Merkur, Nr. 9, März 1948

Goethe als Kritiker

von Ernst Robert Curtius

Für Elliott Coleman in Baltimore

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Die literarische Kritik hat im deutschen Geistesleben keine anerkannte Stelle. Deutschland hat keinen Sainte-Beuve gehabt und konnte ihn wohl auch nicht haben. Literarische Kultur ist bei uns Sache verstreuter Einzelner, nicht Bedürfnis des lesenden Publikums. Ein gesicherter Bestand literarischer Tradition fehlt. Was als Dichtung produziert wird, pflegt als „Weltanschauung“ konsumiert zu werden. Die großen deutschen Zeitungen hatten fest angestellte Musik- und Theaterkritiker (Musik, Theater und Film bilden bekanntlich die „Kultur“ oder das „Kulturelle“ — sie können „betrieben“ werden). Aber sie hatten keinen Literaturkritiker. Der Büchereinlauf wurde an zufällige Mitarbeiter verteilt. Ihre Stimmen hatten kein Gewicht, konnten es nicht haben. Mit den führenden Zeitschriften war es nicht besser. Die kurze Blüte der „Süddeutschen Monatshefte“ mit Josef Hofmiller als Kritiker war die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Frankreich hatte einen Albert Thibaudet, England ein Rezensionsorgan wie das Times Literary Supplement. Wir konnten dem nichts entgegenstellen.

Das war nicht immer so. Es ist eine Verfallserscheinung, die zu analysieren wäre. Tacitus und Quintilian haben den Verfall der römischen Beredsamkeit untersucht. Adam Müller hielt 1812 in Wien „Zwölf Reden über die Beredsamkeit und deren Verfall in Deutschland“. Man könnte ein Kapitel schreiben über die Kritik und deren Verfall in Deutschland. Denn zwischen 1750 und 1830 gab es eine deutsche Kritik. Diese Zeitspanne entspricht dem Lebenslauf Goethes. Sie ist aber zugleich die Aera der Revolutionen, aus denen die moderne Welt hervorgegangen ist. In England spielt sich die industrielle Revolution ab; in Frankreich die gesellschaftliche; in Deutschland die philosophische und wissenschaftliche, bezeichnet durch die Namen Lessing und Herder, Winckelmann und Friedrich Schlegel, Kant, Fichte und Hegel. Von diesen drei Revolutionen war die französische am leichtesten zu erkennen. Die deutsche wurde begreiflicherweise zunächst nur in Deutschland registriert, und zwar durch die Romantik. Friedrich Schlegel und Adam Müller faßten sie als Entsprechung zur französischen Revolution auf. Die industrielle Revolution Englands ist sehr viel später als historischer Vorgang erster Ordnung erkannt und benannt worden.

Wenn die deutsche Romantik von einer philosophischen und wissenschaftlichen Revolution sprach, so bediente sie sich einer politischen Metapher. Aber ein realer und bedeutsamer Vorgang war damit bezeichnet: eine Bewegung, die alle Gebiete des geistigen Lebens umfaßte. Sie war verteilt auf drei Generationen, die ineinandergriffen. Philosophen und Altertumsforscher, Dichter und Historiker wirkten zusammen, absichtslos und doch so, als wäre ihnen ein gemeinsames Werk aufgetragen. Das vermittelnde Element aber, das alldurchdringende Fluidum war der Geist der Kritik, dies Wort in dem weitesten Sinn genommen, der Kants Vernunftkritik ebenso umfaßt wie Lessings Laokoon; die Kunstgeschichte Winckelmanns wie die literarhistorischen Vorlesungen der Schlegels; Schleiermachers Reden über Religion wie Adam Müllers Reden über deutsche Poesie und Wissenschaft (1805). Das Wesen der ganzen Bewegung war: Vergegenwärtigung und Verstehen der gesamten europäischen Tradition. Ein solches Verstehen war aber zugleich Neuwertung und Bewußtmachung. Es bedeutete, wenn ich diesen Ausdruck brauchen darf, eine Integration. Das war nur von einer neuen Bewußtseinsstufe aus möglich: Überwindung der Aufklärung durch eine kritische Philosophie. Sie hat in dem halben Jahrhundert, das von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ bis zu Hegels Tode reicht, alle Stufen dialektischer Entwicklung durchlaufen — ein Prozeß, der seine einzige Analogie in dem Denken der Vorsokratiker hat. Die deutsche Philosophie spaltete sich in gegnerische Schulen. Aber für die Kritik bedeutete das nur einen Gewinn. Sie konnte sich von jedem Schulstandpunkt lösen, um das Philosophieren selbst als pure Funktion und als Potenzierung des Geistes zu begreifen. Das besagt der Satz des Novalis, den Walter Pater zu zitieren liebte: „Philosophieren heißt vivifizieren“. Das meint auch Friedrich Schlegel, wenn er die Kritik definiert als „Verstehen des Verstehens“.

Die Theologie des Aristoteles faßte den göttlichen Weltgeist als das „Denken des Denkens“ auf. Diese Funktion nahm der deutsche Idealismus für die Philosophie in Anspruch. Friedrich Schlegels Formel überträgt sie auf die Kritik. Man könnte den Gehalt des Gedankens auch so ausdrücken: Kritik ist die Literatur der Literatur. Oder deutlicher: Kritik ist die Form der Literatur, deren Gegenstand die Literatur ist. T. S. Eliot hat einmal gesagt, der Roman sei die Form, in welcher die Literatur „die größte Zahl affiziere“. Kritik, so fügen wir hinzu, ist die Form, in der sie die kleinste Zahl affiziert. Hermetische Lyrik findet Glossatoren und Adepten. Kritik scheint den happy few vorbehalten zu sein; in Deutschland jedenfalls.

 

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In dem großen Zeitalter der deutschen Kritik steht Goethe als Empfangender und Teilnehmender, als Mitwirkender und als Gegenwirkender. Lessing, Herder, Winckelmann hat er aufgenommen. Am 21. Februar 1781 schreibt er an Frau v. Stein: „Keine Viertelstunde vorher, eh die Nachricht von Lessings Tod kam, macht ich einen Plan, ihn zu besuchen. Wir verlieren viel, viel an ihm. Mehr als wir glauben“. Die Beziehung zu Herder war trotz aller Trübungen höchst produktiv und wurde in „Dichtung und Wahrheit“ dargestellt. Dem „herrlichen“ Winckelmann hat Goethe eines seiner schönsten und unbekanntesten Werke gewidmet, eine Biographie aus universalhistorischer Perspektive. Hier findet er auch Anlaß, ein Wort über die Philosophie und ihre Stellung in der deutschen Bewegung zu sagen. Von jeher hätten die Philosophen den Haß der „Welt und Lebensmenschen“ auf sich gezogen. Da die Philosophie ihrer Natur nach auf das Allgemeinste und Höchste Anspruch macht, „so muß sie die weltlichen Dinge als in ihr begriffen, als ihr untergeordnet ansehen und behandeln“. Goethe erblickt darin „anmaßliche Forderungen“, wie denn Winckelmann sich bitter über die Philosophie seiner Zeit und ihren ausgebreiteten Einfluß beklagte.

„Doch steht, indem uns die Ereignisse neuerer Zeit vorschweben, eine Bemerkung hier wohl am rechten Platze, die wir auf unserem Lebenswege machen können, daß kein Gelehrter ungestraft jene große philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe, außer etwa die echten Altertumsforscher, welche durch die Eigenheit ihres Studiums vor allen anderen Menschen vorzüglich begünstigt zu sein scheinen“. Der Philosophie wird Reverenz erwiesen, aber der Altertumsforscher wird in aller Form von ihr dispensiert. So ist er gleichsam doppelt begünstigt. Goethe befreit die Geschichtsforschung von den totalitären Ansprüchen der Philosophie. Der Standpunkt ist bezeichnet, den Ranke und Burckhardt einnehmen werden. Die Distanzierung gegenüber der Philosophie weist auf das neunzehnte, das historische Jahrhundert voraus. Sie bedeutet zugleich einen Markstein der Grenze, die Goethe zwischen sich und den jüngeren Kritikern zieht. Wie diese Grenzlinie verläuft, ist hier nicht zu schildern. Mit den Anrainern (den Schlegels und Adam Müller) kann Berührung oder auch Streit statthaben. Vom Goethischen „Kunststaat“ sind sie ausgeschlossen.

