Merkur, Nr. 60, Februar 1953

Unsere Vorstellung von der Materie

von Erwin Schrödinger

Vorbemerkung: Dem folgenden Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, den der bekannte, am Institute for Advanced Studies in Dublin lehrende Physiker im Herbst vorigen Jahres vor dem Europäischen Forum in Alpbach (Tirol) und den Rencontres Internationales in Genf gehalten hat. Wir meinen, unseren Lesern diesen Text, der dem physikalischen Laien Schwierigkeiten zumutet, auch deshalb vorlegen zu sollen, weil er bezeichnend ist für die Krise innerhalb der theoretischen Grundlegung der modernen Physik, die sich immer mehr auf das Gebiet philosophischer Fragestellungen gedrängt sieht. Im August-Heft 1952 des „Merkur“ hatte Werner Heisenberg seinen Aufsatz „Atomphysik und Kausalgesetz“ mit der Feststellung geschlossen, daß „die Entwicklung der neuesten Atomphysik . . . noch einmal in den philosophischen Bereich übergreifen wird.“ Es sei bisher nicht gelungen, „die Naturgesetze im Bereich der Elementarteilchen mathematisch festzulegen.“ In den allerletzten Jahren scheine „in den kleinsten Räumen und Zeiten der Begriff der zeitlichen Reihenfolge problematisch zu werden, obwohl wir noch nicht sagen können, wie sich hier einmal die Rätsel lösen werden.“

Schrödinger geht von ähnlichen Fragen aus, verschärft sie jedoch und gibt ihnen gleichzeitig eine andere Wendung. Wenn die moderne Physik im Zuge ihres Eindringens in die kleinsten Bezirke der Materie von dem Verhalten der Dinge zwar ein immer genaueres, von ihrem Wesen aber ein immer ungenaueres Bild gewinne, so sei dies ein Zeichen dafür, daß das philosophische Fundament unserer naturwissenschaftlichen Forschung in einem entscheidenden Sinne revisionsbedürftig sei. Das oberste Ziel müsse die Wiedergewinnung einer einheitlichen, in sich geschlossenen Vorstellung von der Materie sein. Dies sei jedoch nur möglich – so erklärt Schrödinger in seinem neuesten Buch „Science and Humanism. Physics in our Time“ (Cambridge University Press 1952) – unter der Voraussetzung, daß an Stelle der Substanz die Form, die Gestalt als Grundkonzept des naturwissenschaftlichen Denkens anerkannt werde. Die von ihm wesentlich mitbegründete Wellenmechanik, die die kleinsten Teilchen der Materie, die Elektronen, als Wellenfelder interpretiert, ist in diesem Sinn als ein Versuch zu werten, die moderne Physik von der Vorstellung der Substanz und des Dinghaften soweit wie möglich loszulösen. Schrödinger sieht darin die einzige Möglichkeit, wieder zu einem in sich kohärenten Weltbild zu gelangen. Seine Theorie erhält von daher eine zunehmend polemische Wendung gegen die Vertreter der Quantentheorie und jeder korpuskularen Anschauung in der Physik. Er wirft ihnen vor, überholte Denkprinzipien auf einen, diesen Prinzipien nicht mehr entsprechenden Sachverhalt anzuwenden und sich dadurch immer mehr in einem abstrakten mathematischen Formalismus zu verlieren. Die meisten Leitworte der modernen Physik, wie A-Kausalität, Wahrscheinlichkeit, Diskontinuität und Komplementarität, seien nur der Ausdruck dieses Versuchs, zwischen einer neuen Situation und traditionellen Begriffen einen Kompromiß herzustellen.

