Merkur, Nr. 715, Dezember 2008

Für neue Leben

von David Wagner

 

Der Anruf kommt um kurz nach zwei. Ich habe zu Mittag gegessen und sitze in meinem Arbeitszimmer, es ist der 31. Juli 2007, und der Mann am Telefon sagt: Herr W., wir haben eine Leber für Sie. Auf diesen Anruf, ich habe ihn gefürchtet und ersehnt, habe ich gewartet. Seinetwegen habe ich mein Telefon seit mehr als zwei Jahren nicht mehr ausgestellt. Vier Minuten später stehe ich unten vor dem Haus auf der Straße und warte auf den Krankenwagen.

Es gibt Parkplätze, die Stadt ist leer, Sommerferien in Berlin. Wahllos habe ich, ich bin gar nicht gut organisiert, ich hatte nicht alles perfekt gepackt griffbereit neben der Tür stehen, ein paar Sachen in meine Tasche geworfen. Das Wichtigste, die Hausschuhe, habe ich wieder einmal vergessen. Als die Physiotherapeutin der Intensivstation mich drei Tage später zwingt, zum ersten Mal wieder aufzustehen − Aufstehen ist das Wichtigste, sagt der Arzt −, trage ich, was ziemlich komisch aussieht, Gummihandschuhe an den Füßen. Ich muss selbst darüber lachen, aber Lachen tut fürchterlich weh.

Der Krankenwagen ist schon einmal gekommen, an einem Abend im April 2006. Mit Christiane Rösinger hatte ich im Café Haliflor in der Schwedter Straße gesessen, und obwohl es von dort nur dreihundert Meter nach Hause sind, hatte sie mich im Auto mitgenommen und vor der Haustür abgesetzt. Damals schloss ich die Haustür auf, ging nach oben in die Wohnung, ich war allein und setzte mich in die Küche, öffnete ein Glas Apfelmus, das ich im Kühlschrank fand und begann es auszulöffeln. Ich las in der Zeitung, die noch auf dem Tisch lag, hatte plötzlich aber ein sonderbares Gefühl im Hals. Habe ich mich verschluckt? An Apfelmus? Ich nahm noch einen Löffel, aber es schmeckte mir nicht mehr. Ohne bestimmte Absicht stand ich auf und ging ins Bad, ich sah in den Spiegel und sah nichts Besonderes, ich sah aus wie immer, ein wenig blass vielleicht. Weil ich nun aber schon im Bad war, wollte ich mir gleich die Zähne putzen, ich will ja, dachte ich, gleich ins Bett − wusste im selben Augenblick aber, dass ich mich gleich übergeben musste. Ich drehte mich um und beugte mich über die Badewanne, da schwappte ein riesiger Schwall aus mir heraus. Als ich die Augen öffnete − ich glaube, es ist ein Reflex, beim Erbrechen so wie beim Niesen die Augen zu schließen −, wunderte ich mich, weil die Badewanne voller Blut war. Langsam lief es Richtung Abfluss.

Ich wusste, was das bedeutete. B. und die anderen Ärzte hatten mich oft genug, seit Jahren schon gewarnt. In diesem Augenblick weiß ich, dass meine Ösophagusvarizen, Ösophagusvarizen sind Krampfadern in der Speiseröhre, geplatzt sind und ich mit Blut volllaufe. Ich weiß, dass ich jetzt nicht ohnmächtig werden darf. Ich muss den Notarzt rufen. Trotzdem denke ich, ich denke sehr langsam, dass ich auch mit einem Taxi in die Klinik fahren könnte, entscheide mich dann aber doch für den Notarzt, ich will ja keinem Taxifahrer das Auto vollspucken. Ich sehe mich noch einmal sehr bleich im Spiegel und gehe ins Arbeitszimmer, wo das Telefon liegt. Es gelingt mir dann tatsächlich, den falschen Notruf anzurufen, statt 112 wähle ich 110 und höre eine leicht genervt klingende Stimme, die mir erklärt, für einen Krankenwagen müsse ich 112 wählen. Verzeihung, ich wollte nicht stören. Ich lege wieder auf und überlege, ob das ein Zeichen gewesen sein könnte und ich vielleicht lieber hierbleiben soll. Nein, sage ich mir und beschließe, die 112 zu wählen. Mir wird gesagt, ich solle die Wohnungstür öffnen und offen stehen lassen, ich entscheide mich dann aber dafür, ziehe meine Schuhe und meinen Mantel wieder an, dem Arzt entgegenzugehen. Ich weiß ja, ich muss ins Krankenhaus. Ich greife, ich weiß nicht genau warum, nach meiner Aktenmappe − ich will wohl meine unfertigen Manuskripte nicht allein lassen − und treffe den Arzt und seine beiden Begleiter im Treppenhaus. Ich sage ich bin’s, ich muss ins Krankenhaus, und merke, dass sie mich, sie haben das Blut in der Badewanne nicht gesehen, für einen Simulanten halten.

