Merkur Nr. 525, Dezember 1992

Verfassungsreform in falscher Hand?
Zum Stand der Diskussion um das Grundgesetz

von Dieter Grimm

 

I

Die Frage, ob die Bundesrepublik sich mit der Wiedervereinigung nur vergrößert hat oder auch wandeln muß, durchzieht unausgesprochen auch die Verfassungsdiskussion. Anders ist ihr Verlauf nicht zu erklären. Schon die Auseinandersetzung über den besten Weg zur Einheit, die zwischen der Volkskammerwahl im März 1990 und dem Abschluß des Einigungsvertrages im August 1990 alle anderen Themen überragte, wurde als Debatte für oder wider das Grundgesetz geführt. Wer den Beitritt der DDR nach Art. 23 GG befürwortete, trat zugleich für die Bewahrung des Grundgesetzes ein. Wer eine Neukonstituierung gemäß Art. 146 GG bevorzugte, gab zu erkennen, daß er eine andere Verfassung wollte. Diese Zuspitzung war freilich schon damals falsch.1

In Wahrheit handelte es sich um zwei durchaus verschiedene Fragen: die prozedurale nach der Herstellung der staatlichen Einheit und die materiale nach der Ordnung des geeinten Staates. So wie der Weg der Neukonstituierung gemäß Art. 146 GG nicht eine Einigung auf das Grundgesetz ausschloß, verhinderte der Weg des Beitritts nach Art. 23 GG nicht die anschließende Ausarbeitung einer neuen Verfassung. Der weitere Verlauf der Dinge hat das bestätigt. Mit der Entscheidung zugunsten des Beitritts der DDR nach Art. 23 GG, der gewählt wurde, weil er schnell und reibungslos zum Ziel führte, war die Verfassungsfrage nicht gelöst.

Denn wenn auch Art. 23 GG nach seiner Anwendung auf die DDR keinen Gegenstand mehr besaß und folgerichtig aus dem Grundgesetz gestrichen wurde, war doch die Verheißung einer vom ganzen deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossenen Verfassung in Art.146 GG noch unerfüllt. Diese Bestimmung blieb daher in Kraft und erhielt nur den klärenden Zusatz, daß das Grundgesetz nunmehr die Verfassung des ganzen deutschen Volkes sei. Es steht aber auch nach der Herstellung der Einheit weiter unter dem Vorbehalt, daß sich das Volk eine neue Verfassung gibt. Der Einigungsvertrag knüpft daran an und empfiehlt in Art.5 den gesetzgebenden Körperschaften des vereinigten Deutschland, sich innerhalb von zwei Jahren mit den von der Wiedervereinigung aufgeworfenen Verfassungsfragen zu befassen und dabei auch die Anwendung von Art.146 GG und die Frage einer Volksabstimmung zu prüfen.

In der Diskussion über die Umsetzung dieser Empfehlung kam die alte Frontlinie wieder zum Vorschein.2 Wer sich für einen eigens berufenen Verfassungsrat zur Revision des Grundgesetzes einsetzte, war verdächtig, das Grundgesetz preisgeben zu wollen. Wer für eine Verfassungsreform im Weg des parlamentarischen Änderungsverfahrens gemäß Art. 79 GG eintrat, gab damit zu erkennen, daß er am Grundgesetz festhalten wollte. Wie schon in der Einigungsdebatte stellte sich diese Alternative aber auch hier nicht. Die Frage nach einer ganz andersartigen Verfassungsordnung war zu keiner Zeit akut, weder im Westen noch im Osten. Selbst der Runde Tisch, der noch nicht unter der Prämisse der Wiedervereinigung, sondern der DDR-Reform zusammengetreten war, hatte sich bei seinen Verfassungsempfehlungen eng an das Grundgesetz angelehnt. Umgekehrt konnte niemand im Zweifel darüber sein, daß es mit den Verfassungsänderungen, die bereits der Einigungsvertrag selbst herbeigeführt hatte, nicht getan war. Die Heftigkeit des Streits läßt sich unter diesen Umständen nur daraus erklären, daß hinter der Verfahrensfrage abermals die Kernfrage der Wiedervereinigung stand, ob die Last der Veränderungen allein von der früheren DDR oder auch von der alten Bundesrepublik zu tragen sei.

Der Kompromiß, mit dem die Auseinandersetzung über das Vorgehen endete, hält diese Frage offen und hat die Antwort doch weitgehend vorausbestimmt. Zwar ist eine eigene Verfassungskommission gebildet worden, sie setzt sich aber nur aus Mitgliedern von Bundestag und Bundesrat zusammen. Mit der Entscheidung zugunsten eines solchen Gremiums, dem ausschließlich aktive Parteipolitiker angehören, ist die Verfassungsrevision dem Bonner Routinebetrieb überlassen worden. Das kann nicht ohne Folgen für das Ergebnis bleiben. Zum einen bedeutet es, daß die Akteure und Themen der alten Bundesrepublik dominieren, zum anderen, daß die Differenz zwischen der Tagespolitik, der die Verfassung erst den inhaltlichen und organisatorischen Halt gibt, und ihren dauerhafteren Rahmenbedingungen eingeebnet wird. Nicht nur schiebt sich auf diese Weise die der Verfassung unangemessene Zeitdimension der Augenblicksbedürfnisse und Wahltermine in den Vordergrund, während Themen ohne Naheffekt, Probleme mit Spätfolgen oder gar grundsätzliche Strukturschwächen der Verfassung zurücktreten. Es wächst vielmehr auch die Neigung, sich bei der Verfassungsänderung nicht auf die Grundlagen künftiger Entscheidungen zu beschränken, sondern diese in der Verfassung vorwegzunehmen, der dadurch konfliktüberwölbende Kraft verlorengeht.