Wir hatten Kritik als die Literaturgattung definiert, deren Gegenstand die Literatur ist. Diese weite Fassung der Begriffe empfiehlt sich besonders angesichts einer so universalen kritischen Leistung, wie die Goethes es gewesen ist. Die Beurteilung neuer Produktionen ist nur eine Provinz des kritischen Reiches. Es gibt meines Wissens nur eine einzige vollständige Beschreibung dieses Reiches: die History of Criticism von George Saintsbury, die nun ein halbes Jahrhundert alt ist. Der Verfasser erklärt die Wertung Goethes als Kritiker für einen „abgestandenen Aberglauben“. Und doch hatte Sainte-Beuve 1858 Goethe als dem „größten aller Kritiker“ gehuldigt. Ich erkläre mir den Widerspruch daraus, daß Saintsbury Goethe wenig kannte und ihn deshalb nicht richtig sehen konnte. Goethes Kritik wird nämlich erst dann sichtbar, wenn man sie im Zusammenhang mit dem ganzen Geisteskosmos Goethes begreift. Seine Rezensionen von Grübels „Gedichten in Nürnberger Mundart“ oder Hagens „Olfried und Lisena“ z. B. können kurios erscheinen, aber sie müssen im ökonomischen System des Ordners und des Geschmackbildners Goethe gesehen werden. Den Kritiker Goethe findet man am wenigsten in den „Schriften zur Literatur“. Seine Reflexionen über Dichtung und die Funktion des Dichters in der Gesellschaft sind verstreut über den Wilhelm Meister, den Tasso, die Noten zum Divan, die Maximen. Die Gespräche mit Eckermann bieten reiches Material; zwar vielfach bedingt durch wechselnde Stimmungen, denen der vom Sonnen- und Barometerstand so empfindlich Abhängige bis zulegt unterworfen war; bedingt auch durch die etwas subalterne Persönlichkeit des Hörers; autoritativ dennoch insofern, als Goethe die Niederschriften durchgesehen hatte. Aber noch mehr muß man hinzunehmen, um das Corpus goethischer Kritik zu konstituieren: manches aus den Jugenddramen, die in aristophanischer und lukianischer Manier literarische Zeitkrankheiten verspotten; vieles aus den Gedichten; aus den Anmerkungen zu „Rameaus Neffe“; dem unerschöpflichen Reichtum der Briefe. Auch die Schriften zur Naturwissenschaft sind von kritischen Goldadern durchzogen. In den „Materialien zur Geschichte der Farbenlehre“ wird der Begriff der Überlieferung erörtert, was zu einer vergleichenden Charakteristik der Bibel, des Plato und des Aristoteles Anlaß gibt.

 

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Wir dürfen weiter gehen. Goethes Literaturtheorie wird transparent erst im Lichte seiner Naturlehre. Wie man weiß, ist für Goethe wie für den biblischen Schöpfungsbericht der Urgegensatz von Licht und Finsternis ein Grundphänomen. Auch bei Goethe wird jenes als göttliche Schöpfung bestimmt: „Das Licht ist eine der ursprünglichen, von Gott erschaffenen Kräfte und Tugenden, welches sein Gleichnis in der Materie darzustellen sich bestrebt“. Das Materielle ist entweder durchsichtig; oder undurchsichtig (dunkel); oder halbdurchsichtig (trüb). „Wenn nun die Tugend des Lichts durch das Trübe hindurchstrebt, so daß seine ursprüngliche Kraft zwar immer aufgehalten wird, jedoch aber immer fortwirkt, so erscheint sein Gleichnis Gelb oder Gelbrot.“ Das ist ein Lehrsatz der Farbenlehre. In die Sprache der Poesie transponiert:

Als die Welt im tiefsten Grunde

Lag an Gottes ew’ger Brust,

Ordnet‘ er die erste Stunde

Mit erhabner Schöpfungslust,

Und er sprach das Wort: „Es werde!“

Da erklang ein schmerzlich Ach!

Als das All mit Machtgeberde

In die Wirklichkeiten brach.

Auf tat sich das Licht: so trennte

Scheu sich Finsternis von ihm,

Und sogleich die Elemente

Scheidend auseinander fliehn.

Rasch, in wilden wüsten Träumen

Jedes nach der Weite rang,

Starr, in ungemeßnen Räumen,

Ohne Sehnsucht, ohne Klang.

Stumm war alles, still und öde,

Einsam Gott zum erstenmal!

Da erschuf er Morgenröte,

Die erbarmte sich der Qual;

Sie entwickelte dem Trüben

Ein erklingend Farbenspiel,

Und nun konnte wieder lieben,

Was erst auseinander fiel.

 

Die Morgenröte entspricht dem Gelb öder Gelbrot. „Sezt aber ein Finsteres dem Trüben Grenze, so daß des Lichts Tugend nicht fortzuschreiten vermag, sondern aus dem erhellten Trüben als ein Abglanz zurückkehrt, so ist dessen Gleichnis Blau und Blaurot.“ Das Licht: Gleichnis Gottes; die Farben: Gleichnisse des Lichtes —- schon wenn er die Grundaxiome der Farbenlehre ausspricht, denkt Goethe in Gleichnissen. Heiter und trübe, düster und dunkel werden dann selbst Gleichnisse für Zustände der Geschichte und der Seele. „Des Menschen Verdüsterungen und Erleuchtungen machen sein Schicksal“ (zu Eckermann 1828). Anwendung auf Geschichte und Literatur: „Es ist in der altdeutschen düsteren Zeit ebensowenig für uns zu holen, als wir aus den serbischen Liedern und ähnlichen barbarischen Volkspoesien gewonnen haben. Man liest es und interessiert sich wohl eine Zeit dafür, aber bloß um es abzutun und sodann hinter sich liegen zu lassen. Der Mensch wird überhaupt genug durch seine Leidenschaften und Schicksale verdüstert, als daß er nötig hätte, dieses noch durch die Dunkelheiten einer barbarischen Vorzeit zu tun. Er bedarf der Klarheit und der Aufheiterung, und es tut ihm not, daß er sich zu solchen Kunst- und Literaturepochen wende, in denen vorzügliche Menschen zu vollendeter Bildung gelangten, so daß es ihnen selber wohl war und sie die Seligkeit ihrer Kultur wieder auf andere auszugießen imstande sind“. Wie Erleuchtung und Verfinsterung, so entsprechen sich Barbarei und Bildung. Zwischen den Polen beider Gegensatzpaare findet ein notwendiger Wechsel, eine Pendelbewegung statt. Zeiten der Verfinsterung müssen also periodisch wiederkehren. Ist dies als gesetzmäßiger Vorgang begriffen, so steht man auf einer Stufe, von der aus eine neue Barbarisierung — wie wir sie heute erleben — zwar nicht bejaht, aber auch nicht mehr beklagt werden kann. „Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen“.

Vorherrschaft des Lichtes über das Trübe ist der Goethe gemäße Zustand. Er bezeichnet ihn mit dem Wort „heiter“. Im verfallenen Sprachbewußtsein der Gegenwart gilt es als Synonym für „froh“. Ursprünglich wurde es aber nur vom wolkenlosen Tag- und Nachthimmel gebraucht wie das lateinische serenus. Bei der Niederschrift des vierten Aktes von „Iphigenie auf Tauris“ notiert Goethe auf dem Schwalbenstein bei Ilmenau: sereno die, quieta mente. 1775 wählt er sich den „herrlichen Morgenstern“ zum Wappen. In Dornburg — Sommer 1828 — liegt er oft vor Tagesanbruch im Fenster, um sich „an der Pracht der jetzt zusammenstehenden drei Planeten zu weiden und an dem wachsenden Glanz der Morgenröte zu erquicken.“ Israels Zug durch die Wüste wird im Bilde einer Trübung gesehen: „Der heitere Nachthimmel, von unendlichen Sternen glühend, auf welchen Abraham von seinem Gott hingewiesen worden, breitet nicht mehr sein goldenes Gezelt über uns aus . . . Alle fröhlichen Phänomene sind verschwunden, nur Feuerflammen erscheinen an allen Ecken und Enden. Der Herr, der aus einem brennenden Busche Moses berufen hatte, zieht nun vor der Masse her in einem trüben Glutqualm, den man tags für eine Wolkensäule, nachts als ein Feuermeteor ansprechen kann“.

