbändigen und ungeteilten Willens jedoch hinfällig werden. Das Wollen zerbröselt, und das Begehren weiß nicht mehr, welche Objekte es besetzen soll. Houellebecqs Antihelden laborieren an einer regelrechten »Depression des Wollens«. Sie nehmen Zuflucht bei dem, was Schopenhauer »Quietive« nennt, Hilfsmittel und metaphysische Tranquilizer wie Kunst oder Religion, die den Menschen zeitweiligen Unterschlupf im schmerzfreien, quasibuddhistischen Nichtsein gewähren. Möglicherweise ist diese asketische Schwundstufe der Existenz nicht gewählt, vielleicht sind die Figuren bei Houellebecq dazu verurteilt, weil ihre Bemühungen, auf der vitalistischen Welle zu surfen, stets scheitern, aus gesellschaftlichen (mangelnde Verführungskraft) und historischen Gründen (das Ende der Liebe nach Achtundsechzig). Houellebecqs Liebäugeln mit der Geschichtsphilosophie darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in der Nachfolge Schopenhauers das Leid vom Einzelnen her denkt. Mangels Aussicht auf Unsterblichkeit gibt es für diesen individuellen Schmerz im Hier und Jetzt nicht den mindesten Trost.

Wenn Houellebecqs Charaktere den Freitod wählen, sollte das nicht mit einer Apologie des Suizids verwechselt werden. Lebensmüdigkeit ist ein Zustand, der ausgehalten und nicht beendet werden muss. Leben heißt Scheitern, aber sich selbst töten heißt falsch Scheitern. »Selbstmord bringt nichts«, schreibt Houellebecq in seinem poetologischen Programm Rester vivant (1991), das sich schon im cartesianischen Untertitel als méthode ausweist und angehenden Dichtern die paradoxe Rolle des »lebenden Selbstmörders« anempfiehlt. Besser man nimmt sich eine »Auszeit« von einer Existenz, an der man niemals wirklich hing, man richtet sich dauerhaft in einem abwesenden Leben ein, man löst sich in Luft auf, wie Paul, der Kundenberater bei France Télécom, den Houellebecq in Gustave Kerverns und Benoît Delépines Film Near Death Experience (2014) in Radlerhose und Funktionsshirt mimt, ein augenzwinkernder Verweis auf die Radtour durch die Hügel der Ardèche-Region, zu der sich der Erzähler am Ende von Ausweitung der Kampfzone (1994) aufrafft.

France Télécom erlangte traurige Berühmtheit durch eine Suizidwelle unter seinen Angestellten, die dem Unternehmen in Frankreich schwere Anschuldigungen von Arbeitsrechtlern, Presse und Regulierungsbehörden einbrachte. Paul bildet sich viel darauf ein, Sachen zu Ende zu bringen, im Beruflichen wie im Privaten. Beim Abschied vom Leben soll das nicht anders sein. Sich als alter Sack, als »flügellahme Brieftaube« verzweifelt ans Leben zu klammern, ist eine besonders unangenehme Ausprägung des Egoismus. Mit der Durchführung des Plans hapert es jedoch, »Du redest entschieden zu viel und bringst dich nicht genug um«, ermahnt sich das in der Landschaft Südfrankreichs ziellos umherirrende Wrack aus dem Off, Houellebecqs Körper ein fleischgewordenes Memento mori, das in der französischen Presse Erinnerungen an die Fotos des späten, von Elektroschocks ausgemergelten Antonin Artaud wachrief.

 

Die lieben Kollegen

Die Mischung aus existentieller Niedergedrücktheit und hormoneller Überproduktion, die dem literarischen Phänomen Houellebecq zum internationalen Durchbruch verhalf, hat den Neid oder zumindest den Kommentardrang vieler Kollegen und Freunde auf den Plan gerufen, darunter Marc-Édouard Nabe, der in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren Houellebecqs Nachbar war. Einige halten Nabes oft im Selbstverlag veröffentlichte Romane, Pamphlete und Gedichte für hohe Kunst, für Werke, die von einem extrem feinsinnigen Sprachgefühl zeugen. Die meisten anderen stößt das Spiel mit krassen antisemitischen Klischees ab, an dem er sich zuletzt in seinem Buch über die Umtriebe Dominique Strauss-Kahns, dem vielsagend betitelten L’Enculé (2011), ergötzte.