Ich bin zwölf Jahre alt, wir sind im Skiurlaub, und ich habe Bauchschmerzen. Ein zufällig anwesender Arzt entdeckt, dass ich eine stark vergrößerte Leber habe. Mein Hausarzt diagnostiziert eine Leberentzündung, weiß allerdings nicht welche. Es folgt mein erster Monat im Krankenhaus, den Ärzten dort wird allerdings auch nicht klar, was ich habe. Die Leber ist entzündet, es handelt sich aber nicht um eine virale Hepatitis A oder B, habe aber auch keine Hepatitis Non-A-Non-B, wie die verschiedenen Formen der Hepatitis C damals, Anfang der achtziger Jahre, noch heißen. Schließlich, ich liege mittlerweile in der Universitäts-Kinderklinik und bin ein paar Mal punktiert worden, wird eine Autoimmunhepatitis diagnostiziert. Mein Immunsystem hält körpereigene Leberzellen für fremdes Gewebe und bildet autoimmune Antikörper, die eine Leberentzündung verursachen. Warum ein Immunsystem sich so verhält, ist nicht bekannt. Es gibt bis heute keine schlüssige Erklärung.

Meine Leber ist kaputt. Ich habe, fast noch ein Kind, eine Leber wie nach vierzig Jahren Alkohol, kann aber auch mit halber Leberleistung und mäßigen Leberwerten leben. Die Werte dürfen nur nicht schlechter werden. Es beginnt eine Therapie, die Cortison und ein Immunsuppressivum kombiniert. Die Entzündung wird gedämpft, die Leberzirrhose verlangsamt, dann aufgehalten. Es geht mir gut. Es geht mir gut, bis die unendlichen Probleme mit den Nebenwirkungen der Medikamente anfangen. Vom Cortison bekomme ich ein aufgedunsenes Vollmondgesicht, der Teenager, der ich dann bin, sieht aus wie ein Hamster, im Gesicht dicker als Helmut Kohl. Seine Haut wird dünn, die Knochen werden weich. Er hat Osteoporose wie eine alte Frau und bekommt ständig Sehnenscheidenentzündungen und blaue Flecken von der leichtesten Berührung. Er entwickelt ein Glaukom oder Grünen Star, weil das Cortison den Augeninnendruck erhöht, wogegen Augentropfen genommen werden müssen, die seine Pupillen klein wie Nadelspitzen werden lassen. Er sieht kaum mehr etwas und sieht aus, als wäre er auf Heroin. Er wird kurzsichtig, bekommt eine Brille und Dehnungsstreifen auf der Haut wie nach einer dritten Schwangerschaft. Er nimmt immer mehr Medikamente gegen die Nebenwirkungen der Medikamente, die wiederum ihre Nebenwirkungen haben. Egal. Nur an den Nebenwirkungen merke ich, dass ich krank bin. Die Leber, mein weißer Wal, liegt groß und ruhig und rundgeschwollen unter meinem rechten Rippenbogen. Sie steht deutlich hervor, aber ich spüre sie nicht. Ihre Leistung sinkt nur langsam.

Ich stehe an der Straße und warte auf den Krankenwagen, der mich zu meiner neuen Leber fahren soll. Ich warte schon mindestens eine Minute. Ich rufe das Transplantationsbüro an und frage, wo der Wagen bleibe. Ist sicher gleich da, beruhigt mich die Stimme. Ich telefoniere mit K. und schicke dieselbe SMS an die fünf oder sechs Personen, von denen ich mich für den Fall des Falles verabschiedet haben möchte. Ich tippe »Komme jetzt ins Krankenhaus, für neue Leber«. Tatsächlich aber sende ich, das sehe ich ein paar Wochen später, als ich die in meinem Telefon in dem Ordner für Gesendete Nachrichten abgelegten Einträge durchsehe, »Komme jetzt ins Krankenhaus, für neue Leben«. Ich telefoniere, bis der Krankenwagen ganz sommermüde, komm, süßer Tod, herangetuckert kommt. Die Beifahrertür geht auf und ein Mann, der alle Zeit der Welt zu haben scheint, öffnet die seitliche Schiebetür und begrüßt mich mit der Frage, ob ich denn zuzahlungsbefreit sei, wenn nicht, hätte er gern erstmal fünf Euro von mir. Ich steige ein und finde in meinem Portemonnaie einen verknitterten Fünf-Euro-Schein, mit dem ich dem Fährmann die Überfahrt bezahle. Dann erkundige ich mich vorsichtig, ob es eventuell ein wenig schneller ginge, mir sei Blaulicht versprochen worden.