Die Diskussionen des Vortrags in Alpbach und Genf gaben ein erregendes Bild von den Spannungen innerhalb der gegenwärtigen physikalischen Theoreme. Erregend vor allem auch deshalb, weil dabei philosophische Grundpositionen aufeinanderstießen. In Alpbach traten die Vertreter des mathematischen Formalismus – philosophischgesprochen: eines Nominalismus – gegen den Realisten Schrödinger auf; nur eine von allen bildhaften Vorstellungen gereinigte und in mathematische Logik übersetzte Sprache, so meinten sie, könne die Lösung der vielen offenen Probleme bringen. In Genf trat der Physiker Max Born im Namen überlieferter Anschauungen mit dem eher umgekehrten Vorwurf gegen Schrödinger in die Schranken: die Vorstellung von der körperhaften Beschaffenheit der Materie auch in ihren kleinsten Bestandteilen sei in dem allgemeinen Verständnis des Menschen natürlich verankert. Schrödingers Theorie von der Wellenstruktur der Materie untergrabe die Grundlagen dieses Verständnisses und stehe unter den Auffassungen der modernen Physiker vereinzelt da. In diesem doppelten Kampf gegen Formalismus auf der einen und Traditionalismus auf der anderen Seite definiert sich die Position Schrödingers als die eines der eigenwilligsten physikalischen Denker unserer Tage. Dem Leser bleibt die Frage, ob er in dieser Theorie den lang gesuchten Weg erkennen mag, um endlich (wie Schrödinger sich in Alpbach ausdrückte) „aus dem Pfuhl der mathematischen Formeln herauszukommen.“

Die Herausgeber

 

  1. Die Krise. Vorschau

Bevor ich versuche, dem Thema, so gut ich kann, gerecht zu werden, muß ich zwei Dinge vorausschicken. Erstens kann der Physiker heute innerhalb seines Forschungsgebietes nicht mehr in sinnvoller Weise zwischen Materie und irgend etwas anderem unterscheiden. Wir stellen ihr nicht mehr Kräfte und Kraftfelder als etwas davon Verschiedenes gegenüber, sondern wir wissen, daß die Begriffe in eins zu verschmelzen sind. Wohl nennen wir ein Raumgebiet frei von Materie, nennen es leer, wenn dort nichts weiter ist als ein Schwerefeld. Aber es gibt das nicht wirklich, denn selbst weit draußen im Weltraum ist Sternenlicht, und das ist Materie. Auch sind nach Einstein Schwere und Massenträgheit gleichartige Dinge und darum nicht wohl voneinander zu trennen. Unser Gegenstand ist also eigentlich das Gesamtbild, das sich die Physik von der raum-zeitlichen Wirklichkeit macht.

Der zweite Punkt ist der: Dieses Bild der materiellen Wirklichkeit ist heute so schwankend und unsicher, wie es schon lange nicht gewesen ist. Wir wissen sehr viele interessante Details, erfahren jede Woche neue. Aber aus den Grundvorstellungen solche herauszusuchen, die wirklich feststehen, und daraus ein klares, leichtfaßliches Gerüst aufzubauen, von dem man sagen könnte: so ist es ganz bestimmt, das glauben wir heute alle — ist ein Ding der Unmöglichkeit. Eine weitverbreitete Lehrmeinung geht dahin, daß es ein objektives Bild der Wirklichkeit in irgendeinem früher geglaubten Sinn überhaupt nicht geben kann. Nur die Optimisten unter uns (zu denen ich mich selbst rechne) halten das für eine philosophische Verstiegenheit, einen Verzweiflungsschritt angesichts einer großen Krise. Wir hoffen, daß das Schwanken der Begriffe und Meinungen nur einen heftigen Umwandlungsprozeß bedeutet, der schließlich doch zu etwas Besserem führen wird, als der wüste Formelkram ist, der heute unseren Gegenstand umstarrt.

Es ist für mich recht fatal, daß das Bild der Materie, das ich hier aufbauen soll, noch gar nicht existiert, sondern bloß Bruchstücke von mehr oder weniger partiellem Wahrheitswert. Das hat nämlich zur Folge, daß man bei einer solchen Erzählung nicht umhin kann, an einer späteren Stelle dem zu widersprechen, was man an einer früheren gesagt hat; etwa so wie Cervantes einmal den Sancho Pansa sein liebes Eselchen, auf dem er reitet, verlieren läßt, aber ein paar Kapitel später hat der Autor das vergessen und das gute Tier ist wieder da. Um einem ähnlichen Vorwurf zu entgehen, will ich einen kurzen Feldzugsplan entwerfen.