Allerdings hat Nabe dieses Spiel schon zu Beginn seiner Schriftstellerlaufbahn kultiviert, als er 1985 zu Gast in Bernard Pivots legendärer Literatursendung »Apostrophes« war, um sich als Vertreter eines »literarischen Terrorismus« öffentlich in Szene zu setzen. Hass, Diktatur, Vernichtung – bring it on, fordert Nabe vor laufender Kamera, nur so könne sich der Schriftsteller den Zugang zur »ursprünglichen Barbarei« erschließen. Kunst muss dem Leben dienen. Und als lebenssteigernd gelten ihm vor allem die Werke von Léon Bloy, Louis-Ferdinand Céline und die Musik von Thelonious Monk. Alle anderen: Feinde. Seine Devise: »Tout individu qui n’est pas moi est un adversaire.«

Auch wenn er die politische Klasse anfangs auf Distanz halten wollte, der Beifall der Rechtsextremen war Nabe nicht selten sicher. Nach der Sendung wird er von einem jungen Mann aus dem Umfeld der sozialistischen Partei zusammengeschlagen. Kurz darauf ein Brief vom großen Philippe Sollers. Er solle den »antisemitischen Scheiß« sein lassen und lieber etwa über die Fliege schreiben, die er trägt, sein Markenzeichen. In »Le Vingtseptième livre«, dem Vorwort zu seinem 2005 neuaufgelegten Debütroman, Le Bonheur, das als Brief an Houellebecq daherkommt, lässt Nabe sein Verhältnis zum Kollegen und ehemaligen Nachbarn Revue passieren. Houellebecqs Anfänge waren mehr als bescheiden, was Nabe nicht zu erwähnen versäumt. »Über Jahre galtest du bei allen als das Allerletzte, ein jämmerlicher neurotischer Spießer, der nichts zustande bringt als ein paar harmlose Gedichte über den Blues des weißen Mannes, der nicht weiß, was er im Liberalismus machen soll.« Der typische Houellebecq-Leser tauche in die Romane ein, als »nähme er ein schmutziges Bad, in das der Autor jahrelang gepisst« hat. Nicht zu heiß und nicht zu kalt, die obligatorischen Presseeklats sorgen für den nötigen Schaum. Nabes Egomanie wird von der Einsicht in die eigene Beschränktheit gezügelt und trotz der obsessiven Ansprache, trotz der ungeheuren Dreistigkeiten, die dieser Brief enthält, nimmt man ihm ab, dass er Houellebecq den Erfolg gönnt. Es sei schon ganz recht, dass nicht er, Nabe, zum größten Schriftsteller seine Generation avanciert sei.

So sehr Houellebecq ins Licht der Öffentlichkeit drängt, um sein jeweils neuestes Buch zu promoten – mehr als einmal gelang es Flammarion, Houellebecqs Verlag, alle anderen Neuerscheinungen des französischen Bücherherbsts zu unwichtigen Nebenschauplätzen zu degradieren –, so zurückgezogen lebt er für den Rest der Zeit. Das Interesse an seiner Person wird indes nicht geringer. Man versucht, aus dem Alltag von Houellebecqs Figuren auf den Lebenswandel ihres Urhebers zu schließen. Die Romane dienen als Nährboden für diese Mutmaßungen, und wenn sich andere Autoren ihrer annehmen, dann kommt es vor, dass sie wieder in den Aggregatzustand des Romans zurückkehren. Man könnte also fast von einem geschlossenen Kreislauf von Intertextualität sprechen, in den die Realität nur manchmal einbricht. Houellebecq hat prinzipiell nichts gegen diese Vorgehensweise: Wer sich einen Reim auf ihn machen wolle, der solle seine Bücher lesen, am besten in der Reihenfolge ihres Erscheinens, das wäre ideal. Sein Leben hingegen: eine denkbar schlechte Quelle.