Im Bilde nächtiger Sternenklarheit erschaut Goethe das Gleichnis erwünschtesten Weltbezuges:

Hast du so dich abgefunden.

Werde Nacht und Äther klar,

Und der ew’gen Sterne Schar

Deute dir belebte Stunden,

Wo du hier mit Ungetrübten,

Treulich wirkend, gern verweilst,

Und auch treulich den geliebten

Ewigen entgegeneilst.

Als Goethe 1826 ein Geschichtswerk von Schlosser anzeigte, bemerkte er: „Der Verfasser gehört zu denjenigen, die aus dem Dunklen ins Helle streben, ein Geschlecht, zu dem wir uns auch bekennen“. „Dunkel“, „düster“, „trübe“ sind im Sprachgebrauch des Kritikers Goethe Formeln der Ablehnung. Höchstes Lob dagegen bedeutet es, wenn er von dem Hirtenroman des Longos sagt: „Es ist darin der hellste Tag . . . keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste, reinste Himmel“. Er zieht das Werk dem „guten Virgil“ vor. Ein Verstoß gegen das orthodoxe Credo des Klassizismus.

 

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Das Urteil über Longos könnte ein Warnungssignal für alle sein, die Goethe auf das klassische Griechentum festlegen möchten. Klassische Tendenz ist im italienischen Goethe wirksam, wenn auch nicht allein wirksam (im Garten der Villa Borghese wurde die Hexenszene des Faust geschrieben); dann in der Epoche der Freundschaft mit Schiller. Der späte Goethe aber gewinnt ein neues Verhältnis zum Altertum. Die Spätantike wird sein Wahlraum. Er meint, schon einmal unter Hadrian gelebt zu haben (1815 zu Boisserée). [1. Auf Verse Hadrians spielt Goethe 1770 an, dann in den Römischen Elegien Erstes Buch, Nr. XV). In den „Wanderjahren“ wird „segnend jenes edlen kaiserlichen Wanderers Hadrian“ gedacht.] Die „klassische“ Walpurgisnacht ist eine Abbreviatur der Gesamtantike, in der die Schlachtfelder von Pydna und Pharsalus so stark akzentuiert sind wie die heroische Urzeit. Ihre mythologisch-philosophische Staffage ist überwiegend spätantiken Autoren entnommen, aber auch Faustens Gang zu den Müttern knüpft an Nachrichten des Plutarch an. Nicht nur ein „klassischer“ Ausschnitt — nein die Antike in allen ihren Phasen und Metamorphosen wird bejaht; ohne paideia und juror paedagogicus. Eine geisterhafte Antike, in der andeutenden und abstrahierenden Manier der Spätwerke großer Meister gegeben. „Die Behandlung mußte aus dem Spezifischen mehr in das Generische gehen“, hat Goethe zu Riemer gesagt, welcher fortfährt: „Tizian, der große Kolorist, malte im hohen Alter diejenigen Stoffe, die er früher so konkret nachzuahmen gewußt hatte, auch nur in abstracto, z. B. den Sammet, nur als Idee davon: eine Anekdote, die Goethe mir mehrmals mit Beziehung auf sich erzählte“.

Herman Hefele hat den Versen der klassischen Walpurgisnacht „barocke Kraft und Herrlichkeit“ nachgerühmt. Die Meeresszene, der Hymnus auf das Bewegte, ist „ein in Worte gegossener römischer Prachtbrunnen Berninis“ — ,,wie denn der Barock die Form ist, in der der deutsche Geist das Klassische am lautersten zu gestalten versteht“. Die geistvolle Formulierung bezeichnet aber, wenn man die kunstgeschichtliche Draperie abstreift, doch nichts anderes als die Tatsache, daß Faust II in die Kategorie des Klassischen nicht eingeht. Das antikische Wesen wird aus der Perspektive einer Spätzeit gesehen, die an keine historische Epoche gebunden ist. Das Rom des Bürgerkrieges ist reflektiert in dem Epos der neronischen Aera. Das Hellas der Heroenzeit steht neben dem der Kreuzfahrerburgen, Germanen besiedeln den Peloponnes. Philemon und Baucis werden aus hellenistisch-ovidischer Sphäre an das nordische Meer verpflanzt. Zeiten und Räume schieben sich ineinander und werden transponiert in die allegorisch-symbolische Gleichzeitigkeit, die wir aus der Mysterienbühne des Mittelalters, aus Calderon und aus Hofmannsthal kennen. Diese Kunstweise, die so ungriechisch ist, ließe sich als ein Weiterleben mittelalterlicher oder renaissancehafter Art auffassen — wenn nicht die Cäsur einer an Racine gebildeten Klassik (Iphigenie, Tasso) sie davon schiede. Nicht Kontinuität liegt vor, sondern Wiederkehr auf höherer Stufe — „Spiraltendenz“, um einen Begriff aus Goethes Naturlehre zu entlehnen.

Eine solche Übertragung ist goethischer Denkform gemäß. Der Urgegensatz des Heiteren und des Trüben übergreift, so sahen wir, die Sphären von Natur und Geist. Aus den Komplementärfarben erschaute Goethe „ein großes Gesetz, das durch die ganze Natur geht“, das Gesetz des „geforderten Wechsels“. „Vielleicht, fügte er an, beruhen auch die eingeflochtenen heiteren Szenen in den Shakespeareschen Trauerspielen auf diesem Gesetz . . . allein auf die höhere Tragödie der Griechen scheint es nicht anwendbar“. Hier haben wir den Fall, daß klassisch musterhafte Werke dem alldurchwaltenden Gesetz zu widerstreben scheinen. So kann sich auch aus der Naturbetrachtung eine Relativierung klassischer Normen ergeben. Es ist sehr charakteristisch, wie Goethe sich in einer solchen Situation des Denkens verhält. Er stellt fest, alles hänge ineinander; ein Gesetz der Farbenlehre könne auf eine Untersuchung der griechischen Tragödie führen. „Nur muß man sich hüten, es mit einem solchen Gesetz zu weit zu treiben und es zur Grundlage für vieles Andere machen zu wollen; vielmehr geht man sicherer, wenn man es immer nur als ein A n a l o g o n

, als ein Beispiel gebraucht.“

Die Übertragung von Naturbegriffen auf Geistbegriffe hat also bei Goethe immer nur den Sinn eines analogischen Bezuges. Das gilt in eminentem Sinne auch für die Begriffe von Metamorphose und organischer Bildung. „Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt ab mit der Blüte und dem Samen“. Goethe findet Analogien dazu in der Bildung der Raupe, der Wirbeltiere, endlich „ganzer Korporationen“ wie des Bienenstaates. „So bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu Schutz und Heil an der Spitze stehen; und so vereinigen sich die poetischen Kräfte der Franzosen in Voltaire.“ Große Völker wie die Franzosen erscheinen dem Naturforscher als „Korporationen“ wie der Bienenstaat. Dieser bringt die Königin hervor und setzt sie sich zum Haupt. So ist Voltaire das potenzierte Frankreich. Es handelt sich hier um ein geistreich spielendes und unverbindliches Aperçu. Der würde fehlgehen, der Goethes Geschichtsmorphologie auf das Schema der Knoten und der Wirbelbildung zurückführen wollte. Es ist lehrreich, daß sich für das Phänomen Voltaire eine andere Ableitung findet, die von Botanik und Osteologie frei ist: „Wenn Familien sich lange erhalten, so kann man bemerken, daß die Natur endlich ein Individuum hervorbringt, das die Eigenschaften seiner sämtlichen Ahnherren in sich begreift und alle bisher vereinzelten und angedeuteten Anlagen vereinigt und vollkommen ausspricht. Ebenso geht es mit Nationen, deren sämtliche Verdienste sich wohl einmal, wenn es glückt, in einem Individuum aussprechen. So entstand in Ludwig XIV. ein französischer König im höchsten Sinne, und ebenso in Voltaire der höchste unter den Franzosen denkbare, der Nation gemäßeste Schriftsteller“. Oder eine dritte Wendung desselben Gedankens: „Es war die Metamorphose einer hundertjährigen Literatur, die seit Ludwig XIV. heranwuchs und zulegt in voller Blüte stand“.