Die bisherige Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission widerlegt diese Befürchtung nicht. Sie hat sich Anfang 1992 konstituiert und soll ihre Empfehlungen für Grundgesetz-Änderungen sowie für die Form der Verabschiedung − mit oder ohne Volksabstimmung − im Frühjahr 1993 vorlegen. Sie tagt in regelmäßigen Abständen in Bonn, gewöhnlich im Anschluß an Sitzungen von Bundestag und Bundesrat oder ihrer Gremien, spät nachmittags und abends, gelegentlich unter Anhörung von Experten und neuerdings auch öffentlich. Einer eingehenden, vom Druck der Tagesgeschäfte entlasteten Beratung sind diese Umstände nicht günstig. Überdies werden einige Änderungsvorhaben, die als besonders dringlich gelten, außerhalb der Kommission behandelt und voraussichtlich auch schon vor Abschluß der Kommissionsarbeiten beschlossen werden. Dazu zählen namentlich die Fragen des Asylrechts und des Bundeswehreinsatzes außerhalb der Nato sowie die Anpassung des Grundgesetzes an den Vertrag von Maastricht, der mit der Verfassung in ihrer derzeitigen Gestalt teilweise nicht vereinbar ist.

Die Themenliste der Verfassungskommission bleibt gleichwohl lang. Im Zusammenhang mit der Ausgestaltung des Demokratieprinzips geht es um die Einfügung plebiszitärer Elemente in das bisher ganz eindeutig repräsentativ ausgerichtete Grundgesetz. Im Rahmen des Bundesstaatsprinzips steht die Forderung der Länder nach einer Stärkung ihrer Stellung gegenüber dem Bund zur Diskussion. Verlangt werden vor allem die Rückübertragung von Gesetzgebungskompetenzen, die Auflösung von Gemeinschaftsaufgaben, ein größerer Handlungsspielraum bei der Bundesauftragsverwaltung, vermehrter Einfluß auf die Haltung der Bundesregierung im Rat der Europäischen Gemeinschaft, schließlich eine verbesserte Finanzverteilung im Bundesstaat. Dem Sozialstaatsprinzip lassen sich diejenigen Änderungswünsche zuordnen, die um neue Staatszielbestimmungen (namentlich über den Umweltschutz) und neue soziale Garantien (namentlich im Bereich von Arbeit, Wohnung, Kinderbetreuung) sowie um eine Ausweitung des Gleichheitsgrundsatzes (namentlich zur Gleichstellung der Frau) und die Stärkung der Familie kreisen.

Im folgenden soll es indessen nicht um die Themen gehen, mit denen die Kommission sich beschäftigt, sondern um die, welche vernachlässigt werden, obwohl sie Aufmerksamkeit verdienten. Als Maßstab dafür dient die Konsensfunktion der Verfassung. Verfassungen sollen politische Herrschaft rechtlichen Bindungen unterwerfen und können dies nur, wenn und soweit sie Ausdruck des Konsenses einer Gesellschaft hinsichtlich der Grundlagen ihrer politischen und sozialen Ordnung und hinsichtlich der Form der Konfliktbewältigung sind. Sie erzeugen diesen Konsens nicht selber, verleihen ihm aber Verbindlichkeit, Dauer und Bestimmtheit und bilden so Legitimationsgrundlage und Beurteilungskriterium für politische Herrschaft. Was in den Konsens eingeht, ist nicht mehr Thema, sondern Prämisse politischer Auseinandersetzung. Er entlastet den politischen Entscheidungsprozeß von immer neuer Prinzipien- und Verfahrenssuche und macht den Mehrheitsentscheid für die Minderheit hinnehmbar. An der Konsensfunktion ist daher auch die Verfassungsreform zu orientieren. Änderungen sind vor allem dann nötig, wenn der Konsens aufgrund gewandelter Erwartungen brüchig geworden ist, wenn neuartige Probleme seine Erweiterung fordern und wenn vom Konsens getragene Regelungen unter veränderten Bedingungen ihre Wirkung verfehlen oder unerwünschte Wirkungen hervorbringen.3

 

II

Wiedervereinigung

Geht man davon aus, so drängt sich vor allem die Frage auf, ob der Grundkonsens, den das Grundgesetz enthält, angesichts der Wiedervereinigung änderungs- oder ergänzungsbedürftig ist. Indessen spielt der Anlaß, der die Verfassungsdebatte erst ausgelöst hat, in den Beratungen keine Rolle mehr. Allein der Länderfinanzausgleich ruft ihn gelegentlich in Erinnerung. Das ist nicht nur daraus erklärbar, daß sich die alte Bundesrepublik durch den Beitritt der DDR in ihrem Konsens nicht irritieren lassen will. Vielmehr scheint auch die Ansicht vorzuherrschen, daß für die Lösung der Probleme, die die Wiedervereinigung aufgeworfen hat, von der Verfassung kein Beitrag zu erwarten ist. In der Tat handelt es sich in erster Linie um Probleme ökonomischer, sozialer und kulturelle Natur. Sie müssen daher auch mit ökonomischen, sozialen und kulturellen Mitteln gelöst werden. Die Lösungen bedürfen jedoch rechtlicher Grundlagen, und da diese unvermeidlich in Besitzstände und Standards der alten Bundesrepublik einschneiden, werden sie auch allemal zu Verfassungsfragen. Allerdings handelt es sich um Übergangsfragen. Diese haben ihren Platz eher im Gesetz als in der Verfassung. Es gibt aber Übergangsprobleme von einer solchen Größenordnung und Bedeutung, daß die Grundzüge ihrer Lösung dem Parteienstreit entzogen und zur Prämisse künftiger Politik gemacht werden sollten. Das scheint vor allem für zwei Bereiche nötig: die Lastenverteilung zwischen Ost und West und die Bewältigung der DDR-Vergangenheit.