Pierre Mérots Roman Arkansas, 2008 erschienen, wahrt größtmögliche Nähe zu Houellebecqs Büchern, indem er an deren Textoberfläche klebt. Houellebecq wird darin zu François Court, der im Buch meist Kurtz genannt wird und als erfolgreicher Autor in Spanien residiert. In Rückblenden diktiert ein alter Bekannter von Kurtz, der kranke Schriftsteller Franz Traum, seinem Protégé Baragouin seine Erinnerungen an die bizarren Geschehnisse auf dem spanischen Anwesen, das Kurtz ganz nach seinen Vorstellungen errichten ließ. Ein libertäres Paradies sollte dort entstehen. Kurtz, der seine Zigarette zwischen Ring und Mittelfinger zu halten pflegt, verliert sich in einem Strudel aus unmotiviertem Sex und apokalyptischer Gewalt, die Arkansas in eine infernalische Todeszone verwandelt. Im letzten Kapitel lässt Mérot die Katze aus dem Sack und verrät, was es mit dieser literarischen Versuchsanordnung auf sich hat. Sie offenbart sich als Spätfolge eines lächerlichen Hahnenkampfes, der gegen Ende des letzten Jahrhunderts begann und bei dem sich alle Beteiligten so lange gewaltig aufplusterten, bis feststand, wer denn nun als der französische Bret Easton Ellis die Arena verlassen würde. Auch Mérot gehörte zu den Kombattanten, doch in Arkansas änderte er seine Taktik und bezichtigte Houellebecq, selbst in den abstoßendsten Tiefen seiner Vorstellungskraft ein Copycat zu sein, ein bloßer Epigone des Autors von American Psycho.

Mérot hatte sich bereits zuvor an Houellebecq abgearbeitet, dem er in den neunziger Jahren freundschaftlich verbunden war. Zu jener Zeit arbeitete er für den Verlag La Différence, bei dem Houellebecq seine ersten Texte veröffentlichte. In Mérots preisgekröntem Buch Mammifères (2003) begegnet dem Leser ein Bruno Michel, der Name ein Hybrid der beiden Hauptfiguren aus Houellebecqs Elementarteilchen. Bruno Michel ist eine zynische und ruhmsüchtige Heulsuse. Er kommt nicht darüber hinweg, von seiner Mutter vernachlässigt worden zu sein und leitet daraus nun ex negativo seine Existenzberechtigung als Autor ab. Nur als Rockstar hätte Michel mehr Frauen haben können, aber er wusste, dass er dafür zu hässlich war. Die Herabsetzung des Charakters lässt sich vom neidischen Beäugen der Auflagenzahlen nicht trennen. In Mérots 2005 erschienenen Roman L’Irréaliste empfiehlt ein betrunkener Verleger seinem Schützling, von Houellebecq zu lernen, wie man Bücher schreibt, die sich gut verkaufen. Krude muss es sein, an ungewöhnlichen Schauplätzen sollte es spielen, und auf keinen Fall kann man auf die Sexszenen verzichten, die den Aufenthalt dort überhaupt erst lohnenswert erscheinen lassen.

»Klinik und Pathos« seien die Hauptwerkzeuge seiner Beschreibungskunst, meinte Houellebecq selbst in einem Interview. Diesem Ansatz bleibt er treu, egal ob es um die Großtendenzen der Gegenwart oder einen Handjob geht. Es kommt vor, dass die Schilderung der anatomischen Details einer Eichel mit dem Zwitschern der Schwalben endet, so als wolle die Natur selbst die Ejakulation orchestrieren. Kein Wunder, dass die Sexszenen in Houellebecqs Büchern zur Steilvorlage für zahlreiche Pastiches geworden sind. Sex und Suff und Saftlosigkeit sind in der Tat so präsent in Houellebecqs Texten, dass es anderen Autoren ein Leichtes ist, sein Werk darauf zu reduzieren, ja in ihnen geradezu das Wesen seines Schreibens zu erkennen, das als unmittelbar erkennbares Versatzstück in die eigenen Romane eingebaut werden kann. Trotzdem: Der Effekt nutzt sich ab, sobald die Lust an der fiesen, sich für unglaublich präzise haltenden Beobachtung verpufft ist.