Natur und Geschichte werden in einem Blick erfaßt. Als Kritiker ist Goethe auch Historiker. Er zeigt die geistigen Produktionen auf ihrem geschichtlichen Hintergrund. Paris, „wo an jeder Straßenecke ein Stück Geschichte sich entwickelt hat“, bietet Bedingungen für die Ausbildung jener glanzvollen Literatur, die sich von Moliere bis Diderot entfaltet. Die Romane von Scott „ruhen auf der Herrlichkeit der drei britischen Königreiche“. Dagegen der deutsche Schriftsteller! Deutschlands Urgeschichte liegt zu sehr im Dunkel, die spätere hat „aus Mangel eines einzigen Regentenhauses“ kein allgemeines nationales Interesse. Klopstock versuchte sich an Hermann, „allein der Gegenstand liegt zu entfernt, niemand hat dazu ein Verhältnis“. Und Lessing! In seiner „Minna von Barnhelm“ mußte er mit den Händeln der Sachsen und Preußen vorliebnehmen, weil er nichts Besseres fand. Er war in eine schlechte Zeit hineingeboren und daher zu polemischer Wirkung genötigt: in der Emilia Galotti hatte er seine „Piken“ auf die Fürsten, im Nathan auf die Pfaffen. Goethe selbst hatte mit Götz von Berlichingen einen glücklichen Griff getan. „Beim Werther und Faust mußte ich dagegen wieder in meinen eigenen Busen greifen, denn das Überlieferte war nicht weither“. Im Wilhelm Meister mußte er den allerelendesten Stoff wählen, der sich nur denken läßt: „herumziehendes Komödiantenvolk und armselige Landedelleute“. Es ist der Hochbetagte, der so spricht (1826). „Hätte ich aber, fährt er fort, so deutlich wie jetzt gewußt, wieviel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist, ich hätte keine Zeile geschrieben, sondern etwas anderes getan“.

 

5

Das Wort kann befremdend erscheinen, aber es schließt vieles auf. Erst in seiner mittleren Zeit entdeckt Goethe, er sei „eigentlich zum Schriftsteller geboren“. Aber 1791 an Jacobi: er attachiere sich täglich mehr an die Naturwissenschaften und merke, „daß sie in der Folge mich vielleicht ausschließlich beschäftigen werden“. Lange glaubte er sich zum Künstler bestimmt. Es war, um eine ihm bedeutsame Formel zu gebrauchen, eine „falsche Tendenz“. Die Geschichte einer solchen ist Wilhelm Meisters „theatralische Sendung“. Goethe selbst hatte lange den „Wahn“, es sei möglich, ein deutsches Theater zu bilden und er könne selber dazu beitragen. „Ich schrieb meine Iphigenie und meinen Tasso und dachte in kindischer Hoffnung, so würde es gehen. Allein es regte sich nicht und rührte sich nicht und blieb alles wie zuvor“. Zeichner, Naturforscher, Reformator der Schaubühne, Staatsdiener, Schriftsteller — diese und andere Möglichkeiten lagen in ihm. Als Greis erst konnte er sie in ihrer Bedingtheit überschauen. Er war sich selbst historisch geworden, ja in den letzten Jahren, als einsam Überlebender, „mythisch“. Auch eine späte Produktion wie der Divan war ihm nach einem Jahrzehnt fremd geworden: „es ist wie eine abgestreifte Schlangenhaut am Wege liegen geblieben“ (1827); ein Bild, das Goethe schon in seiner frühen Weimarer Zeit auf sich anwandte. Die Historisierung des eigenen Lebens, die unvernünftige Tadler veranlaßt, an „Dichtung und Wahrheit“ zu mäkeln — noch 1947 tut es Barker Fairley (A Study of Goethe) — bedeutet nicht Verknöcherung oder Erstarrung, sondern eine Auswirkung der Entelechie.

Die Stufen des sich vollendenden Lebens werden transparent und können zusammengeschaut werden in höherer Einheit. Darum nannte Goethe das Gedicht „Um Mitternacht“ — diesen reinen Dreiklang — sein „Lebenslied“, „eine meiner liebsten Produktionen“. Erst auf dieser höchsten Stufe meint Goethe zu wissen, „wieviel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist“. Das „Vortreffliche“ als Kategorie des Wertens entspricht der Lebensstufe des höchsten Alters — denn es impliciert die Dauer — und damit ein Zeitgefühl, das mit Jahrhunderten und Jahrtausenden rechnet. Jugend denkt in Jahren, das reife Alter in Jahrfünften, Jahrzehnten:

Lustrum ist ein fremdes Wort!

Aber wenn wir sagen:

Lustra haben wir am Ort

Acht bis neun ertragen

Und genossen und gelebt

Und geliebt bisweilen,

Wird, wer nach dem Gleichen strebt,

Heule mit uns teilen . . .

1825 wurde Goethes fünfzigjähriges Dienstjubiläum gefeiert. 1827 meint er, es wäre wohl der Mühe wert, „es noch einige fünfzig Jahre auszuhalten“; denn er möchte den Panamakanal, den Suezkanal und den Rhein-Donau-Kanal noch erleben, Kanalbau ist in Faustens Meliorationstätigkeit einbegriffen. Der Palast des legten Aktes steht in einem weiten Ziergarten, an einem „großen, gradgeführten“ Kanal, auf dem Erzeugnisse fremder Weltgegenden einfahren. Faust ist ein Hundertjähriger. Das säkulare Denken ist auf die Bühne menschlicher Existenz projiziert. Damit ist der Bezirk der Makrobiotik berührt, der Goethes Zeitgenossen so magisch anzog. Goethe selbst unterhielt die Besucher seiner legten Jahre gern von der Langlebigkeit der Ninon de Lenclos. Er schilt Sömmerring, der sich mit Fünfundsiebzig sterben ließ. Er wägt die „Avantagen und Desavantagen“ der verschiedenen Lebensalter ab und findet, er besitze in seinem achtzigsten Jahr Vorteile, die er nicht mit früheren vertauschen möchte. Nach Karl Augusts Tode jammert es ihn, daß „kein Unterschied ist“ und daß auch ein solcher Mensch so früh dahin muß. „Nur ein lumpiges Jahrhundert länger, und wie würde er an so hoher Stelle seine Zeit vorwärts gebracht haben!“

Der geforderten säkularen Lebensdauer muß ein millennares Geschichtsbewußtsein entsprechen. Als Oberbaudirektor Coudray 1827 erzählt, er wolle Wielands Grab in Osmannstedt durch eine eiserne Einfassung sichern, bemerkt Goethe: „Da ich in Jahrtausenden lebe, kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen und Monumenten höre. Ich kann nicht an eine Bildsäule denken, die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste schon von künftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu sehen. Coudrays Eisenstäbe um das Wielandsche Grab sehe ich schon als Hufeisen unter den Pferdefüßen einer zukünftigen Kavallerie blinken“. Wer sich nicht von dreitausend Jahren Rechenschaft zu geben weiß, der bleibe „im Dunklen, unerfahren“.