Von Blaulicht stehe in ihrer Anweisung nichts, sagt der Beifahrer, und der Fahrer meint, keine Sorge, sind ja Ferien, ist ja kein Verkehr. Ich kenne die Strecke, die der Wagen nimmt. Ich bin sie oft gefahren. Links die Bernauer hinunter, dann durch den Wedding. Diesen Weg hat auch der Notarztwagen genommen, damals, in der Nacht im April, vor fast anderthalb Jahren. Damals, fällt mir jetzt ein, bildete ich mir ein, der Wagen hätte gar kein Dach, ich bildete mir ein, mit abgeschossenem Verdeck durch Flandern zu fahren − wahrscheinlich, weil wir über das Kopfsteinpflaster in der Graunstraße rollten. Der Notarzt wusste erst nicht viel mit mir anzufangen. Er sah sich meinen Notfallausweis an, und ich sagte, ich muss ins Virchow, Charité Campus Virchow. Ich berichtete von dem Blut in meiner Badewanne, von meiner Autoimmunhepatitis, den Ösophagusvarizen, der portalen Hypertension, dem Überdruck in den Gefäßen vor der kaputten Leber − da spürte ich den nächsten Schwall Blut, eine Hand bekam ich noch vor den Mund, da schoss das Blut mir wieder mit solchem Druck aus dem Mund, dass ich die drei Männer um mich herum und den halben Wagen vollspritzte. Eine Szene wie in einem Splatterfilm, nur dass es kein Kunstblut, sondern mein eigenes war. Der Notarzt, Blut lief ihm über die Brillengläser, legte einen Zugang und gab mir Kochsalzlösung, kurze Zeit später, ich sah die Wipfel der Straßenbäume und Sterne über dem Flandern meiner Phantasie, musste ich mich noch einmal übergeben, da lag ich schon und traf nur halb in eine durchsichtige Plastikkotztüte. Das Meiste ging auf den Boden, und ich wusste, wird die Blutung nicht bald gestoppt, bin ich bald tot.

Mit fünfzehn, sechzehn war es eine meiner Lieblingsphantasien, mir meine eigene Beerdigung vorzustellen. Ich stellte mir vor, einen Unfall, einen Bade- oder Bootsunfall zu inszenieren und zu verschwinden, meine Leiche sollte nicht gefunden werden. Der Laacher See, dort wollte ich ertrinken, gibt sie, so sollte es aussehen, nicht mehr her. Schließlich werde ich nach vergeblicher Suche für tot erklärt, es wird angenommen, meine Leiche läge in der tiefen Schlick- und Sumpfschicht am Grund des Sees, während ich mich über Spanien nach Lateinamerika absetze und nie mehr auftauche. Gleichzeitig aber, das war der Widerspruch dieser Phantasie, möchte ich unbedingt bei meiner Beerdigung dabeisein und aus einiger Entfernung und gut verkleidet beobachten, wie ein, mein leerer Sarg beigesetzt wird.

Als ich am nächsten Vormittag auf der Intensivstation aufwache, erfahre ich, dass es einem Arzt gelungen ist, die Varizenblutung zu stoppen. Er hat es geschafft, die aufgerissenen Krampfadern endoskopisch zu ligieren, das heißt, er konnte mir einen Schlauch in die Speiseröhre schieben und die blutenden Gefäße mit Gummiringen abklemmen. Ich habe Glück gehabt, es gibt diese Technik noch gar nicht so lange. Noch vor zwanzig Jahren konnte man bei solchen Blutungen fast gar nichts machen. Ich habe mehrere Liter Blut verloren, mein Hämoglobinwert liegt bei 3 g/dl, meine Leberwerte sind schlecht. Nach neun Tagen komme ich nach Hause, eine Woche später blute ich wieder. Wieder Intensivstation, wieder Ligatur, wieder zehn Tage Krankenhaus, diesmal, ich habe kaum noch Blut, bekomme ich Blutplasma. Die nächsten acht Monate − ich lerne langsam wieder laufen, nach vier Wochen schaffe ich es wieder bis zum Bäcker − muss ich alle drei Wochen für zwei, manchmal drei Tage in die Klinik, immer wieder werde ich endoskopiert und immer wieder werden neue Gummiringe gelegt. Meine Leberwerte sind, das liegt auch an dem Eiweißschock nach soviel Blut im Magen, unterirdisch. Ich brauche eine neue Leber.