In Arkansas steckt dahinter der Vorwurf der persönlichen und genealogischen Undankbarkeit: Houellebecq weiß nicht mehr, wo er literarisch hergekommen ist und wem er seinen Durchbruch zu verdanken hat. Ob die Kameradschaft zwischen Traum und Baragouin wirklich als Gegenideal taugt, darf getrost bezweifelt werden. Es bleibt letztlich doch eine versoffene, unendlich schwülstige Männerfreundschaft, die sich wacker um die Weitergabe des literarischen Erbes bemüht. Die beiden Freunde machen Kurtz für die Verflachung der Sprache verantwortlich, die er in seinen Werken abbildet und nobilitiert. Zu den beklagenswerten Opfern dieser »meckernden Tyrannei des Realismus« gehöre der sprachliche und inhaltliche Einfallsreichtum. Was Traum und Baragouin selbst bewerkstelligen, wenn sie nicht gerade Houellebecqs Stil parodieren, erinnert eher an elaborierte Likörpralinen: überzuckert, überkandidelt, irgendwann nur noch unappetitlich.

 

 

Schließlich hatte Houellebecq genug davon, ständig in den Büchern der anderen über die Klinge zu springen. Wenn schon sterben, dann lieber gleich von eigener Autorenhand (ohne dass es Selbstmord wäre). Mérots Arkansas fand er schrecklich, wie er Bernard-Henri Lévy im Briefwechsel Volksfeinde mitteilte. In Karte und Gebiet wollte er zeigen, wie man es besser macht. Als Houellebecq sein Alter Ego im zweiten Kapitel des zweiten Teils einführt, hört der Künstler Jed Martin dem Monolog des zu jener Zeit in Irland lebenden Schriftstellers aufmerksam zu und traut seinen Ohren kaum: Was Houellebecq da von sich gebe, klinge einfach zu sehr nach den allzubekannten Stories. »Ich habe den Eindruck, Sie spielen hier nur Ihre Rolle«, entfährt es ihm. Später wird Houellebecq entsetzlich entstellt aufgefunden, Maden weiden sich an seinem Leichnam oder dem, was davon übrigblieb.

Waren es Houellebecqs literarische Konkurrenten? Seine Verlegerin wiegelt ab. Die hätten für so etwas nicht den Schneid, die Tötungsfantasien werden zu Papier gebracht, zu mehr reiche es bei Schriftstellern ohnehin nicht. Richtig ans Herz wächst die Figur Houellebecq ihrem Autor erst während der Beerdigung, einem seiner absoluten Lieblingssujets. Feuer- oder Erdbestattung, im Garten oder auf dem Friedhof, in der Kirche oder einem anonymen Krematorium. Houellebecq hat im Lauf seiner Karriere fast alle Varianten durchgespielt. Bei seiner Beerdigung gibt es ein Problem mit dem Sarg. Seine Überreste waren dermaßen zerfetzt, dass sich das Bestattungsunternehmen zum Entsetzen der Trauergäste – aber gemäß dem Gebot der ökonomischen Vernunft – für einen Kindersarg entschieden hat.

In den letzten Jahren hat Houellebecq dieses Spiel durch Filmauftritte noch weiter getrieben. Als er 2009 zu einer Lesung nicht auftauchte, schlossen einige sogar eine Entführung durch Al-Qaida nicht aus. Die Hysterie inspirierte den Regisseur Guillaume Nicloux zum Drehbuch für seine »Doku-Fiktion« Die Entführung des Michel Houellebecq (2014). Das Kidnapping geht ohne großes Drama über die Bühne, am Zielort, einem von einem älteren Ehepaar bewohnten, gemütlich eingerichteten Einfamilienhaus, entspinnen sich zwischen den Entführern, drei liebenswerten Kleinkriminellen, und dem berühmten Autor schnell Gespräche. Sie glauben, mehr über den Schriftsteller und sein Leben zu wissen als er selbst, schließlich sei er eine Person des öffentlichen Interesses, über die sich mühelos so einiges in Erfahrung bringen lässt.