Ich werde nachher berichten, wie Max Planck vor über 50 Jahren entdeckt hat, daß die Energie nur in unteilbaren Beträgen von jeweils ganz bestimmter Größe — den Quanten — übertragen wird. Weil aber bald darauf Einstein die Identität von Energie und Masse bewies, so müssen wir uns sagen, daß die uns längst bekannten kleinsten Massenteilchen, die Atome oder Korpuskeln, deren Existenz heute in vielen schönen Experimenten ganz „handgreiflich“ gezeigt wird, eben auch Energiequanten sind und, so zu sagen, die Entdeckung Plancks um mehr als 2000 Jahre rückdatieren. Sie erscheint dadurch um so gesicherter. Hier wird ein Seitenblick auf die ungeheure Bedeutung dieser Diskretheit oder Abzählbarkeit von allem, was ist und was geschieht, geboten sein, weil erst so die berühmte Boltzmannsche statistische Theorie des irreversiblen Naturlaufes wirklich durchführbar und klar verständlich wird.

Das ist alles schön und gut, und hat gewiß einen hohen Wahrheitswert. Aber dann wird Sancho Pansas Esel zurückkommen — nach mehr als 2000 Jahren. Denn ich werde Sie ersuchen müssen, weder an die Korpuskeln als zeitbeständige Individuen zu glauben, noch an das sprunghafte Geschehen bei der Übergabe eines Energiequants von einem Träger an einen anderen. Es liegt wohl Diskretheit vor, aber nicht im hergebrachten Sinn von diskreten Einzelteilchen, und schon gar nicht von sprunghaftem Geschehen. Denn das würde anderweitiger gesicherter Erfahrung widersprechen. Die Diskretheit entspringt bloß als eine Struktur aus den Gesetzen, die das Geschehen beherrschen. Diese sind noch keineswegs völlig verstanden; aber ein wahrscheinlich zutreffendes Analogon aus der Physik greifbarer Körper ist die Art, wie etwa die einzelnen Partialtöne einer Glocke sich ergeben aus der begrenzten Gestalt der Glocke und den Gesetzen der Elastizität, denen an sich nichts Diskontinuierliches anhaftet.

 

  1. Einiges über Korpuskeln

Fangen wir also an. Die von Leukipp und Demokrit schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung vertretene Anschauung, daß die Materie aus kleinsten Teilchen aufgebaut ist, die sie Atome nannten, hatte um die letzte Jahrhundertwende als Korpuskulartheorie der Materie schon sehr bestimmte, in interessante Einzelheiten gehende Form angenommen, welche sich im Laufe etwa des ersten Jahrzehnts immer weiter klärte und befestigte. Den Anfang hatte ja die Chemie gemacht. Noch heute spukt es in einigen Köpfen, als sei die Chemie die ureigenste Sphäre von „Atom“ und „Molekül“. Aus der sehr hypothetischen, etwas blutleeren Rolle, die sie dort spielten — die Ostwaldsche Schule lehnte sie rundweg ab — wurden sie zum ersten Male zu physikalischer Realität erhoben in der Theorie der Gase von Maxwell und Boltzmann. In einem Gas sind diese Teilchen durch weite Zwischenräume getrennt, aber in heftiger Bewegung begriffen; sie stoßen wieder und wieder zusammen, prallen aneinander zurück usw. Eine genaue Verfolgung dieser Vorgänge in Gedanken führte erstens zu einem vollen Verständnis aller Eigenschaften der Gase, der elastischen und thermischen, ihrer inneren Reibung, Wärmeleitung und Diffusion, aber zugleich zu einer festen Begründung der mechanischen Theorie der Wärme als einer mit steigender Temperatur immer heftiger werdenden Bewegung dieser kleinsten Teilchen. Wenn das wahr ist, dann müssen auch kleine, im Mikroskop eben noch sichtbare Körperchen durch die Stöße der umgebenden Moleküle in ständiger Bewegung erhalten werden, die mit steigender Temperatur zunimmt. Diese Bewegung kleiner suspendierter Teilchen hatte Robert Brown (ein Arzt in London) schon 1827 entdeckt, aber erst 1905 zeigten Einstein und Smoluchowski, daß sie quantitativ den Erwartungen entspricht.