Mit der Wiedervereinigung ist die Integration der beiden Teilgesellschaften zur wichtigsten innenpolitischen Aufgabe geworden, bis Ost und West am Ende wieder nichts als geographische Begriffe sind. Die Aufgabe ist langwierig, schwierig und kostspielig. Der Großteil der Kosten wird noch für längere Zeit von der westlichen Seite aufzubringen sein. Es geht dabei nicht allein um Geld. Vielmehr müssen zeitweilig auch Standards geopfert werden, die sich in der alten Bundesrepublik unter den Bedingungen beträchtlichen Wohlstands und hoher Leistungskraft herausgebildet haben. Dabei kann es sich um Standards der Infrastruktur, der sozialen Sicherheit oder auch des rechtlichen Schutzes handeln. All das läuft auf einen Lastenausgleich zwischen Ost und West hinaus, der zwar nicht in seinen Einzelheiten, wohl aber in seiner Größenordnung dem Lastenausgleich der Nachkriegszeit gleichkommt. Da er ebenso unausweichlich wie konfliktträchtig ist, sollte er jedenfalls dem Grunde nach allgemein akzeptiert und damit immer neuen Zweifeln entzogen werden. Das bedeutet aber nichts anderes, als ihn in der Verfassung zu befestigen, wie das Grundgesetz ja auch den Lastenausgleich der Nachkriegszeit in den Übergangsbestimmungen der Art. 119 ff. befestigt hatte.

Ein Integrationsproblem besonderer Art bildet das personelle Leistungsgefälle zwischen West und Ost. Kenntnisse und Fähigkeiten, die in der sozialistischen Gesellschaft ausgebildet wurden, Orientierungsmuster und Verständigungsweisen, die dort funktionierten, sind in der westlichen Gesellschaft großenteils unverwendbar. Damit fällt dem Westen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen die Führungsrolle zu, während der Osten aufs Lernen verwiesen wird. Die Integration der beiden Teilgesellschaften kann unter solchen Umständen kaum gelingen. Vielleicht sind Quoten, um deren verfassungsrechtliche Anerkennung zur Zeit gekämpft wird, nicht nur für Frauen an der Zeit. Das Problem wird durch die politische Belastung vieler Ostdeutscher verschärft. Meist findet es nur personalisiert als Stolpe-, Fink- oder Anderson-Problem Aufmerksamkeit, zu selten wird es als Integrationsaufgabe erkannt. Noch lange ist damit zu rechnen, daß jeder Aufstieg eines Ostdeutschen in Leitungspositionen von Nachforschungen und Enthüllungen der Gegner und der Medien begleitet wird. Für eine auf Integration der beiden Landesteile angewiesene Gesellschaft ist das eine schwere Hypothek. Auf lange Sicht werden einige ungenügend qualifizierte Führungskräfte weniger Schaden stiften als die perpetuierte West-Ost-Verdächtigung. Auch dafür müßte verfassungsrechtlich Vorsorge getroffen werden, wie das nach dem Krieg in Art. 131 f. GG ebenfalls bedacht gewesen war.

 

Politische Parteien

Nirgends wird die vorentscheidende Bedeutung prozeduraler Festlegungen für inhaltliche Ergebnisse so auffällig wie im Bereich der politischen Parteien. Da die politischen Parteien die Verfassungsreform ganz in ihre Hände genommen haben, ist die Bereitschaft, die eigene Position in Frage zu stellen, von vornherein gering zu veranschlagen. Dabei läßt sich nicht verkennen, daß verschiedenen Verfassungsgarantien gerade von den politischen Parteien empfindliche Störungen drohen. Das soll freilich nicht heißen, daß es ohne Parteien ginge. Parteien sind in einer parlamentarischen Demokratie unentbehrlich und werden sich bilden,   ob die Verfassung von ihnen Notiz nimmt oder nicht. Erst indem sie die unermeßliche Vielfalt von Meinungen und Interessen in der Bevölkerung zu einer überschaubaren Zahl von politischen Programmen verdichten und politisches Personal heranbilden, das diese Programme zu verwirklichen verspricht, setzen sie das Volk in den Stand, sein Wahlrecht auszuüben und den Herrschaftsauftrag zu vergeben. Zugleich zwingt die Konkurrenz um Wählerstimmen die Parteien, auch zwischen den Wahlen auf die Bedürfnisse und Auffassungen in der Bevölkerung zu achten und sie im politischen Entscheidungsprozeß zur Geltung zu bringen. Insofern gibt es für Parteien kein funktionales Äquivalent.

Eine Partei gewinnt freilich auf die staatliche Willensbildung nur in dem Maß Einfluß, wie sie Wählerstimmen auf sich vereinigt und mit deren Hilfe in die Staatsorgane einrückt. Das Ziel jeder Partei ist daher die durch den Wahlsieg ermöglichte Regierungsbildung. Da erst die Teilhabe an der Regierung die Voraussetzungen schafft, das eigene Programm zu verwirklichen, wird der Gewinn von Wählerstimmen zur alles überragenden Verhaltensmaxime. Nicht selten kehren sich dabei Ziel und Mittel um: Man sucht nicht mehr Stimmen für ein Programm, sondern macht ein Programm, das Stimmen verspricht. Wegen des Zusammenhangs von Programmverwirklichung und Wahlgewinn erscheint vom Standpunkt der politischen Parteien aus alles rational, was die Wahlchancen erhöht und die Machtbasis sichert.

Daraus erklärt sich ihr Bestreben, die Konkurrenten zu behindern und überall Fuß zu fassen, wo Einfluß auf Wahlausgänge genommen wird und Entscheidungspositionen zu verteilen sind. Den Parteien kommt dabei zugute, daß sie als Parlamentsparteien zugleich das Gesetzgebungs- und Budgetrecht und als Regierungsparteien zugleich die Personalhoheit in allen öffentlichen Bereichen innehaben und ihre Eigeninteressen daher besonders leicht befriedigen können.