»An der Biografie ist alles falsch!«, empört sich Houellebecq. [1. Gemeint ist Denis Demonpion, Michel Houellebecq. Die unautorisierte Biografie. Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2006. Houellebecq weigerte sich, mit Demonpion zu sprechen, und machte ihm stattdessen ein Gegenangebot. Er würde dem Buch sein Imprimatur geben unter der Bedingung, dass die veröffentlichte Fassung Houellebecqs Kommentare zu Demonpions Recherchen als Randbemerkungen aufführt. Demonpion fürchtete Houellebecqs Häme, lehnte ab und machte sich allein an die Arbeit. Über das fertige Resultat geriet Houellebecq derart in Rage, dass er, um Demonpions Version nicht unwidersprochen stehen zu lassen, Mourir, eine literarische Autobiografie, ins Netz stellte, die dann 2005 in der Zeitschrift Ligne de risque veröff entlicht wurde.] Mehr noch: Vom Kokon der filmischen Fiktion geschützt, kann er ein für alle Mal klarstellen, seine Romane seien keine autobiografischen Texte. Houellebecq meint es ernst, denn es ist gerade die transmediale Vervielfältigung seiner Persona, die ihm die Möglichkeit gibt, hinter seinem Werk zu verschwinden, sein Verschwinden also nach eigenen Maßgaben zu organisieren, so dass die drei Entführer, nachdem eine Lösegeldforderung noch immer auf sich warten lässt, irgendwann sogar argwöhnen, Houellebecq könnte die eigene Entführung selbst eingefädelt haben.

 

Ein schockierend progressiver Autor

Als Le Monde 2005 ein großes Porträt Houellebecqs vorbereitete, wollte der sich partout nicht fotografieren lassen und bestand darauf, aus Spanien ein Selbstporträt zu schicken. Das Foto zeigt Houellebecq vor einem knallroten Hintergrund, er trägt ein ärmelloses schwarzes Top, dazu eine glänzende weiße Polyester-Jogginghose. In der Mitte ein Schreibtisch, auf dem ein Laptop steht. An diesem Laptop habe er jahrelang einsam an Die Möglichkeit einer Insel gefeilt. Nur zwei weitere Texte sind in dieser Zeit entstanden, einer davon ein Vorwort zu einer Neufassung von Auguste Comtes Théorie générale de la religion. Was Houellebecq politisch und moralisch verdächtig macht, was ihm den Ruf einbrachte, ein Reaktionär zu sein, wurde oft genug herausgearbeitet: Anti-Individualismus, Hass auf 1968, Misogynie, Rassismus, Islamphobie. Wenn er dennoch prahlt, ein »schockierend progressiver« Autor zu sein, lässt sich das nur mit dem Einfluss Comtes erklären.

Comte, der Schüler und Sekretär Saint-Simons, der 1824 mit seinem Meister brach, erhoffte sich von Wissenschaft und Technik eine »allgemeine Revolution des menschlichen Geistes«. In Préliminaires au positivisme kartografiert Houellebecq die Endmoränen eines metaphysischen Zeitalters, dessen unmittelbares Ende Comte schon zu Lebzeiten bevorstehen sah. Houellebecq bewundert Comte für seine ontologische Sparsamkeit. Hypothesen werden experimentell überprüft, funktionale Gesetze daraus abgeleitet, die Zahl der in der Welt befindlichen Objekte ist überschaubar. Die Kirche des Subjekts bleibt im Dorf der Wissenschaften – für Comte ist die Psychologie nur als Teilwissenschaft der Tierphysiologie zulässig –, Fragen nach vermeintlichen Noumena sind Zeitverschwendung. Man muss sich Michel Djerzinski, den Molekularbiologen mit Faible für Quantenmechanik aus Elementarteilchen, als gelehrigen Schüler Comtes vorstellen. Während die Philosophie der Gesellschaft ihre Probleme vorgibt, sind Wissenschaft und Technik für die Lösungen zuständig, was Antworten auf religiöse Fragen und die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ausdrücklich einschließt.

Wohl niemand in der französischen Gegenwartsliteratur führt die comteanische Dimension im Werk Houellebecqs so konsequent weiter wie der 1980 geborene Aurélien Bellanger. Schon im Philosophiestudium zog es ihn wie viele seiner Altersgenossen zur Science-Fiction als Textort, an dem die großen ontologischen Fragen verhandelt werden können. [1. Im Rückblick betrachtet, erscheint der Sammelband Matrix, machine philosophique (2003), der den Blockbuster der Wachowskis unter metaphysischen Gesichtspunkten untersuchte, wie der Urknall dieser thematischen und personellen Konstellation. Unter den Autoren fanden sich die wichtigsten Schüler des Philosophen Alain Badiou (der selbst im Band vertreten war): Quentin Meillassoux, Patrice Maniglier, David Rabouin, Élie During. Zu nennen wären außerdem Medhi Belhac Kassem und der an der Universität Lyon lehrende Philosoph Tristan Garcia, wie Bellanger in den 1980ern geboren, der sich seit 2007 auch als Romanautor hervorgetan hat.] Seine Dissertation zur »Metaphysik möglicher Individuen« brach er ab und begann, da er von der Literatur nicht lassen wollte, eine Buchhändlerlehre.