Mit dem Blick des Lynkeus auf die Frachten ferner Länder überschaut Goethe das Königsgut der Jahrtausende. Mit welcher Bescheidenheit! Beim Betrachten pompejanischer Gemälde versinkt er in stille Andacht und bricht dann in die Worte aus: „Ja, die Alten sind auf jedem Gebiete der heiligen Kunst unerreichbar. Sehen Sie, meine Herren, ich glaube auch etwas geleistet zu haben, aber gegen einen der großen attischen Dichter wie Aeschylus und Sophokles bin ich doch gar nichts“. Oder: „Die Araber hatten in fünf Jahrhunderten nur sieben Dichter, die sie gelten ließen, und unter den verworfenen waren mehrere Canaillen, die besser als ich waren“. Er nennt Tieck ein Talent von hoher Bedeutung. „Allein, wenn man ihn über sich selbst erheben und mir gleichstellen will, so ist man im Irrtum. Ich kann dieses gerade heraussagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es wäre ebenso, wenn ich mich mit Shakespeare vergleichen wollte, der sich auch nicht gemacht hat und der doch ein Wesen höherer Art ist, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe“. Und ein letztes: „Auf alles, was ich als Poet geleistet habe, bilde ich mir gar nichts ein. Es haben treffliche Dichter mit mir gelebt, es lebten noch trefflichere vor mir, und es werden ihrer nach mir sein“. Solche und ähnliche Worte zeigen uns, wie Goethe sich aus millennarer Sicht einstufte. Sie interpretierten den Ausspruch, er hätte keine Zeile geschrieben, hätte er deutlich gewußt, „wieviel Vortreffliches seit Jahrhunderten und Jahrtausenden da ist“. Sie weisen endlich auf eine Forderung, die aller Kritik höherer Art gestellt ist, freilich meist unerfüllt bleibt: Rangordnung der Autoren. Das heißt aber auch: Unterscheidung der Geister.

 

6

Die Aneignung der orientalischen Poesie erweiterte das Reich des Kritikers Goethe. Es war ein Alexanderzug: Hellas und Asien traten in ein neues Verhältnis, das fruchtbare Spannungen enthielt. In den „Noten und Abhandlungen“ zum Divan heißen die Europäer die „Westländer“.

Orient und Occident waren nicht mehr zu trennen. Aber der Orient sollte dem Occident nicht angeglichen werden. Sir William Jones schätzte und liebte seinen Orient. Allein um dessen Produktionen bei seinen Landsleuten „einzuschwärzen“, verglich er sie mit den Griechen und Lateinern. Dazu nötigte ihn das ausschließende Vorurteil der englischen „Altkritiker“ (auch „Klassizisten“ heißen sie bei Goethe), das nichts wollte gelten lassen, „als was von Rom und Athen her auf uns vererbt worden“. Die Entdeckung der arabischen und persischen Poesie schlug eine Bresche in Goethes Klassizismus, aber sie bestätigte und verstärkte zugleich eine Bildungsschicht, die in Goethes Jugend, ja in seine Kindheit zurückreichte: die biblische. Das Alte Testament war ihm das Urbild der Überlieferung. Es barg Lehre, Poesie und die ältesten Urkunden des Menschengeschlechts. In Goethes Jugend fand man „unter den Protestanten Deutschlands“ Leser der heiligen Schriften, die alle Hauptstellen auswendig wußten, sie zur Anwendung bereithielten und eine „lebendige Konkordanz“ waren. Man nannte sie „bibelfest“, und ein solcher Beiname „gab eine vorzügliche Würde und eine unzweideutige Empfehlung“. Goethe erinnert sich dessen, als er beim Studium orientalischer Poesie auf die koranfesten Gläubigen trifft, denen der Ehrentitel Hafis erteilt wurde. Befragt, warum er ihn trage, antwortet Mohamed Schemseddin:

Weil in glücklichem Gedächtnis

Des Korans geweiht Vermächtnis

Unverändert ich verwahre

Und damit so fromm gebahre,

Daß gemeinen Tages Schlechtnis

Weder mich noch die berühret,

Die Propheten-Wort und -Samen

Schätzen, wie es sich gebühret —

Darum gab man mir den Namen.

 

Der westländische Dichter darf einstimmen:

Und so gleich ich dir vollkommen,

Der ich unsrer heil’gen Bücher

Herrlich Bild an mich genommen,

Wie auf jenes Tuch der Tücher

Sich des Herren Bildnis berühret,

Mich in stiller Brust erquickte,

Trotz Verneinung, Hindrung, Raubens,

Mit dem heitern Bild des Glaubens.

Hafis und Goethe begegnen sich im Zeichen der heiligen Schriften, und die Versenkung in östlicher Dichtung trifft mit erneutem Bibelstudium zusammen. „Denn wie alle unsere Wanderungen im Orient durch die heiligen Schriften veranlaßt worden, so kehren wir immer wieder zu denselben zurück, als den erquicklichsten, obgleich hie und da getrübten, in die Erde sich verbergenden, sodann aber rein und frisch wieder hervorspringenden Quellwassern“. Goethes Eindringen in die Welt des Islam war kein Exotismus, sondern eine Rückkehr in die reine Patriarchenluft des Ostens. Durch die Reiseberichte eines Marco Polo, eines Pietro della Valle, eines Chardin ward die Anschauung sodann bis in die neueren Jahrhunderte und räumlich bis China erweitert, wo es schon vorzügliche Romane gab, „als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten“.

Kein Begriff aus Goethes Geschichtsanschauung ist so bekannt geworden wie der der Weltliteratur. Eine seiner Wurzeln ist die Aneignung des Orients; dessen Integration in die Menschheits-Überlieferung. Eine andre die Lehre von den Stufen der Kultur, deren Goethe 1831 vier unterscheidet: die idyllische; die soziale oder civische; die allgemeinere; die universelle. Diese letzte „ist die Vereinigung aller gebildeten Kreise, die sich sonst nur berührten, die Anerkennung e i n e s Zweckes, die Überzeugung, wie notwendig es sei, sich von den Zuständen des augenblicklichen Weltlaufs zu unterrichten. Alle fremden Literaturen setzen sich mit der einheimischen ins Gleiche, und wir bleiben im Weltumlaufe nicht zurück“.

Der Weltumlauf, die steigende „Facilität der Kommunikation“, war ein Aspekt seiner Zeit, den Goethe begrüßte. Er lobt die Schnellposten, diese Neuerung des deutschen Verkehrswesens; läßt sich von der Eröffnung der Dampfschiffahrt auf dem Rhein und von der Degenhardtschen Flugmaschine berichten. Die Kanäle der Parsen, „aus deren Zirkulation die Fruchtbarkeit des Landes entquoll“, weisen auf Faustens Kanalbau voraus. Er erhoffte die Einheit Deutschlands, d. h. den Anschluß Preußens an den süddeutschen Zollverein, gleiches Münzwesen, Maß und Gewicht — aber wohlgemerkt keine staatliche Einigung: „gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände“. Die Einheit Deutschlands erwartete er von „unsern guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen“. All das klingt in dem Begriff der Weltliteratur an. Zwei polnischen Besuchern, denen er „einen prächtigen Indian mit Trüffeln“ vorsetzt, entwickelte er, bei der blinden Menge gestalteten sich die nationalen Verschiedenheiten zu unübersteiglichen Grenzen. Daraus gehe nun für die Höhergebildeten die Pflicht hervor, ebenso mildernd auf die Beziehungen der Völker einzuwirken, wie die Schiffahrt zu erleichtern oder Wege über Gebirge zu bahnen. Der Freihandel der Begriffe und Gefühle steigere ebenso wie der Verkehr in Produkten und Bodenerzeugnissen den Reichtum und das allgemeine Wohlsein der Menschheit. Das Wort Weltliteratur scheint in dem Gespräch nicht gefallen zu sein, aber ihr Begriff ist entwickelt, und zwar als Komplement eines freihändlerischen Ideals. So wenig die Zollfreiheit nach Goethes Ansicht eine staatliche Einigung Deutschlands bewirken sollte, ebenso wenig stellte er die Weltliteratur den nationalen Literaturen entgegen. Manchmal betont er das Universelle stärker, manchmal beachtet er mehr das „Nationelle“.