Die Verfassung, der es im Interesse der Freiheit des Einzelnen und der Autonomie der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche um Gewaltenteilung und Offenhaltung des politischen Prozesses geht, zieht hierbei oft den kürzeren. Sie kann zwar die staatlichen Entscheidungsbefugnisse auf verschiedene Ebenen − Bund, Länder, Gemeinden − und innerhalb der Ebenen auf verschiedene Organe − Parlament, Regierung, Justiz − verteilen und zusätzlich bestimmte Bereiche wie etwa die zur Kontrolle berufenen Rundfunk- und Fernsehanstalten oder die der Wahrheitssuche verpflichteten Institutionen der Wissenschaft gegen unmittelbaren Staatseinfluß abschirmen. Es gelingt aber nicht zu verhindern, daß in all diesen Organen und Institutionen die politischen Parteien ihren Einfluß geltend machen. Als Vermittler zwischen Staat und Gesellschaft haben sie ihr Werk immer schon verrichtet, ehe die auf den Staat bezogenen Regeln des Verfassungsrechts zugreifen können. Auf diese Weise halten sich längst nicht mehr voneinander unabhängige, aber aufeinander angewiesene Staatsorgane wechselseitig in Schach. Vielmehr kooperieren politische Parteien mit sich selbst in wechselnden Rollen. Kontrolleffekte gehen dann nur noch von der Parteienkonkurrenz aus und versagen dort gänzlich, wo auch diese aufgrund von Interessenidentität der Parteien ausfällt.4

Es spricht viel dafür, daß diese Oligopolansprüche der politischen Parteien, die ihrer Vermittlungsfunktion zwischen Volk und Staat abträglich sind und sie in omnipräsente Herrschaftsinstanzen verwandeln, die tiefere Wurzel der Parteienaversion bilden, die sich zur Zeit verstärkt bemerkbar macht. Gleichwohl fruchten Appelle an die Einsicht der Parteien wenig, weil das Verhalten vom Standpunkt des Parteiinteresses aus betrachtet folgerichtig ist und daher nicht von innen, sondern nur extern begrenzt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat das in Auslegung und Fortentwicklung des Grundgesetzes vielfach erfolgreich getan, namentlich im Wahlrecht und, zeitweilige Nachgiebigkeit korrigierend, neuerdings auch wieder bei der Parteienfinanzierung. Die Handhaben, die das Grundgesetz bietet, reichen allerdings angesichts eines expandierenden Parteienstaats nicht aus. Vielmehr müßten die Eintrittsschwellen für politische Parteien in allen Bereichen erhöht werden, in denen nicht politisch, sondern entweder gesetzesgebunden oder grundrechtsgeschützt autonom entschieden wird. Das betrifft im staatlichen Bereich Verwaltung und Justiz, im öffentlich-rechtlichen, aber nicht unmittelbar staatlichen Bereich vor allem Rundfunkanstalten und Universitäten, im privatrechtlichen Bereich alle Unternehmungen in staatlicher Hand oder unter maßgeblichem staatlichen Einfluß.

Die Einfügung plebiszitärer Elemente in das Grundgesetz, die gewöhnlich unter dem Gesichtspunkt der Aktivierung des Volkes und der erhöhten Legitimation von Entscheidungen diskutiert wird, könnte ihre eigentliche Bedeutung in der Begrenzung der politischen Parteien gewinnen. Es ist weder ausgemacht, daß politische Entscheidungen, die vom Volk selber getroffen werden, allein deswegen besser als die parlamentarischen sind, noch ist damit zu rechnen, daß − namentlich bei Fragen, die als existentiell empfunden werden wie etwa dem Schwangerschaftsabbruch oder der Atomkraftnutzung − die Unterlegenen die Entscheidung leichter hinnehmen, weil sie daran mitwirken durften. Es ist sogar möglich, daß Plebiszite die Gesellschaft politisch stärker entzweien als parlamentarische Entscheidungsverfahren. Die bloße Möglichkeit des Plebiszits kann allerdings sehr wohl den Druck auf die politischen Parteien erhöhen, Themen nicht auszuweichen, die die Gesellschaft zutiefst bewegen und eine politische Antwort verlangen. Für diesen Zweck wäre es allerdings ausreichend, daß im Wege des Referendums Gesetzentwürfe auf die politische Tagesordnung gesetzt werden können, mit denen sich dann die Staatsorgane befassen müssen.

 

Europäische Integration

Im Unterschied zur Wiedervereinigung läßt sich die europäische Einigung in der Verfassungsdebatte nicht umgehen, weil der Vertrag von Maastricht unter dem Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Form nicht ratifizierbar ist. Für den Grad an Integration, der dort angestrebt wird, gibt Art. 24 GG keine ausreichende Ermächtigung. Zum einen geht es um mehr als die Übertragung einzelner Hoheitsrechte, zum anderen läßt sich die Europäische Gemeinschaft nicht mehr als zwischenstaatliche Einrichtung begreifen. Die EG, die schon längst Hoheitsgewalt mit unmittelbarer Wirkung in den Mitgliedstaaten ausübt, schlägt mit dem Maastrichter Vertrag vielmehr den Weg zum europäischen Bundesstaat ein. Daß dies nicht ohne ausdrückliche verfassungsrechtliche Erlaubnis geht, wird mittlerweile eingesehen. Daneben sind Bestimmungen nötig, die das Ausländerwahlrecht zulassen und die Rolle der Bundesbank neu definieren. Zusätzlich versuchen sowohl die Bundesländer als auch der Bundestag stärkeren Einfluß auf die Europapolitik der Bundesregierung zu erlangen. Das hat inzwischen zum Entwurf eines komplizierten und für eine Verfahrensregel bemerkenswert unscharf formulierten Mitwirkungsmechanismus geführt, dem die Regierungsseite nur sehr zögernd beigetreten ist, weil sie davon eine Schwächung ihrer Verhandlungsposition gegenüber den anderen, zentralistisch regierten Mitgliedstaaten befürchtet.