Ich stehe schon auf der Liste, ich habe schon Wartezeit gesammelt. Im Jahr zuvor, 2005, habe ich zwei Wochen im Krankenhaus verbracht und bin evaluiert worden, zwei Wochen lang wurde jede erdenkliche Untersuchung gemacht, und alle zur Verfügung stehenden Bildgebungsverfahren − Röntgen, Sonographie, Magnetresonanztomographie − wurden eingesetzt, um meinen Körper darzustellen. Um am Tag X, wenn ich auf dem Tisch liege, zu wissen, wo und wie die Gefäße liegen und zu wissen, wie geschnitten werden muss.

Das T-Wort ist schon lange zuvor, Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal gefallen. Ich weiß, B. hat es mir immer wieder gesagt, auf lange Sicht komme ich nicht drumherum. Er hat mir auch prophezeit, dass es mir viel besser gehen werde. Ich will davon allerdings nichts hören. Ich will nicht, weil ich nicht weiß, wozu. Muss es unbedingt noch weitergehen? Muss ich weitermachen? Muss ich noch ein paar Bücher schreiben, die doch kaum einer liest? Oder bin ich, da ich nun mal da bin, verpflichtet dazubleiben? Für die, die einen noch brauchen? Noch ein paar Jahre? Die Leber macht immer mehr Probleme. Zu den Ösophagusvarizen ist das Wasser gekommen, ein paar Liter blähen meinen Bauch auf, ich habe eine sehr schlechte Blutgerinnung und bin immer öfter nur noch müde. Schwache Leberleistung ist die Ursache einer schleichenden Selbstvergiftung, weil Stoffwechselrückstände nichtmehr vollständig oder nur noch sehr langsam abgebaut werden und auf das Gehirn rückwirken. Immer öfter falle ich in enzephalopathische Zustände. Ich bin müde, habe nicht so gute Laune und bin mir manchmal nicht sicher, ob ich nun gerade wach bin oder schlafe und träume, oft weiß ich nicht, ob das jetzt Wirklichkeit ist oder nicht. Ein Zustand, der seinen ganz eigenen Reiz hätte − andere Menschen nehmen verbotene Substanzen und erreichen auch nicht viel mehr. Dazu kommt allerdings, dass ich jeden Tag, egal was passiert, egal wie aufregend, außergewöhnlich, langweilig oder belanglos der Tag ist, mindestens drei Mal Zeit finde, darüber nachzudenken, wie schön es doch wäre, jetzt tot zu sein. Wie schön es wäre, sich umzubringen, ins Wasser zu gehen, von einem Dach zu springen oder sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Wenn ich denn eine Pistole hätte. Und obwohl B. es mir sicher hundert Mal gesagt hat, kann oder will ich nicht verstehen, dass meine Verstimmungen und Suizidphantasien tatsächlich eine physiologische Ursache haben, meine kaputte Leber nämlich, die mich, obwohl ich ihr nie die Schuld daran gebe, ich bin ja froh, sie zu haben, zunehmend auch daran hindert, mich länger als eine dreiviertel Stunde zu konzentrieren und endlich aufzuraffen, den großen Roman des 21. Jahrhunderts zu schreiben. Ich arbeite an Texten, die ins Nirgendwo führen. An nicht so guten Tagen bewege ich mich in einer Art Halbtrance, an schlechten gehe ich gleich nach dem Aufstehen wieder ins Bett und sehe die Welt halbverschleiert durch meine Vorstellung tanzen. Und dann, kurz vor der Evaluation für die Transplantation, kommt B. mit einem Sonographiebefund und meint, es gebe da eine Anomalie im Lebergewebe. Das könnte, ganz sicher ließe sich das bei einer so zerstörten Leber −Mediziner sprechen von Mottenfraßnekrose − natürlich nicht sagen, ein hepatozelluläres Karzinom sein. Er meint, wir müssten uns beeilen. Ach, jetzt auch noch Leberkrebs? Da mag ich dann mal nicht dran glauben. Das ist mir einfach zu viel.