Weltliteratur ist, wie alle Begriffe Goethes, keine definitorische Abgrenzung, sondern Einheitspunkt vieler Bezüge, Zentrum divergierender Perspektiven: sie ist ein Aufgegebenes. In der Divan-Epoche enthielt sie eine Korrektur des klassizistischen Vorurteils. Nach dem Abklingen jener Epoche aber schlägt das Pendel wieder zum Hellenentum aus: „Nationalliteratur will jetzt nicht mehr viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bei solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bei etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfnis von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen wir nur historisch betrachten, und das Gute, soweit es gehen will, uns daraus aneignen“.

Soweit es gehen will! Goethes übergreifende Denkweise steht im Gegensatz zur systematischen: Wenn er eine Position statuiert, ist auch die Negation inbegriffen. „Deutschland“, sagt er nach dem Besuch eines jungen Dichters, „steht in allen Fächern so hoch, daß wir kaum alles übersehen können, und nun sollen wir noch Griechen und Lateiner sein, und Engländer und Franzosen dazu! Ja, obendrein hat man die Verrücktheit, auch nach dem Orient zu weisen, und da muß denn ein junger Mensch ganz konfus werden.“ Man hat eine Verrücktheit . . . an der Goethe wohl gar nicht beteiligt war? Aber noch sechs Jahre später: „Man bildet sich vergebens ein, daß man allen literarischen Erscheinungen face machen könnte; es geht einmal nicht; man tappt in allen Jahrhunderten, in allen Weltteilen herum und ist doch nicht überall zuhause, stumpft sich Sinn und Urteil ab, verliert Zeit und Kraft. Mir geht es selbst so; ich bereue es, aber zu spät. Man liest Folianten und Quartanten durch und wird um nichts klüger, als wenn man alle Tage in der Bibel läse; man lernt nur, daß die Welt dumm ist, und das kann man in der Seifengasse hier zunächst auch erproben“.

Folianten und Quartanten: wir können es nachprüfen an Goethes Benutzung der Weimarer Bibliothek, die aktenmäßig erfaßt ist. Die Zusammenstellungen ergeben, daß Goethe im Durchschnitt täglich mindestens einen mittleren Oktavband las. Das Verzeichnis der ausgeliehenen Werke erschließt die Weite seines Interessenkreises. Goethe hat etwas von jenem literarischen Polyhistorismus, den wir auch bei Herder und Jean Paul finden. Auch das ist eine Wurzel von Goethes Konzeption der Weltliteratur. Aber die Polyhistorie wird bei Goethe einer höheren Betrachtungsweise dienstbar gemacht: der vergleichenden. Sie umgreift seine Naturlehre und seine Geschichtslehre. Auf die Literatur angewandt, ergibt sie die Idee einer vergleichenden Literaturgeschichte, die ihrerseits wieder der Kritik zugute kommt: wenn Goethe z. B. den Manierismus Jean Pauls, den er in seiner klassischen Zeit ganz ablehnte, durch verwandte Züge der orientalischen Poesie erhellt und nunmehr würdigen kann. Vermöge der vergleichenden Methode erhebt sich die Polyhistorie zur echt historischen Betrachtung. Hieraus entwickelt sich ein weiterer Zusammenhang. Als Naturforscher wie als Historiker gibt sich Goethe stets Rechenschaft von der Geschichte der Forschung. Die „Noten und Abhandlungen“ zum Divan wie die „Geschichte der Farbenlehre“ geben Wissenschafts- und Gelehrtengeschichte vermischt mit eigenen Betrachtungen. Der Literaturgeschichte ist damit ein Bezirk zugewiesen, den sie freilich selten genug betritt. Sie engt sich bei uns oft allzu sehr auf Dichtungsgeschichte ein, wobei in der Schwebe bleibt, wie Dichtung gegen Literatur sinnvoll abzugrenzen sei.

Was ist das Wesen der Poesie? Ihre Stelle im System des „objektiven Geistes“? Ihre Funktion in der menschlichen Gemeinschaft? Ihr Verhältnis zu den bildenden und den redenden Künsten? Zur Philosophie? Das sind Fragen, die seit Homer immer wieder gestellt und wechselnd beantwortet worden sind. Ihren Komplex kann man als Dichtungstheorie bezeichnen. Er harrt geschichtlicher Durchleuchtung. Sie würde der Literaturgeschichte wie der Kritik zugute kommen. Aber auch für das Verständnis Goethes — das keineswegs abgeschlossen ist — würde solche Betrachtung Wesentliches bieten können. Es wird verstellt durch konventionelle Auffassungen. Wird seine Dichtungstheorie erörtert, so pflegt man darauf zu verweisen, daß er seine Werke als Bruchstücke einer großen Konfession, aber auch als Gelegenheitsdichtungen bezeichnet. Was ist damit eigentlich gemeint?

Mit dem Gelegenheitsgedicht hat es folgende Bewandtnis. In der Spätantike trat die Redekunst fast nur noch bei privaten und öffentlichen Anlässen, in sog. Gelegenheitsreden, hervor. Bedurft wurden Lob- und Festreden, Einladungsreden, Begrüßungsreden, Abschiedsreden, Hochzeitsreden, Geburtstagsreden, Trostreden und dergleichen. Alle diese Gattungen werden im Mittelalter, in der Renaissance und der Folgezeit aus der Prosa in die Poesie übertragen, die als Teil der Rhetorik galt. Der Kasualrede entspricht die Kasualdichtung. Gelegenheitsgedichte zu festlichen Anlässen wurden in Auftrag gegeben. In Goethes Jugend zirkulierten sie reichlich. Der Knabe betrachtete sie mit einem gewissen Neid, weil er solche Dinge „ebenso gut, ja noch besser zu machen glaubte“. Bald ergab sich dazu Gelegenheit in dem zarten ersten Liebesidyll, das sich um das Offenbacher Gretchen webt. Goethe führt die Verhältnisse in „Dichtung und Wahrheit“ anmutig vor Augen. Hochzeits- und andere Carmina werden angefertigt. Das sind Gelegenheitsgedichte im eigentlichen und ursprünglichen Sinn. Das freie lyrische Schaffen aber gehorchte ganz anderen Gesetzen. „Ich war dazu gelangt, bemerkt Goethe im Anschluß an seine Spinozastudien in Frankfurt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor“. Dieses spontane, naturhafte Dichten wird hier als Gegensatz; zum Verfertigen von Festpoemen charakterisiert.

Aber schon in „Dichtung und Wahrheit“ verschiebt sich der Sprachgebrauch. Bei der Würdigung Johann Christian Günthers wird das Gelegenheitsgedicht „die erste und echteste aller Dichtarten“ genannt. In den zwanziger Jahren bedeutet das Wort soviel wie objektive Dichtung. Von seinen Arbeiten sagt Goethe, sie seien alle „durch mehr oder minder bedeutende Gelegenheit aufgeregt, im unmittelbaren Anschauen irgendeines Gegenstandes verfaßt“. Noch deutlicher zu Eckermann: „Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben . . . Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts“. Die Subjektivität ist „die allgemeine Krankheit der jetzigen Zeit“. Solange ein Dichter „bloß seine wenigen subjektiven Empfindungen ausspricht, ist er noch keiner zu nennen; aber sobald er die Welt sich anzueignen und auszusprechen weiß, ist er ein Poet“. Gelegenheitsdichtung ist also das Gegenteil der Aussprache persönlicher Zustände. Sie ist welthaltige Poesie.