In diese fruchtbare Periode, rund zehn Jahre vor und nach der Jahrhundertwende, fällt nun noch so vieles eng auf unseren Gegenstand Bezügliche, daß es schwer wird, es sich gleichzeitig vor Augen zu halten. Da war die Entdeckung der Röntgenstrahlen — sehr kurzwelliges „Licht“ — und der Kathodenstrahlen — Ströme von negativ geladenen Korpuskeln, den Elektronen. Da war der radioaktive Atomzerfall und die dabei emittierten Strahlen, teils Ströme von Korpuskeln, eben jenen, in deren spontaner Ausstoßung aus dem Verband des Atomkerns der Übergang des Atoms in ein anderes sich vollzieht; teils noch viel kurzwelligeres „Licht“, das dabei mit entsteht. Alle die Korpuskeln tragen elektrische Ladung; die Ladung ist stets die von Millikan direkt gemessene, sehr kleine elektrische Einheitsladung oder etwa genau das Doppelte oder Dreifache davon.

Auch die Massen dieser Teilchen konnten sehr genau gemessen werden, wie übrigens auch die der Atome selber. Die Bestimmung der Massen der Atome, die sog. Massenspektrographie, wurde von Aston in Cambridge zu so unerhörter Genauigkeit getrieben, daß er eine uralte Frage mit Sicherheit verneinen konnte: es sind nicht ganzzahlige Vielfache einer kleinsten Einheit. Trotzdem dürfen wir uns dieselben, oder genauer gesagt, die schweren, aber sehr kleinen, positiv geladenen Atomkerne — die umgebenden negativen Elektronen wiegen fast nichts — vorstellen als aufgebaut aus einer Anzahl von Wasserstoffkernen (Protonen), von denen freilich rund die Hälfte ihre positive Einheitsladung verloren haben (Neutronen). So sind z. B. in einem normalen Kohlenstoffkern 6 Protonen und 6 Neutronen vereinigt. Er wiegt, in einer für den Vergleich bequemen Einheit

Die Einheit ist 1 ⋅ 6603 ⋅ 10—24 g, interessiert uns aber hier im Augenblick nicht. Wie erklärt sich der Massendefekt, der ja in unserem Beispiel schon fast ein Zehntel Einheit beträgt? Aus der Bindungswärme, die bei der Vereinigung dieser 12 Teilchen austritt, und die bei solchen „Kernreaktionen“ ungeheuer viel größer ist als bei den altbekannten chemischen Reaktionen. Mit anderen Worten: das System verliert potentielle Energie, indem die 12 Teilchen den Anziehungskräften nachgeben, von denen sie hernach fest zusammengehalten werden. Dieser Energieverlust bedeutet nach Einstein, wie schon oben erwähnt, einen Massenverlust. Man nennt das den Packungseffekt. Die Kräfte sind übrigens natürlich nicht die elektrischen — die sind ja abstoßend —, sondern die sog. Kernkräfte, die viel stärker sind, aber bloß auf ganz kleine Entfernungen (etwa 10—13 cm) wirken.

 

  1. Wellenfeld und Partikel; ihr experimenteller Nachweis

Hier ertappen Sie mich schon auf einem Widerspruch. Denn ich sagte doch anfangs, daß wir heute nicht mehr neben der Materie, als etwas davon Verschiedenes, Kräfte und Kraftfelder annehmen. Ich könnte mich leicht ausreden und sagen: ja das Kraftfeld einer Partikel wird halt mit zur Partikel gerechnet. Aber so ist es nicht. Die heute gesicherte Meinung ist vielmehr, daß alles — überhaupt alles — zugleich Partikel und Feld ist. Alles hat sowohl die kontinuierliche Struktur, die uns vom Feld, als auch die diskrete Struktur, die uns von der Partikel her geläufig ist. So allgemein ausgedrückt hat diese Erkenntnis ganz bestimmt einen großen Wahrheitswert. Denn sie stützt sich auf unzählige Erfahrungstatsachen.

Im einzelnen gehen die Meinungen auseinander, wovon noch zu reden sein wird. — Im besonderen Fall des Kernkraftfeldes ist übrigens seine Partikelstruktur schon so ziemlich bekannt. Es entsprechen ihm sehr wahrscheinlich die sog. π-Mesonen, die bei der Zertrümmerung eines Atomkerns unter anderen auftreten und deutlich einzelne Strichspuren in einer photographischen Emulsion hinterlassen. Die Kernteilchen selber, die Nukleonen, wie man das Proton und Neutron mit einem gemeinsamen Namen nennt, die man von Haus aus stets als diskrete Partikeln zu denken gewohnt war, liefern ihrerseits bei anderen Versuchen, wenn sie in Scharen gegen eine Kristallfläche gelenkt werden, Interferenzmuster, die nicht daran zweifeln lassen, daß diesen Nukleonen auch kontinuierliche Wellenstruktur zukommt. Die in allen Fällen gleichmäßige Schwierigkeit, diese zwei so verschiedenen Charakterzüge in einem Denkbild zu vereinigen, ist heute immer noch das Haupthindernis, das unsere Vorstellung von der Materie so schwankend und unsicher macht.