Der Beifahrer des Krankenwagens bringt mich, es ist der 31. Juli 2007 nachmittags, kurz vor oder kurz nach halb drei, auf die LTX-Station im siebten Stock von Haus 4. LTX ist das Krankenhauskürzel für Lebertransplantation. Noch hört es sich auch für mich an wie ein Flughafenkürzel, LTX müsste demnach irgendwo zwischen LAX und TXL, also zwischen Los Angeles und Tegel liegen. Am Eingang der Station muss ich, um nicht zu viele Keime in die Umgebungsluft abzugeben, einen Schutzkittel überziehen, dann führt man mich in mein Zimmer mit großem Fenster Richtung Osten. Ich sehe den Humboldthain, seine Flaktürme, das Linsenhochhaus an der Brunnenstraße, die Flutlichtmasten des Friedrich-Jahn-Sportparks, ja, ich sehe sogar, bilde ich mir jedenfalls ein, ich weiß ja, wohin ich schauen muss, um ihr die entsprechenden Dächer zuzuordnen, die Oderberger Straße. Vier oder fünf Personen in Keimschutzkitteln wuseln um mich herum. Eine von ihnen nimmt mir meine Brille, die Uhr meines Vaters, mein Portemonnaie und mein Telefon ab. Während ich mich ausziehe, beantworte ich die üblichen Fragen, seit wann besteht die Grunderkrankung, wann wurde zuletzt Blut abgenommen, hat sich an den Daten etwas geändert, tragen sie eine Zahnprothese. Ich unterschreibe alle Blätter und alle Einverständniserklärungen, die mir gereicht werden, gehe noch einmal auf die Toilette und ziehe ein OP-Hemd an. Blut wird mir abgenommen und Blut wird bestellt, ein zentraler Venenkatheter und ein arterieller Blutdruckmesser werden gelegt. Bauchdecke und Brustkorb werden mit einer gelb-grünlichen Flüssigkeit, die auf der Haut zurückbleibt, desinfiziert, Elektroden aufgeklebt. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich gegessen habe, sage ich. Na, wenn’s kein Schweinebraten war, höre ich den Arzt flachsen. Ich fühle mich auf sonderbar endgültige Weise wohl. Von mir aus könnte es jetzt überallhin gehen. Alle wirken hochkonzentriert und dabei doch entspannt, sie haben das schon oft gemacht. Hier in dieser Klinik haben sie es in den letzten zwanzig Jahren schon 2105 mal gemacht, die Nummer auf der Akte zu meiner Transplantation wird die 2106.

Meinen Körper habe ich abgegeben, der Rumpf mit Armen und Beinen hängt nur noch gerade so an meinem Wahrnehmungsapparat. Die verkabelte und verdrahtete Hardware, so ein schön-schiefes Bild, gehört nun den Ärzten. Ich habe keine Angst. In der OP-Schleuse begegne ich dem freundlichen Anästhesisten, er ist der Zaubermeister, der mich gleich verschwinden lassen wird. Später erinnere ich mich nur an seinen Schnurrbart und an ein kurzes, eigentlich lustiges Gespräch, das von meiner Hilflosigkeit und von dem, was er jetzt alles mit mir anstellen könnte, handelt. Er meint auch, dass ich von allem was folgt und dem Ende unseres Gesprächs nichts mehr mitbekommen werde. Recht hat er. Ich bin dann weg.

Ich bin weg und spüre gar nichts. Großes, tiefes Nichts. Ich bin nicht mehr da und habe im Nachhinein nur diese Vorstellung, die mehr Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp als einer echten Erinnerung ähnelt. Ich, aber warum sage ich »ich«, da liegt ja nur ein Körper, liege auf dem Tisch, und ich schaue aus einiger Entfernung zu. Meine Wahrnehmung hat ihren Ort nicht mehr oben an dem Körper, ich nehme eher die Position eines Assistenten ein. Ich bin einer von denen, die um diesen Körper herumstehen und eine Klammer halten dürfen. Mein Körper, ja, ich erkenne ihn, liegt auf dem Tisch, die Bauchdecke aufgeklappt, die Leber haben sie auf diesem Bild gerade herausgeschnitten. Und weit und breit ist kein Adler zu sehen. Als ich aufwache, neun Stunden oder ein Leben später, steht K. neben meinem Bett, ich liege wieder in dem Zimmer im siebten Stock, es ist Nacht, und die Stadt leuchtet vor dem Fenster. Ich bin high, und ich weiß es, ich habe mich noch nie so gut gefühlt. Ich bin wieder da.