Aus dieser Zeit stammt Bellangers Essay Houellebecq écrivain romantique (2010), in dem der im Titel Genannte für etwas gerühmt wurde, das Marc-Édouard Nabe und Pierre Mérot ihm absprachen: seinen Stil. Als Vorbild gelten dabei nicht nur die großen Literaten, sondern auch Autoren aus den Naturwissenschaften wie der Mikrobiologe Louis Pasteur, der Wissenschaftshistoriker und Chemiker Marcelin Berthelot und der Mediziner und Tierphysiologe Claude Bernard (dem ein Pudel in Ausweitung der Kampfzone höchste Anerkennung zollt): Deren Schriften, da stimmt Bellanger Houellebecq völlig zu, seien »absolute Höhepunkte der Prosa«. Allerdings wähle Houellebecq, der »Zarathustra der Mittelschicht«, ein für seine Zwecke adäquateres Register: den Duktus populärwissenschaftlicher Zeitschriften. P. M. als Paradigma.

Wikipedia hat diese Diktion universalisiert. Schon 1991 bekannte sich Houellebecq zur Enzyklopädie als historisch verbürgtem literarischem Rohstoff. Lovecraft, so Houellebecq über den von ihm verehrten Autor, betrachtete das Vokabular der Wissenschaft als »einzigartiges Stimulans« der poetischen Vorstellungskraft. Lexikoneinträge sind inhaltlich präzise, mit zahlreichen Beispielen angereichert, gegebenenfalls verweisen sie auf theoretische Grundlagen. All das entfalte eine geradezu »berauschende und ekstatische« Wirkung. Rührt man an die Frage von Houellebecqs Stil, darf man seine Satzzeichen nicht übergehen. Dieser Autor ist ein bekennender Semikolonist. Dominique Noguez hat 2003 vorgerechnet, dass bei Houellebecq auf 635 Zeichen ein Semikolon kommt. Zum Vergleich: In Sartres Das Sein und das Nichts sind es 3000 Zeichen, in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit immerhin 1075. Houellebecq vertraut wie kein Zweiter auf die minimal ordnende, Raum für Inkongruität schaffende, dabei alles im Fluss haltende und Heterogenes eben nicht nivellierende Kraft des Semikolons.

 

Staatsfuturismus

Houellebecq setzt zum Abgesang auf das französische Industriezeitalter an, das von Saint-Simon, seinen Schülern und Zeitgenossen eingeläutet wurde. Bellanger fügt dem seine ganz eigene Coda hinzu und lässt den französischen Industrialismus mit seinen letzten großen Erfolgen ausklingen: dem Minitel und dem TGV. In seinem 2012 erschienenen Debütroman Théorie de l’information (2012) zeichnet Bellanger den Aufstieg Pascal Ertangers vom Einzelgänger zum mächtigen Chef eines Mobilfunkkonzerns nach. Die Figur ist dem Unternehmer Xavier Niel frei nachempfunden und ein Produkt der goldenen Ära der französischen Telekommunikationsindustrie.Nie war Frankreich so im Bann der digitalen Zukunft wie in den achtziger Jahren, das gesamte Jahrzehnt stand im Zeichen eines vom Wahlsieg Mitterands begünstigten Staatsfuturismus. Auch die Geschichte der Informationsgesellschaft wird von den Siegern geschrieben. An Literatur zu den Ursprüngen der libertären Kultur des Silicon Valley in der Gegenkultur von ’68 mangelt es nicht. Im Vergleich dazu ist die etatistische französische Spielart der »Telematik« international dem Vergessen anheimgefallen.