Diese Klärung schien nötig, weil das Wort vom Gelegenheitsdichter Goethe eine gedankenlose Konvention geworden ist. Auch mit der ärmlichen Formel „Erlebnis und Dichtung“ ist wenig gewonnen. Goethe hat ganz andere Prägungen für sein Dichtertum gefunden. Prüfen wir sie, so ordnen sie sich zu einer Stufenfolge. Wir versuchen sie anzudeuten. Auf der ersten Stufe erscheint die Poesie als Phänomenologie des Menschenlebens. Sie erfaßt und gestaltet die Irrungen des Herzens, die Wirrungen des Zusammenlebens. Das bedeutet zugleich einen Weg zur Einsicht, zur Weisheit, zur Heilung. Der Dichter, sagt Wilhelm Meister, „sieht das Gewirre der Leidenschaften, Familien und Reiche sich zwecklos bewegen, er sieht die unauflöslichen Rätsel der Mißverständnisse, denen oft nur ein einsilbiges Wort zur Entwicklung fehlt, unsäglich verderbliche Verwirrungen verursachen . . . Eingeboren auf dem Grund seines Herzens, wächst die schöne Blume der Weisheit hervor, und wenn die andern wachend träumen und von ungeheuren Vorstellungen aus allen ihren Sinnen geängstigt werden, so lebt er den Traum des Lebens als ein Wachender, und das Seltenste, was geschieht, ist ihm zugleich Vergangenheit und Zukunft. Und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen“. Der angebliche Egoist Goethe (als solchen sah ihn Schiller 1788/89) darf als „Freund des Menschen“ das ergreifende Wort sprechen:

Warum sucht ich den Weg so sehnsuchtsvoll,

Wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?

 

Er sucht den Weg, sieht sein Leben als „labyrinthisch irren Lauf“, aber zugleich als Pyramidenbau, der ihm aufgegeben. Stufe um Stufe klimmt er empor:

Weltverwirrung zu betrachten,

Herzensirrung zu beachten,

Dazu ward der Freund berufen,

Schaute von den vielen Stufen

Unsres Pyramidenlebens

Viel umher, und nicht vergebens . . .

 

Die letzte Entfaltung des phänomenologischen Befundes gibt die Strophe

Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los

 

mit den Kernversen:

Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt,

Von außen düsterts, wenns von innen glänzt.

Die „Aussöhnung“ indessen wird hier der Musik übertragen.

 

Poesie als Darstellung und Klärung „verworrener Bestrebung“, eingeordnet in eine Phänomenologie des menschlichen Daseins, — das ist eine Konstante goethischer Dichtung. Im überlieferten Schematismus der Dichtungstheorien hatte diese Konzeption keine Stelle. Aber sie ist ein Schlüssel für weite Bezirke goethischen Schaffens. Sie kann sich im Gedicht, im Drama, im Maskenzug, im Roman entfalten. Sie durchquert alle Gattungen und verbindet sie als ein Organisches, das sich in verschiedensten Gestalten erkenntlich erweist. Vor Goethe war sie nicht in der Welt, nach ihm nicht mehr. Sie ist Goethes Beitrag zur Lehre vom Dichtertum, gebunden an seine Monade.

Aber der Geschichtsforscher und Literaturkenner Goethe mußte auf seinem Wege auch ältere Dichtungstheorie antreffen. Eine Schultradition, die von der Antike dem Islam wie dem Abendland vererbt wurde und die sich durch Mittelalter und Renaissance bis in das 18. Jahrhundert fortsetzt, band Poesie und Rhetorik als „schöne Redekünste“ zusammen. Auf seiner Wanderung durch die Weltliteratur hat Goethe diese „allgemeine Rubrik“ gerügt. Sie entwürdige die Poesie, indem sie diese der Rhetorik bei-, wo nicht unterordne. Diese „Verwahrung“ Goethes würde in einer Darstellung der europäischen Literatur als historisch bedeutsam zu würdigen sein. Sie ergab sich ihm bei der Erforschung östlicher Poesie.

Dort trat ihm aber auch eine Dichtungsform in reiner Prägung entgegen, die er mit dem Tiefsinn des Jahrtausende überschauenden Alters sich aneignet: die enkomiastische, wie er sich ausdrückt, nun selber ein Kunstwort der griechischen Rhetorik entlehnend. Enkomion heißt Lob. Enkomiastische Dichtung ist zuvörderst Fürstenlob. Wir finden es auch an hellenistischen und abendländischen Höfen, nirgends aber so reich entfaltet wie im Orient. Der Perser Enweri ist „ein freier Enkomiast und findet, daß kein besser Handwerk sei, als mitlebende Menschen durch Lob zu ergeben. Fürsten, Wesire, edle und schöne Frauen, Dichter und Musiker schmückt er mit seinem Preis und weiß auf einen jeden etwas Zierliches aus dem breiten Weltvorrate anzuwenden“. Lob ist das Amt des Hofdichters. Lob — das wird aber nun zugleich zur Chiffre, in der sich Goethe den Inbegriff aller Poesie deutet. Noch mehr! Das Wort loben ist bei dem späten Goethe mit feierlichem Gehalt erfüllt — eine Abbreviatur verklärter Weltschau. Es wird ablösbar vom Sagen, übertragen auf das Sein. In sternklarer Nacht schaut Goethe das Unendliche,

Wenn sie sich einander loben,

Jene Feuer in dem Blauen.

Die Geschichte wird zum Tedeum: „der Lobgesang der Menschheit, dem die Gottheit so gern zuhören mag, ist niemals verstummt, und wir selbst fühlen ein göttliches Glück, wenn wir die durch alle Zeiten und Gegenden verteilten harmonischen Ausströmungen, bald in einzelnen Stimmen, in einzelnen Chören, bald fugenweise, bald in einem herrlichen Vollgesang vernehmen“. Ein Lob, durch alle Sphären zum Empyreum aufsteigend — das enthüllt sich nun als Wesen der Poesie. „Hiebei ist so viel zu bemerken: daß der eigentliche Dichter die Herrlichkeit der Welt in sich aufzunehmen berufen ist und deshalb immer eher zu loben als zu tadeln geneigt sein wird. Daraus folgt, daß er den würdigsten Gegenstand aufzufinden sucht und, wenn er alles durchgegangen, endlich sein Talent am liebsten zu Preis und Verherrlichung Gottes anwendet“.

Poesie als Lob und Gotteslob — Carmen Deo nostro — wäre also ein weiterer Aspekt von Goethes Dichtungstheorie. Gotteslob freilich eines Gläubigen, der kein Rechtgläubiger war. Waren es aber die verehrten persischen Dichter gewesen? War in der Gesetzesreligion des Islam Raum für Dichtung? Ihr Stifter selbst hatte sich dagegen verwahren müssen, auf eine Stufe mit den Dichtern der heidnischen Zeit gestellt zu werden. Aber in der späteren Entwicklung trat neben Gesetz und Dogmatik eine Mystik, die zu der rechtgläubigen Praxis in Widerspruch treten konnte, besonders wenn sie sich erotischer Symbolik bediente.

Unter den Großen der persischen Poesie waren Männer wie Hafis, dessen Gedichte geistliche wie weltliche Deutung zuließen. Der Osten schien also auch die Möglichkeit einer weltlich-überweltlichen Dichterfrömmigkeit zu enthalten, die dem Abendland versagt geblieben war; damit aber eine neue „Herrlichkeit der Poesie“. Eine Herrlichkeit, „in die sich reine Menschheit, edle Sitte, Heiterkeit und Liebe flüchtet, um uns über Kastenstreit, phantastische Religionsungeheuer und abstrusen Mystizismus zu trösten und zu überzeugen, daß doch zulegt in ihr das Heil der Menschheit aufbewahrt bleibe“. In ihrer „Herrlichkeit“ schließt die Poesie das Heil der Menschheit ein. Das Heil aber ist ein Begriff der religiösen Sphäre. Ihr nähert sich also auch diese Bestimmung der Poesie an, die sich gegen Abartungen des Glaubens so bewußt absetzt. Die Religion des Propheten ließ doch dem Poeten sein Recht. Beide Persontypen des Geistes waren in ihr geborgen; wenn auch in komplementärer Sonderung. „Wollen wir nun den Unterschied zwischen Poeten und Propheten näher andeuten, so sagen wir: beide sind von einem Gott ergriffen und befeuert, der Poet aber vergeudet die ihm verliehene Gabe im Genuß, um Genuß hervorzubringen, Ehre durch das Hervorgebrachte zu erlangen, allenfalls ein bequemes Leben. Alle übrigen Zwecke versäumt er, sucht mannigfaltig zu sein, sich in Gesinnung und Darstellung grenzenlos zu zeigen. Der Prophet hingegen sieht nur auf einen einzigen bestimmten Zweck; solchen zu erlangen, bedient er sich der einfachsten Mittel“.