Nach den neun anstrengendsten Tagen meines Lebens beginnt K. mich im Rollstuhl über das Klinikgelände zu schieben. Ich muss Handschuhe, Mundschutz und Einwegkittel tragen, zum Schutz vor den Keimen, die überall lauern. Wir lernen jeden noch so verborgenen Pfad zwischen Nordufer und Seestraße kennen. Immer öfter stehe ich auf und versuche ein paar Schritte zu gehen. Fünf Meter, zehn Meter. Zehn Meter können eine unglaubliche Entfernung sein. Am dritten Ausflugstag sticht mich eine Wespe ins Bein, kurioserweise gefällt mir der Schmerz, denn er lenkt von dem im Bauchbereich ab. Nach einer Woche schaffe ich es, eine Reise, alleine bis ins Bad. Nach drei Wochen und einem Tag im Krankenhaus darf ich wieder nach Hause. Ich kann, wenn auch nur unendlich langsam, die Treppe bis in den vierten Stock hinaufgehen und schaffe es vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, ins Bad und wieder zurück. Aufstehen fällt mir schwer. Eigentlich kann ich gar nicht aufstehen. Wenn ich liege, dann liege ich, denn meine Bauchmuskeln sind ja einmal quer durchgeschnitten worden. Mir fehlt der Galgen über dem Bett und sein Griff, der wie eine Triangel aussieht, an dem ich mich im Krankenhaus habe hochziehen und so viel leichter aufrichten können. Um aufzustehen, muss ich nun auf dem Rücken liegend die Knie anwinkeln, den Rumpf mit den Beinen anheben und mich mit den Ellenbogen Richtung Bettrand drücken, um dort die Füße auf den Boden zu bekommen. Ist das geschafft, kann ich mich mit den Armen hochdrücken. Auf dem Bauch kann ich erst neun Monate später wieder liegen. Um die große, sternförmige Narbe herum − die Chirurgen nennen sie den Mercedesstern − ist die Bauchdecke taub. Taub ist auch der Bauchnabel. Streiche ich dort mit dem Finger über die Haut, wundere ich mich jedes Mal, weil ich doch erwarte, es zu spüren, auch die Haut der Bauchdecke müsste doch fühlen, dass da etwas an ihr entlang streicht − die Fingerkuppen aber tasten nur etwas, was sich für sie wie die Außenseite einer Wärmflasche aus Gummi anfühlt.

Ich bleibe ein paar Tage zu Hause, dann holt der Kleinbus der Reha-Klinik mich vor der Haustür ab. Ich fahre an die Müritz. In die Reha. Ich bin sechsunddreißig Jahre alt. Ich komme in ein schönes, nicht einmal zehn Jahre altes Haus, alle Zimmer mit Balkon und theoretischem Seeblick – Bäume versperren die Sicht. Als ich ankomme, kann ich keine hundert Meter gehen, in der dritten Woche habe ich einen neuen Lieblingssport, er heißt Nordic Walking. Gar nicht überraschenderweise machen sich alle, wem auch immer ich davon erzähle, darüber lustig. Ich kann das verstehen, ich würde es nicht anders machen. Dabei verhält es sich mit dem Nordic Walking so: Es macht genau so viel Spaß, wie es bescheuert aussieht. Und es sieht, zugegebenermaßen, ich weiß es, ziemlich bescheuert aus. Drei Wochen bleibe ich in der Reha. Zwei Patienten sind jünger als ich, beide mit neuer Niere, Ivan Klasnić ist nicht dabei. Einige Patienten sind Mitte bis Ende vierzig, alle anderen − es gibt hier nicht nur Transplantierte, sondern auch Rheuma- und Herz-patienten − sind sehr viel älter. Wahrscheinlich, das fällt mir nach einer Woche auf, ist das nun das letzte Mal, dass ich irgendwo einer der Jüngsten bin. Morgens, mittags und abends sitzen wir alle zusammen bei Tisch, wir verbringen hier einen All-Inclusive-Aufenthalt mit vorgeschriebenen Anwendungen.