Jean-Yves Fréhaut, der EDV-Techniker aus Ausweitung der Kampfzone, verkörpert den dazugehörigen Beamtentypus: Stammwähler der Sozialisten, Abonnent der Zeitschrift Micro-Systèmes, angetrieben vom festen Glauben, dass die Gesellschaft eine Art kollektives Gehirn sei: Je dichter die informationelle Vernetzung, desto mehr »Freiheitsgrade« stehen dem Einzelnen zur Verfügung. In den späten neunziger Jahren konnte allerdings niemand mehr leugnen, dass der französischen Minitel-Kultur Ungemach von Seiten der US-amerikanischen Konkurrenten drohte. Die ganze Tragik einer zentralistisch organisierten Technologiepolitik kam zum Vorschein. Ein hochrangiger Beamter genügt, um wie in Bellangers Théorie de l’information das bisher akkumulierte Wissens- und Infrastrukturkapital zu verspielen. In Reaktion auf das von der Clinton-Regierung im Wahlkampf 1993 lancierte »High Performance Computing and Communications« wollte man in Frankreich andere Akzente setzen. Bellanger insinuiert, dass der mit einem Hochgeschwindigkeitsnetz assoziierte Informationsfluss den französischen Bürokraten Angst machte, ihnen zu anarchisch erschien. Das Internet hielten viele für eine Sackgasse, Multimedia (im Rahmen eines erweiterten Minitel) galt als die Zukunft. Frankreich verpasste den Anschluss und merkte es zunächst nicht einmal.

 

Der Wert des Plagiats

Es war ein Blogger, Vincent Glad, der darauf hinwies, dass einige Textstellen in Karte und Gebiet Wort für Wort aus Wikipedia abgeschrieben waren. Houellebecq schwieg zunächst, dann war er beleidigt, um schließlich in einer Erklärung auf große literarische Vorläufer wie Borges und Perec zu verweisen, die offizielle und öffentliche Dokumente – teilweise nahtlos, teilweise um Unstimmigkeiten zu provozieren – in ihre Fiktionen einfügten. Houellebecqs Verlag Flammarion erwies seinem Starautor mit einer kleinlauten Pressemitteilung einen Bärendienst. In der 2011 erschienenen Taschenbuchausgabe findet sich dann ein entsprechender Quellennachweis in Form einer Danksagung.

Glad selbst hob den literarischen Wert des Plagiats hervor. Übrigens keine sonderlich originelle Idee, wie er süffisant bemerkte, schon 1870 erteilte Lautréamont dem Abschreiben die Absolution: »Das Plagiat ist notwendig. Es ist im Fortschritt inbegriffen.« Nur so lassen sich die eigenen falschen Ideen austreiben und durch richtig Fremdgedachtes ersetzen. Natürlich ist Wikipedia ein Steinbruch, aus dem Autoren sich holen, was sie brauchen. Für Houellebecq handelt es sich bei den Fundstücken um so etwas wie Seltene Erden, die ihm aufgrund ihrer Nichtliterarizität umso wertvoller erscheinen. Aber beim Kopieren bleibt es nicht: Dem Fernsehmoderator Jean-Pierre Pernaut dichtet Houellebecq einen ganzen Wikipedia-Eintrag an, der nur in Karte und Gebiet existiert und sich einen dithyrambischen Ton gestattet, den im echten Leben jeder Administrator unterbunden hätte. Warum also das ganze Palaver? Das bisschen Abschreiben wird schon niemanden umbringen.

Denkste: In Christophe Carpentiers La Permanence des rêves (2015) kostet der Hickhack ums Plagiat Menschenleben. Der Roman spürt der verstörenden Faszination nach, die der »Körperkünstler« Thomas Proudhomme, ein »Stumpfmensch«, der sich sämtliche Gliedmaßen amputieren, die Augen ausstechen sowie Nase, Trommelfell und Zunge entfernen ließ, auf all diejenigen ausübt, die sich seinem Anblick aussetzen. Vor allem der in Princeton lehrende Dermatologe Humphrey Winock kann von dem Fall nicht lassen, und sei es nur, um die Schicksalsschläge zu vergessen, die er selbst erlitten hat. Es stellt sich heraus, dass Winock 2011 seinen Sohn William verloren hat.