 

 

Die Verfassungskommission geht jedoch zu Unrecht davon aus, daß das Thema damit erschöpft sei. Das hängt mit einer verbreiteten Täuschung über das Schicksal des nationalen Verfassungsstaats nach Maastricht zusammen. Schon heute gilt es unter Europarechtlern als unbestreitbar, daß selbst die rangniedrigste Vorschrift des europäischen Gemeinschaftsrechts dem nationalen Verfassungsrecht vorgeht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich diesem Anspruch bisher nicht gefügt, sondern lediglich seine Kontrolle über die Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch deutsche staatliche Stellen zurückgenommen, solange der Europäische Gerichtshof einen angemessenen Grundrechtsschutz gewährleistet. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß mit der Schaffung eines europäischen Bundesstaats die nationalen Verfassungen zur Nebensache werden. So wie die Mitgliedstaaten in der größeren staatlichen Einheit auf den Status von Bundesländern und ihre Organe auf den Status von Landesparlamenten, Landesregierungen und Landesverfassungsgerichten zurückfallen, wird auch das Grundgesetz − ebenso wie die Verfassungen der übrigen Mitgliedstaaten − in seiner Bedeutung einer Landesverfassung angeglichen und nur noch in dem Rahmen Geltung beanspruchen können, den das Gemeinschaftsrecht ihm beläßt.

Das ist freilich für sich genommen kein Grund, gegen eine fortschreitende europäische Integration zu sein, denn angesichts der Kriege und Rivalitäten früherer Zeiten und angesichts der nationalen Exzesse in den ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas kann man ein vereintes Europa nicht hoch genug einschätzen. Zugleich muß klar sein, daß es ohne einen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte nicht zu haben ist. Allerdings ist auch der Verfassungsstaat keine geringe Errungenschaft, und ein vereintes Europa wäre um den Preis der Verfassung teuer erkauft. Der Maastrichter Vertrag tut den entscheidenden Schritt zum europäischen Bundesstaat, ohne diesem eine Verfassung zu geben, die den national erreichten Standard auf europäischer Ebene sicherte. Zwar mag man die Anforderungen des Rechtsstaats gewahrt finden, denn die EG integriert sich vor allem über Rechtssetzung und besitzt in dem Luxemburger Gerichtshof eine Instanz, die wirksam über die Einhaltung der rechtlichen Bindungen wacht. Schon an einem Grundrechtskatalog fehlt es jedoch, und der Gerichtshof schließt diese Lücke eher notdürftig, indem er auf ungeschriebene Grundrechte zurückgreift, die er aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten schöpft.

Vor allem fehlt es der Gemeinschaft aber an demokratischem Gehalt. Zwar nennt der EG-Vertrag unter den Organen der Gemeinschaft als erstes das Europäische Parlament, das seit 1979 auch von den Bürgern der Mitgliedstaaten unmittelbar gewählt wird. Er spiegelt damit aber eine Bedeutung vor, die dem Parlament in Wahrheit nicht zukommt. Die Entscheidungsbefugnisse sind vielmehr bei den anderen Organen, dem Rat, der Kommission und dem Gerichtshof, konzentriert. Dem Parlament mangelt es dagegen an den Kompetenzen, die im nationalen Rahmen üblich sind und die Gesetzgebung, die Haushaltsfeststellung, die Regierungsbildung und die Regierungskontrolle umfassen. Die demokratische Legitimation wird den Entscheidungen der Europäischen Gemeinschaft immer noch allein durch die nationalen Regierungen vermittelt, und die demokratische Kontrolle erschöpft sich in der Kontrolle der nationalen Parlamente über die Europapolitik ihrer Regierungen. Je weniger im Ministerrat aber Einstimmigkeit verlangt wird und je mehr Entscheidungsbefugnisse auf die Kommission übergehen, desto spürbarer wird auch die demokratische Lücke auf der Europaebene.

Es erscheint deswegen nur konsequent, daß in derMaastricht-Debatte des Bundestages eine Verfassung für Europa gefordert worden ist, die die Prinzipien der nationalen Verfassungen aufnimmt.5 Die Forderung, so nahe sie liegt, ist freilich leichter erhoben als verwirklicht. Ja, es fragt sich, ob eine Konstitutionalisierung der EG nicht auf unübersteigbare Hürden stößt. Selbst wenn das Europäische Parlament mit den üblichen Kompetenzen nationaler Parlamente ausgestattet würde, dürfte man doch nicht hoffen, damit das europäische Demokratiedefizit gedeckt zu haben. Parlamente sind zwar notwendige, aber keine hinreichenden Voraussetzungen für Demokratie. Demokratie bedeutet zuallererst, daß die Staatsgewalt vom Volk ausgeht und in seinem Auftrag von staatlichen Organen ausgeübt wird, die sich dafür wiederum vor dem Volk zu verantworten haben. Dem Parlament kommt in diesem Zusammenhang eine wichtige Vermittlungsfunktion zu. Der demokratische Gehalt eines politischen Systems hängt aber davon ab, wie zuverlässig es diesen Vermittlungsdienst leistet. Dabei ist das Parlament seinerseits wieder auf die Vermittlungsleistungen anderer, namentlich der Parteien, Verbände, Bürgerinitiativen und Medien, angewiesen. Nur wenn es mit deren Hilfe gelingt, eine europäische Öffentlichkeit herzustellen, wird es auch eine europäische Demokratie geben können.

Um die Herstellung dieser Voraussetzungen ist es indessen schlecht bestellt.6 Zwar kann man davon ausgehen, daß eine Aufwertung des Europäischen Parlaments vom Beratungs- zum Entscheidungsorgan über kurz oder lang auch eine Europäisierung der Parteien nach sich ziehen würde. Schon jetzt gliedert sich das Straßburger Parlament nicht in nationale, sondern in programmatische Fraktionen. Die Parteien würden folgen, wenn das Parlament Macht gewänne. Dasselbe läßt sich von den Interessenorganisationen annehmen. Man kann freilich ebenso zuverlässig voraussagen, daß es sich dabei um eine Europäisierung auf der Ebene der Führungen und Funktionäre, nicht auf der Ebene der Mitglieder handeln würde. Der Abstand zwischen Elite und Basis wüchse vielmehr. Der Grund liegt auf der Hand: Information und Partizipation als Grundvoraussetzungen von Demokratie sind an Sprache gebunden. In der EG werden derzeit neun Sprachen gesprochen. Selbst wenn dabei in den Organen der EG zwei vorherrschen, ist die Mehrzahl der EG-Bürger doch von unmittelbarem Verständnis und unmittelbarer Verständigung ausgeschlossen. Mit einer Europäisierung der Medien ist aus sprachlichen Gründen ebenfalls nicht zu rechnen. Die europäische Öffentlichkeit bleibt national fragmentiert. Ein europäisches Staatsvolk, dem die Hoheitsgewalt der EG zugerechnet werden könnte, ist unter diesen Voraussetzungen noch auf lange Zeit nicht zu erwarten.