Es gibt Stundenpläne für jeden Tag, und es kursiert das Gerücht, dass wer zu viele seiner Anwendungen schwänze, die Rehabilitationsmaßnahme am Ende selbst bezahlen muss. Ich glaube da mal nicht dran und verschlafe den Frühsport im Wald um halb sieben und lasse mich auch beim Korbflechten nicht blicken. Ich muss, was nicht schadet, in den Kraftraum. Ich muss auf das Ergometer, zur Gymnastik und zum Schattenboxen. Ich soll wahlweise töpfern oder Speckstein bearbeiten und höre Vorträge zum Thema lebenslanger Immunsuppression und der damit verbundenen Risiken und lerne, was ich die nächsten Jahre alles nicht mehr essen darf. Nichts Rohes, nichts Ungeschältes, nichts aus der Erde. Nie wieder Salat. Am besten überhaupt nur Abgepacktes, Tiefgekühltes oder sonst wie keimfrei haltbar Gemachtes. Konserven. Besser nichts Gutgemeintes aus dem Bioladen. Gutgemeintes hat meist viel zu viele Keime. Und Vorsicht vor großen Menschenansammlungen. Vor Schwimmbädern, vor Kleinkindern und Kranken. Ich weiß schon, ich werde mich nicht immer daran halten. Ich fühle mich wie in der Schule, male Männchen und Muster auf das Papier und warte, dass es endlich klingelt. Die meiste Zeit, so liebe ich die Rekonvaleszenz, liege ich bei offener Balkontür in meinem Zimmer und schaue Six Feet Under und Sopranos. Drei Wochen reichen für die Staffeln drei bis sechs. Manchmal stehe ich am Fenster und halte Ausschau nach dem Seeadler, den es hier geben soll. Ich komme wieder nach Hause und kann wieder gehen. Alle drei Tage muss ich in die Klinik, alle drei Tage wird mir Blut abgenommen, um den Spiegel des Immunsuppressivums zu bestimmen und die Leberwerte zu kontrollieren. Es geht mir immer besser. Ich beschäftigte mich mit so aufregenden Dingen wie Antragsformulare zur Feststellung einer Schwerbehinderung auszufüllen und öffne Briefe von der Krankenkasse. Meine gesetzliche Krankenkasse hat das alles, ist das nicht großartig, lebe ich nicht in einem tollen Land, bezahlt. Ich werde nur noch schöne Tage haben.

Es geht mir besser und wieder schlechter. Ich bekomme fürchterliche Bauchschmerzen. Ich will und kann nichts mehr essen. Zwei Tage, drei Tage, vier Tage. Dann kann ich auch nichts mehr trinken. Ich komme wieder ins Krankenhaus. Ich muss nicht in die Notaufnahme, ich darf gleich zu den Spezialisten auf die LTX-Station. Da bin ich nun wieder, auf einer Liege in einem Arztzimmer. Es ist Sonntag, Ende Oktober. Ich bin wieder im Krankenhaus. Ich bekomme Infusionen und ein Bett in einem Zimmer gleich neben dem, in dem ich die drei Wochen im August verbracht habe. Das Jahreszeitentheater vor dem Fenster gibt jetzt den Herbst, jeden Morgen hängen weniger Blätter an den Bäumen. Als ich drei Wochen später entlassen werde, sind die Äste kahl. Das seltsame Gebäude, dessen Entstehung ich im Sommer am Fenster liegend beobachtet habe, ist nun kein Stahlgerüst mehr, als großer gelber Kubus leuchtet es über die Ringbahngleise und den Kanal, auf dem die Kohlenschiffe zum Kraftwerk steuern. Später fahre ich einmal, ich will unbedingt wissen, was da gebaut worden ist, dort vorbei und frage einen der Arbeiter, die da immer noch beschäftigt sind, um was für ein Gebäude es sich eigentlich handelt. Ein Lagerhaus für eine Spedition, erhalte ich als Auskunft und bin ein wenig enttäuscht, ich hatte etwas Aufregenderes erwartet. In meiner Phantasie, die im Krankenbett am Fenster viel Zeit hatte, hatte ich dort mindestens ein Labor für Wunder erwartet.

Ich liege wieder auf Station, wie es im Krankenhausjargon, in den ich mich mittlerweile gut eingehört habe, heißt. Alles tut weh, und ich bin schlecht gelaunt, ich habe keine Lust mehr. K. wird später sagen, ich sei unaushaltbar gewesen. Ich hänge am Tropf und kann und will nichts essen und will nichts trinken, vierzehn Tage lang. Es hat mich erwischt. Ich habe eine Cytomegalie, eine durch einen normalerweise harmlosen, bei geschwächtem Immunsystem jedoch gefährlichen Virus hervorgerufene Infektion. Morgens und abends bekomme ich ein Medikament in die Venen, das, weil stark alkalisch, die Gefäße angreift. Immer wieder muss ich neu gestochen werden, nach einer Woche sehe ich aus wie ein Junkie. Irgendwann wirkt das aggressive Wundermittel, langsam geht es besser. Ich habe wieder Glück gehabt, es hätte viel länger dauern können. Mein Zimmerkamerad, der Mann im Bett neben mir, liegt seit dreizehn Wochen hier. In der Zeitung, die K., sie kommt jeden Tag, mir mitbringt, entdecke ich die Todesanzeige für den Herrn, der mir in der Reha am Tisch gegenüber saß. Wir waren die beiden einzigen in dem riesigen Speisesaal, die morgens die Zeitung lasen und einander mit neuen Details ihrer Krankengeschichte verschonten. Wir hielten, wir verstanden uns stumm, die Lektüre für interessanter. Nun lese ich, dass er vor einer Woche gestorben ist. Fast zwanzig Prozent aller Lebertransplantierten überleben das erste Jahr nicht.