In einem Nebenstrang der Erzählung erfährt man, dass William Winock ein fanatischer Houellebecq-Leser war. Seine Erkennungszeichen waren die gleichen wie die seines Idols: ein Parka der Marke Camel und die klobigen Schuhe von Paraboot, zwei der drei in Sachen Produktqualität konkurrenzlosen Glanzleistungen des Kapitalismus, in deren Genuss Houellebecq kommen durfte. Einmal gesteht William seinen Eltern, dass er sich im Grunde wie eine Figur aus Houellebecqs Romanen fühle. Er beschließt, dem jüngst aus dem Steuerexil nach Paris zurückgekehrten Autor einen Besuch abzustatten – just in dem Moment, als auch in der Fiktion die Wikipedia-Plagiate durch einen Blogger aufgedeckt werden. Da brennt bei William Winock eine Sicherung durch. Vor dem Gebäude eines Radiosenders fängt er den Blogger ab, der sich dort in einer Sendung zu Fragen des Urheberrechts äußern soll, und tötet ihn mit mehreren Messerstichen. Einige Tage später wird William erhängt in seiner Zelle aufgefunden. Von einem Journalisten auf die schrecklichen Ereignisse angesprochen, gibt sich der fiktive Houellebecq wortkarg. Das komme alles zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt, denn er trauere gerade um seinen verstorbenen Hund.

Anders als Carpentier interessiert sich Bellanger nicht auf einer inhaltlichen, sondern auf einer formalen Ebene für Houellebecqs Hang zum Lexikalischen. Er hält es für ausgeschlossen, sich als literarischer Autor nicht mit diesem monumentalen und ständig wachsenden Textkorpus auseinanderzusetzen: Wohin es den Roman auch treibt, er wird überall auf Wikipedia stoßen. Das Ende des klassischen auktorialen Erzählers mache den Weg frei für den »Wikipedia-Erzähler«. Es ist die Stimme des vielseitig interessierten Laien. Dieser Wikipedia-Erzähler erschließt die Welt, teilt dem Leser alle Informationen mit, die für notwendig gehalten werden könnten, und errichtet dadurch ein Bollwerk gegen die Versuchung, selbst nochmal außerhalb des Romans nachsehen zu wollen.

2008 machten Beamte der brasilianischen Indianerbehörde Funai aus einem Helikopter heraus Fotos eines, nein, des wohl letzten unentdeckten Stamms im Amazonas, die sofort um die Welt gingen. Auch wenn sich die Mitarbeiter der Indianerschutzbehörde weigerten, die Koordinaten der Siedlung öffentlich zu machen, bedeuteten diese Bilder wohl das endgültige Ende der »Idee eines möglichen Sieges des Wilden«, wie es bei Lévi-Strauss hieß. Popularisierte Stewart Brand in seinem Whole Earth Catalog das erste planetarische Selfie, auf dem sich die Erde aus dem All betrachtet in ihrer Gänze offenbarte, so wirkten die Bilder aus dem brasilianischen Dschungel wie eine nachdenkliche Fußnote: Das ist die Menschheit, die wir waren – und die wir hätten sein können.[1. Aurélian Bellanger lässt seinen zweiten Roman L’Aménagement du territoire (2014) mit einem atemberaubenden Zoom beginnen, der mit der Aufnahme des blauen Planeten beginnt und ganz allmählich die Bretagne heranholt, in der die Verlegung einer TGV-Trasse die örtliche Bevölkerung gegeneinander aufbringt.]

In einem im Mai 2015 in Le Monde erschienenen Essay bringt Bellanger die Literatur in Stellung gegen diese Vereinfachungen, die so romantisierend wie herablassend sind. Die Begeisterung, mit der er die aktuellen ethnologischen Debatten in Frankreich verfolgt, ist ansteckend. Ob es sich um Philippe Descolas Versuche handelt, die Vielfalt der einen Menschheit in einem so originellen wie intuitiv einsichtigen Schema plausibel zu machen, oder um Bruno Latours paradoxes Diktum, wir seien niemals wirklich modern gewesen. Was Bellanger an Latour reizt, ist dessen Verzagen. Latour zufolge traut sich der Ethnologe von heute nicht mehr zu, die Gesellschaft in ihrer Gänze beobachten zu können. Doch für Bellanger gibt es diese ethnologischen Studien zur Entstehung der Gegenwart längst. Er nennt sie Romane.