Diese Aussichten nötigen zu dem Schluß, daß sich die Errungenschaft des demokratischen Verfassungsstaats vorerst nicht in dem erforderlichen Umfang im europäischen Rahmen verwirklichen läßt. Diese Erkenntnis zieht dem Grad europäischer Integration Grenzen. Die nationalen Verfassungen, die die Ermächtigung zur Integration erteilen, sind der Ort, sie zu definieren. Die Integration muß unbeschadet erweiterter Gemeinschaftskompetenzen, etwa für die Außen- und Verteidigungspolitik, dort haltmachen, wo sich die EG in einen Bundesstaat zu verwandeln beginnt. Staatlichkeit ist weiterhin das Attribut der Mitgliedsländer. Man kann sich nicht damit beruhigen, daß das in den Maastrichter Vertrag aufgenommene Subsidiaritätsprinzip dafür sorgen wird.7

Mit der Formulierung, daß die Gemeinschaft nur Aufgaben übernehmen soll, die sie besser erledigen kann als die Mitgliedstaaten, läßt es viele Deutungen zu und schließt wenige aus. Konkretisierungen sind im Vertrag nicht vorgesehen. Unter den Mitgliedstaaten herrscht nicht einmal Einigkeit darüber, daß es die Befugnisse der EG begrenzen soll. Viele erhoffen sich von ihm im Gegenteil, die Verantwortung für konfliktträchtige Probleme nach Brüssel abschieben zu können. Das verlangt nicht nur ein neuerliches Nachdenken über den Maastrichter Vertrag, sondern auch über den Entwurf eines neuen Art. 23 GG.

 

Verfassungsentwertung

Neben der äußeren Schwächung der Verfassung, die von der europäischen Integration ausgeht, muß schließlich noch auf eine innere Schwächung aufmerksam gemacht werden, die in den Verfassungsberatungen bisher keine Beachtung gefunden hat. Sie geht auf säkulare Veränderungen der Staatstätigkeit zurück und droht wesentliche Verfassungsgarantien teilweise leerlaufen zu lassen. Der Verfassungsstaat ist ein verhältnismäßig junges historisches Phänomen. Er entstand, als die bürgerliche Überzeugung sich durchsetzte, daß Wohlstand und Gerechtigkeit am besten durch die Selbststeuerungskräfte des Marktes erreicht würden. Die Aufgabe des Staates reduzierte sich unter diesen Umständen auf eine bloße Garantie der Marktgesetze: freies Spiel der gesellschaftlichen Kräfte. Im Maß, wie sich diese Überzeugung revolutionär oder evolutionär Bahn brach, wurden die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche von politischer Steuerung abgekoppelt und ihren je eigenen Rationalitätskriterien anheimgegeben. Der Vorgang ist als Trennung von Staat und Gesellschaft bekannt. Der Verfassung fiel in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, die Wohlstand und Gerechtigkeit verbürgende Trennung rechtlich zu befestigen und gleichzeitig die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft so zu ordnen, daß der Staat einerseits seine Garantenstellung wirksam erfüllen, andererseits aber nicht zu eigenen Steuerungsambitionen mißbrauchen konnte.

Die erste Aufgabe übernahmen die Grundrechte, die in dem von ihnen umgrenzten Feld der Willensbestimmung des Einzelnen Vorrang vor staatlicher Verhaltenslenkung einräumten und dadurch zugleich den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen Autonomie verschafften. Die zweite Aufgabe erfüllte der Organisationsteil der Verfassung, der die Staatsgewalt so einrichtete, daß sie den gesellschaftlichen Interessen verpflichtet blieb und ihre Machtmittel möglichst nicht zweckentfremden konnte. Angelpunkt dieser Vorkehrungen war das Gesetz. Im Gesetz legte die Gesellschaft durch gewählte Repräsentanten selber die Grenzen ihrer Freiheit und damit zugleich den Aktionsradius des Staates fest. Für die staatliche Exekutive bildete es sowohl Handlungsermächtigung wie auch Handlungsbegrenzung. Einer unabhängigen Justiz diente es als Maßstab der Kontrolle, ob sich die Exekutive im Einzelfall an ihre Bindungen gehalten hatte oder nicht. Die Gewaltenteilung als wichtigste Mißbrauchssicherung fiel dabei ohne weiteres an. Beschränkt auf diese Eingrenzungs- und Organisationsaufgabe entfaltete die Verfassung ihre spezifische Rationalität und gewann hohe Geltungskraft.

Die Bedingungen, denen die Verfassung ihre Entstehung verdankt, haben sich seither erheblich geändert. Die bürgerliche Erwartung, daß die Gesellschaft aus sich heraus zu Wohlstand und Gerechtigkeit befähigt sei und den Staat nur als Garanten der Rahmenbedingungen benötige, ist nicht eingetroffen. Wohlstand und Gerechtigkeit sind seitdem wieder eine Sache aktiver staatlicher Bewirkung, ohne daß deswegen die Leitidee von Freiheit und Gleichheit preisgegeben wäre. Die Folge war eine schon im 19. Jahrhundert einsetzende und seitdem anhaltende Ausweitung der Staatsaufgaben. Mittlerweile ist dem Staat eine umfassende Verantwortung für Bestand und Entwicklung der Gesellschaft in sozialer, wirtschaftlicher, wissenschaftlichtechnischer und kultureller Hinsicht zugewachsen. Diese Ausweitung kann nicht allein quantitativ verstanden werden. Sie hat auch einen qualitativen Aspekt. Er besteht darin, daß sich der Staat nach und nach aus dem Bezug auf eine vorausgesetzte und als gerecht unterstellte Ordnung gelöst hat, die die öffentliche Gewalt nur zu sichern und im Fall der Störung wiederherzustellen hatte, und statt dessen für die Gestaltung dieser Ordnung und die Sicherung der Zukunft verantwortlich geworden ist.