Neue Perspektiven tun sich hier auf. Dichtung als Frucht und Mittel des Genusses. Unsere Pädagogen führen zwar gern das Wort im Munde, genießen mache gemein. Aber Goethe hat zu diesem Gegenstand noch ganz anderes zu sagen. Er gibt eine Ethik des Genusses, des eigenen und — auf höherer Lebensstufe — des stellvertretenden:

Was ihr sonst für euch genossen,

Läßt in andern sich genießen.

Niemand wird uns dann beschreien,

Daß wirs uns alleine gönnen;

Nun in allen Lebensreihen

Müsset ihr genießen können.

Und mit diesem Lied und Wendung

Sind wir wieder bei Hafisen;

Denn es ziemt, des Tags Vollendung

Mit Genießern zu genießen.

Die Genußdichtung Anakreons, die des Hafis, die Goethes: Stufen des Pyramidenlebens der Weltliteratur.

Als Genießender und Genuß Schaffender ist der Dichter Verschwender. Dieser Gedanke leitet vom Divan zum Faust über. Im Mummenschanz der Kaiserpfalz kündigt der Herold verschiedene Poeten an, „Naturdichter, Hof- und Rittersänger, zärtliche so wie Enthusiasten“. Im Gedräng von Mitwerbern aller Art läßt keiner den Andern zum Vortrag kommen. Der Satiriker schleicht mit wenigen Worten vorüber. Die Nacht- und Grabdichter lassen sich entschuldigen, „weil sie soeben im interessantesten Gespräch mit einem frisch erstandenen Vampiren seien, woraus eine neue Dichtart sich vielleicht entwickeln könnte“. Man verzichtet auf sie und ruft die griechische Mythologie hervor, „die, selbst in moderner Maske, weder Charakter noch Gefälliges verliert“. Im Zuge der Gestalten erscheint ein Wagen, den ein schöner Knabe lenkt. Vom Herold befragt, nennt er sich:

Bin die Versehwendung, bin die Poesie;

Bin der Poet, der sich vollendet,

Wenn er sein eigen Gut verschwendet.

 

Ist Eros bei Platon Sohn der Armut und des Reichtums, so ist dem Knaben Lenker der Reichtum (Plutus) als Vater beigegeben, „ein König reich und milde“. Plutus bringt Schäle an den Kaiserhof. Als die Kisten abgeladen sind, wendet er sich zum Knaben Lenker:

Nun bist du los der allzu lästigen Schwere

Bist frei und frank, nun frisch zu deiner Sphäre!

Hier ist sie nicht! Verworren, scheckig, wild

Umdrängt uns hier ein frauenhaft Gebild.

Nur wo du klar ins holde Klare schaust,

Dir angehörst und dir allein vertraust,

Dorthin, wo Schönes, Gutes nur gefällt,

Zur Einsamkeit! — da schaffe deine Welt.

 

Zum Knaben Lenker stellt sich Euphorion. Beide Gestalten prägen das gleiche Urbild aus: es ist die Poesie in ihrer „Herrlichkeit“, erscheinend und entschwebend als jugendlicher Genius. Beide sind Knaben, beide zuerst geborgen in der Hut des milden Vaters, der sie dann entläßt. Es wäre verkehrt, den Vater mit allzu handfester Psycho-Symbolik zu deuten. Soviel ist jedoch sicher: der als Knabe verkörperte Genius — diese letzte Verleihung von Goethes Dichtungsidee — soll mit dem Bilde einer zeugenden Potenz zusammengeschaut werden, deren Sphäre die des Sohnes übergreift. Die Sphäre der Poesie ist ein abgegrenzter, gereinigter Bezirk des Weltwesens: „Nur wo du klar ins holde Klare schaust“ — dieser eine Vers enthält in stärkster Zusammendrängung das Wesen Goethischer Poesie- und Lebenslehre: klarer Blick ins Klare; ein klares Innen dem klaren Außen antwortend. Licht des Tages, „aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit“; Licht der ewigen Sterne, wenn Nacht und Äther klar werden: doppelte Erscheinungsform der „heiteren“ Welt, der Goethe, des Lichts begierig, sich zugeordnet weiß. Das Mittelalter hat eine Lichtmetaphysik gekannt. Wir finden bei Goethe eine Lichtpoetik, die Göttliches und Menschliches, Westliches und östliches, Vergangenes und Gegenwärtiges umgreift.

Laß den Anfang mit dem Ende sich in eins zusammenziehn —

der Vers spricht das Eigentümlichste des Goethischen Lebensgefühls aus und läßt im Goetheleser manche Äußerungen anklingen, die auf das Gleiche hindeuten. Nur eine sei noch angeführt, weil sie einen abschließenden Blick auf das Walten der Metamorphose in Goethes Dichtertum eröffnet: „mir drückten sich gewisse große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes so tief in den Sinn, daß ich sie vierzig bis fünfzig Jahre lebendig und wirksam im Innern erhielt; mir schien der schönste Besitz, solche werte Bilder oft in der Einbildungskraft erneut zu sehen, da sie sich denn zwar immer umgestalteten, doch ohne sich zu verändern einer reineren Form, einer entschiednern Darstellung entgegenreiften“.

Durch ein halbes Jahrhundert trägt Goethe Bilder in sich, die aus der Überlieferung in ihn eingingen und ihn erlasen, um Gebilde zu werden. Die Aussage ist bedeutsam. Sie deutet die Wechselwirkung von Bewußtem und Unbewußtem in Goethes Schaffen an, wobei „große Motive, Legenden, uraltgeschichtlich Überliefertes“ als kaum überhörbarer Hinweis auf die archetypischen Bilder im Sinne von C. G. Jung gelten dürfen. Sie tauchen je und je aus dem Strom auf, in dem Legende und Geschichte vermischt sind. Goethe gibt uns hier eine Sicht seiner Poesie, welche ihre Deutung aus dem Erlebnis ganz ausschaltet. Er schließt sein Schaffen an die goldne Kette der Menschheitsüberlieferung an. Jene Bilder sind die Fracht des Überpersönlichen und Übergeschichtlichen. Sie nehmen den obersten Rang in der gestuften Welt ein, die Goethe das Objektive nennt. Es ist ein Begriff, der — in vielfach verdünnten Graden seines Gehalts — auch in seiner beurteilenden Kritik so charakteristisch vorwaltet. Deren Normen und Grundbegriffe sollen hier nicht mehr erörtert werden. Genüge es, wenn wir unser Goetheverständnis in einigen Punkten geklärt haben.

 

7

1949 wird ein Goethejahr sein. Vielleicht wird es ein kritisches Jahr sein. Täuschen wir uns nicht darüber, daß Europa — dieses abbröckelnde Gebilde — sich in einem Stadium der Goetheferne befindet. Die Vorklänge des Goethejahrs im existentialistisch „getrübten“ und „verdüsterten“ Deutschland wollen uns nicht als Wohllaut anmuten. Dem Engländer — so urteilte T. S. Eliot 1944 — erscheint Goethe „begrenzt durch sein Zeitalter, durch seine Sprache und seine Kultur, so daß er nicht das Ganze der europäischen Tradition darstellt . . . Wie können ihn nicht als universalen Klassiker bezeichnen“. Freilich: Goethe ist nicht für alle. „Man mag nicht m i t jedem leben, und so kann man auch nicht f ü r jeden leben“, sagt er. Und er rät: „Geselle dich zur kleinsten Schar!“ So wollen wirs auch fortan halten.