Am Abend des ersten ganzen Tages mit dem neuen Organ bin ich schon nichtmehr so high. Ich liege auf der Intensivstation, weiß nicht, ob ich wach bin oder phantasiere und höre die neue Leber sprechen. Ich höre sie durch die Geräusche der Geräte hindurch, sie spricht, worüber ich mich sonderbarerweise gar nicht wundere, spanisch. Ich kann sie gut verstehen. Von da an bin ich der festen Überzeugung, eine spanische Leber zu haben, ja ich glaube, sie wäre aus Barcelona zu mir gekommen. Einer Stadt, in der ich ein paar Mal ein paar Monate verbracht habe, die Leber aber spricht spanisch, nicht katalanisch.

Erst einige Wochen später finde ich auf der Website von Eurotransplant heraus, dass Spanien gar nicht an dieser Organisation beteiligt ist, die Spenderorgane auf passende Empfänger in ihren Mitgliedsländern verteilt. Und ich, das weiß ich aus meiner Krankenakte, habe – selbstverständlich streng anonymisiert − eine Eurotransplant-Leber erhalten. Sie kann also aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden und ein paar anderen Ländern stammen. Auf die Frage, die mir immer wieder − mal zurückhaltend und leicht verschämt, mal ganz direkt und offen neugierig − gestellt wird, habe ich mir da schon angewöhnt zu sagen: aus Spanien. Die Leber kommt aus Barcelona. Was, das habe ich da schon bemerkt, eine viel bessere Antwort ist als das jeden Fragesteller unbefriedigt lassende »Ich weiß es nicht«. Nur dem Kind, meiner Tochter, gestehe ich die Frage zu, ihre Formulierung lautet »Wie heißt denn der, von dem du deine neue Leber hast?« Allen anderen nehme ich sie eigentlich ein wenig übel. Natürlich sehe ich das Faszinationspotential der Frage nach der Identität des Spenders, seinem Leben und seinem Schicksal. Filme wie 21 Gramm von Alejandro González Iñárritu und Alles über meine Mutter von Pedro Almodóvar zehren davon. Trotzdem empfinde ich die Frage als illegitim, weil sie indirekt immer auch die Frage nach dem Tod des Menschen stellt, durch den ich weiterlebe. Ich lebe ja, weil ein anderer oder − die Vorstellung ist mir lieber − eine andere gestorben ist. Ich lebe, weil ein anderer Mensch nicht mehr lebt. Die Unbekannte, von der ich gar nichts weiß, hat mir ein Leben geschenkt. Noch eins, und ich habe jetzt ein Stück von ihr in mir, ich lebe mit ihrer Leber weiter. Von diesem intimen Verhältnis möchte ich eigentlich niemanden etwas wissen lassen. Es gehört mir, uns beiden ganz alleine.

Es braucht länger als ein halbes Jahr, bis mir auffällt, dass es auch anders herum hätte kommen können. Es hat ja nicht viel gefehlt, und ich wäre damals, in der Nacht im April verblutet. Meinen Organspendeausweis – natürlich habe ich einen und wünschte, alle hätten einen − hatte der Notarzt, der in meinem Portemonnaie nach meinem Notfallausweis suchte, ja in der Hand. Anderswo hätten sich Menschen gefreut. Ihre Telefone hätten geklingelt, mitten in der Nacht, und eine Stimme hätte ihnen gesagt, wir haben eine Lunge, eine Niere, ein Herz für sie. Nur meine Leber hätte niemandem mehr geholfen. Andere hätten weitergelebt und wären vielleicht nicht auf der Warteliste gestorben. Und ein anderer hätte dann vielleicht diese oder eine ähnliche Geschichte geschrieben, begleitet von dem Gefühl, es auch für einen anderen zu tun. Ich sitze am Schreibtisch, früher Nachmittag, ich habe schon gegessen, das erste Jahr ist fast vorbei. Das Telefon, ich kann es ausstellen, muss nicht mehr klingeln. Ich habe eine neue Leber.