Für die verfassungsrechtliche Einbindung politischer Herrschaft hat das zwei Konsequenzen. Die erste ergibt sich daraus, daß das Gemeinwohl nicht mehr allein durch Staatsbegrenzung angestrebt werden kann, sondern Staatsaktivierung erfordert. Die Aktivitäten des Wohlfahrtsstaates lassen sich jedoch rechtlich weit weniger einbinden als die Garantenfunktion des Ordnungsstaats. Das schwächt sowohl die Grundrechte als auch das Gesetz. Im Unterschied zur Ordnungswahrung wirkt die Ordnungsgestaltung prospektiv statt retrospektiv, flächendeckend statt punktuell, löst diffuse statt individuelle Betroffenheiten aus und hängt, was ihre Erfüllung angeht, nicht nur von dem Durchsetzungswillen des Staatsapparats, sondern von zahlreichen gesellschaftlichen Ressourcen ab, über die der Staat nicht nach Belieben verfügen kann. Da die Verfassung gleichwohl auch die Erfüllung dieser Aufgaben von gesetzlichen Grundlagen abhängig macht, hat sich hier ein Gesetzestyp ausgebreitet, der gewöhnlich als Finalprogramm bezeichnet wird und sich von dem klassischen Konditionalprogramm dadurch unterscheidet, daß er die staatliche Verwaltung nicht nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen abschließend determiniert, sondern ihr lediglich Ziele setzt und Gesichtspunkte nennt, die sie bei der Zielerreichung zu beachten hat. Das weitere ist Sache der staatlichen Verwaltung selbst, die dann freilich keine generell und abstrakt schon vorbestimmte Rechtsfolge im Einzelfall ausspricht, sondern ihre gesetzlich nur schwach bestimmten Entscheidungen originär fällt.

Das zweite Problem ergibt sich aus dem Umstand, daß die Aufgabenausweitung des Staates nicht mit einer entsprechenden Ausweitung seiner Verfügungsbefugnis einhergegangen ist. Zum Teil hat das seinen Grund darin, daß sich die angestrebten Ziele mit imperativen Mitteln nicht erreichen lassen, wie das etwa für Konjunktursteuerung oder Forschungsplanung der Fall ist. Zum Teil liegt es daran, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche weiterhin aus gutem Grund gegen durchgängige politische Steuerung abgeschirmt sind und grundrechtlich geschützte Autonomie genießen. Aber auch dort, wo imperative Steuerung faktisch möglich und rechtlich zulässig wäre, erzeugt sie oft einen so hohen Konsensbedarf, daß der Staat es vorzieht, auf den Einsatz imperativer Mittel zu verzichten, und statt dessen zu indirekt wirkenden Steuerungsmitteln greift. Im Unterschied zu Befehl und Zwang lassen diese ihrem Adressaten freilich Entscheidungsfreiheit.

Der Staat wird dadurch bei der Verfolgung des Gemeinwohls von der Folgebereitschaft partikularer Interessenträger abhängig. Bei hinlänglicher Vetomacht können sie ihre Folgebereitschaft von staatlichen Konzessionen abhängig machen. Der Staat hat auf diese Entwicklung mit der Ausbildung ausgedehnter Verhandlungssysteme zwischen öffentlichen und privaten Akteuren reagiert, aus denen bereits heute ein Großteil staatlicher Entscheidungen hervorgeht.

Beide Entwicklungen lassen die Verfassung nicht unberührt. Wo das Gesetz staatliches Handeln nur noch schwach determiniert, fällt sowohl die demokratische Legitimation der Verwaltung als auch ihre rechtsstaatliche Bindung und Kontrolle aus. Besondere Verfahrensanforderungen an derartige Entscheidungen haben die Lücke bisher nur unzureichend schließen können. Wo politische Maßnahmen ausgehandelt werden, rücken zum einen Akteure in den staatlichen Entscheidungsprozeß ein, die nicht in den verfassungsrechtlichen Legitimations- und Verantwortungszusammenhang eingebunden sind, zum anderen bringt dieser Prozeß Entscheidungen hervor, die sich jenen verfahrensrechtlichen Sicherungen entziehen, die die Verfassung für kollektiv verbindliche Entscheidungen vorschreibt. Die Schlußfolgerung kann freilich nicht die Einstellung von Staatsaufgaben sein, die sich dem verfassungsrechtlichen Zugriff entziehen. Die Konsequenz wäre nicht allein eine Legitimationseinbuße des Staates, sondern auch eine Verletzung anderer Verfassungsgebote, namentlich des Sozialstaatsprinzips. Es muß vielmehr der Versuch unternommen werden, die verfassungsrechtlichen Anforderungen auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Diese Aufgabe ist nicht leicht und auch von der Wissenschaft bislang nicht überzeugend gelöst. Die Verfassungskommission scheint sie aber nicht einmal wahrzunehmen.

 

III

Solche Verlustlisten verfassungspolitisch relevanter Themen machen den Zusammenhang zwischen Verfahren und Ergebnis sichtbar. Wo die Verfassungsberatung nicht auf einen politischen Umbruch folgt, sondern den Akteuren der laufenden Tagespolitik überlassen wird, vollzieht sie sich auch nach den Bedingungen der Tagespolitik. Hinzugezogene Experten vermögen daran nichts zu ändern, weil sie weder Themen setzen noch Tagesordnungen bestimmen, sondern im Rahmen vorgegebener Agenden auf Fragen antworten. Die Chance, die von der Wiedervereinigung veranlaßte Verfassungsreform aus dieser Sphäre zu heben, ist verpaßt. Die nächste Frage lautet, ob die Akteure des politischen Tagesgeschäfts auch bei der Verabschiedung der Reformempfehlungen, die sie selber vorlegen, unter sich bleiben sollen. Schon jetzt läßt sich absehen, daß darüber die Grunddifferenz, die die Verfassungsdiskussion seit 1990 durchzieht, abermals aufbrechen wird: Verfassungsrevision als parlamentarisches Routinegeschäft der Parteien oder als Akt, in dem das Volk nach dem säkularen Ereignis der Wiedervereinigung seine revidierte Grundordnung legitimiert.

Für ein Referendum über das revidierte Grundgesetz spricht eine Reihe von Gründen. Die Volksabstimmung ist die gültige Form der Verfassungsgebung. Nur die Sondersituation der deutschen Teilung hat sie 1949 verhindert. Die Schöpfer des Grundgesetzes gingen aber wie selbstverständlich davon aus, daß es mit der Wiedervereinigung auch zu einem Volksentscheid über die gesamtdeutsche Verfassung kommen werde, und haben dies in Art. 146 GG zum Ausdruck gebracht, wenn auch nicht zwingend vorgeschrieben. Die Verheißung sollte nach dem Wegfall des Hindernisses erfüllt werden. Dabei geht es nicht um basisdemokratische Illusionen. Gerade das Grundgesetz hat gezeigt, daß die Legitimation einer Verfassung nicht notwendig von einer Volksabstimmung abhängt. Sie muß von einem immerwährenden Konsens getragen sein, und dafür sind vergangene Volksabstimmungen nur von geringer Überzeugungskraft. Dennoch hat es Sinn, diesen Akt jetzt zu setzen. Wenn sich die Bevölkerung der alten Bundesrepublik das Grundgesetz auch ohne Referendum in einem langen Prozeß der Bewährung zu eigen gemacht hat, so fehlt eine vergleichbare Aneignung doch für die Bevölkerung der früheren DDR. Es wäre angemessen, wenn sie, der die Last der Umstellung vor allem aufgebürdet ist, Gelegenheit erhielte, sich für die Verfassung, unter der sie künftig leben wird, ausdrücklich auszusprechen.

Daß Verfassungen durch Volksentscheide in Kraft gesetzt werden, entspricht freilich nicht nur der Übung seit den Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, sondern hat auch seinen inneren Grund. Dieser ergibt sich aus der Funktion von Verfassungen. Sie bilden die Konsensbasis, auf deren Grundlage eine Gesellschaft sich politisch eint und ihre Meinungs- und Interessengegensätze austrägt. Damit liegt aber eine fundamentale Differenz zwischen der Verfassung und allen anderen Herrschaftsakten. Die Verfassung ist ihnen vorgeordnet. Herrschaftsansprüche und Herrschaftsakte sind nur auf ihrer Grundlage und in ihrem Rahmen legitim. Die Verfassung kann daher nicht das Produkt desselben Prozesses sein, den sie erst begründen und strukturieren soll. Deswegen wird die legitimierende und limitierende Funktion der Verfassung aufs Spiel gesetzt, wenn die Herrschenden die Bedingungen der Herrschaftsausübung selber verändern können. Das Grundgesetz sichert sich dagegen durch die unübersteigbare Änderungsschranke des Art. 79 Abs. 3 und das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit. Solange keine Partei über zwei Drittel aller Stimmen in Bundestag und Bundesrat verfügt, müssen Regierungsmehrheit und Opposition daher übereinstimmen, wenn die Verfassung geändert werden soll.

Diese Kautelen mögen für die punktuellen Korrekturen, die eine relativ ausführliche und relativ präzise Verfassung von Zeit zu Zeit nötig macht, ausreichen. Schon jetzt ist aber absehbar, daß die Empfehlungen der Kommission diese Dimension überschreiten. Die Verfassungsreform des Jahres 1993 wird die umfangreichste und einschneidendste in der Geschichte des Grundgesetzes sein und auch die großen Verfassungsänderungen aus Anlaß der Wiederbewaffnung, der Notstandsgesetzgebung und der Bundesstaatsund Finanzreform in den Schatten stellen. Nicht zuletzt im Blick auf die europäische Einigung geht es um mehr als bloße Veränderungen im System. Die bevorstehende Verfassungsreform kommt einer Veränderung des Systems selber nahe.8

Änderungen solchen Ausmaßes dürfen sich die politischen Akteure und Mitglieder der staatlichen Organe nicht selber gewähren. Sie müssen vom Volk, dem sie ihren Auftrag verdanken, sanktioniert werden. Ja, es wäre bei dieser Gelegenheit zu überlegen, ob nicht im Interesse der freiheitssichernden Differenz von Verfassung und Amtsausübung, pouvoir constituant und pouvoirs constitués, künftig alle Verfassungsänderungen einer Volksentscheidung unterworfen werden sollten.

 

 

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Vgl. Dieter Grimm, Zwischen Anschluß und Neukonstitution in der FAZ vom 5.April 1990; wiederabgedruckt in Kritische Vierteljahresschrift fürGesetzgebung und Rechtswissenschaft, Nr.3, 1990.
  2. Die Diskussion ist dokumentiert in Bernd Guggenberger / Tine Stein (Hrsg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit. München: Hanser 1991.
  3. Vgl. Dieter Grimm, Die Zukunft der Verfassung. Frankfurt: Suhrkamp 1991.
  4. Vgl. Dieter Grimm, Die politischen Parteien. In: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Berlin: de Gruyter 1983.
  5. So Heidemarie Wieczorek-Zeul in Das Parlament vom 23.Oktober 1992; vgl. auch Wernhard Möschel, Fünf Optionen für Europa in der FAZ vom 12. September 1992.
  6. Vgl. Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? (Baden-Baden: Nomos 1991), namentlich den Beitrag von M. Rainer Lepsius.
  7. Vgl. Dieter Grimm, Subsidiarität ist nur ein Wort in der FAZ vom 17.September 1992.
  8. 8 Vgl. Dietrich Murswiek, Maastricht − nicht ohne Volksentscheid! in der SZ vom 14.Oktober 1992.

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