Weder die Teilchenvorstellung noch die Wellenvorstellung sind nämlich hypothetisch. Ich erwähnte beiläufig die Strichspuren in der photographischen Emulsion, deren jede uns die Bahn eines Einzelteilchens anzeigt. Noch länger bekannt sind die Strichspuren in der sog. Nebelkammer von C. T. R. Wilson. Man kann an diesen Spuren außerordentlich mannigfache und interessante Details im Verhalten der Einzelteilchen beobachten und messend verfolgen: Die Krümmung ihrer Bahn im Magnetfeld (weil sie elektrisch geladen sind); die mechanischen Gesetze beim Zusammenstoß, der sich ungefähr wie bei idealen Billardkugeln vollzieht; die Zertrümmerung eines größeren Atomkerns durch den „Volltreffer“ eines jener „kosmischen“ Teilchen, die aus dem Weltraum kommen, zwar in kleiner Zahl, aber mit einer unerhörten Stoßkraft des Einzelteilchens, oft millionenmal größer als sonst beobachtet oder künstlich erzeugt. Um das Letztere bemüht man sich derzeit mit einem ungeheuren Kostenaufwand, welcher der Hauptsache nach von den Landesverteidigungsministerien bestritten wird. Man kann zwar mit einem solchen rasanten Teilchen niemanden erschießen, sonst wären wir ja alle schon tot. Aber ihr Studium verspricht, indirekt, eine beschleunigte Verwirklichung des Plans zur Vertilgung der Menschheit, der uns allen so sehr am Herzen liegt.

Es ist vielleicht gut zu sagen, daß diese interessanten Beobachtungen an Einzelteilchen nur an sehr rasch bewegten Teilchen gelingen. Die Methode der Bahnspuren ist übrigens nicht die einzige. Die älteste können Sie leicht selbst ausprobieren, wenn Sie einmal abends im Finstern, nach Gewöhnung an die Dunkelheit, mit einer Lupe eine leuchtende Ziffer Ihrer Armbanduhr betrachten. Sie werden finden, daß sie nicht gleichförmig hell ist, sondern wogt und wallt, wie manchmal der See in der Sonne glitzert. Jedes aufblitzende Fünkchen wird erzeugt von einem sog. Alphateilchen (Helium-Kern), ausgeschleudert von einem radioaktiven Atom, das sich dabei in ein anderes umwandelt. Ein anderer, zum Studium der kosmischen Strahlen sehr viel verwendeter Apparat ist das Geiger-Müllersche Zählrohr, welches „anspricht“, wenn es von einem einzigen wirksamen Teilchen getroffen wird. Das ist sehr wertvoll. Man kann nämlich mit heute ganz geläufigen Methoden dieses „Ansprechen“ so verstärken, daß es den Automatismus einer Nebelkammer und den Verschluß eines auf sie gerichteten photographischen Apparates gerade in dem Augenblick auslöst, wenn es in der Kammer etwas Interessantes zu photographieren gibt. Das ist eine wichtige, aber nicht die einzige Verwendung dieser Zählrohre, von denen oft ein halbes Hundert und mehr in komplizierter Schaltung in einen einzigen Apparat eingebaut werden.

So viel über die Beobachtung einzelner Partikel. Nun zum kontinuierlichen Feld- oder Wellencharakter. Die Wellenstruktur des sichtbaren Lichtes ist ziemlich grob (Wellenlänge, ganz rund, etwa ein Zweitausendstel Millimeter); sie ist schon seit mehr als einem Jahrhundert sehr eingehend untersucht worden an den Effekten, die auftreten, wenn zwei oder mehrere oder sehr viele Wellenzüge sich durchkreuzen: den Beugungs- und Interferenzerscheinungen. Das vornehmste Mittel zur Analyse und Messung der Lichtwellen ist das Strichgitter, eine Unzahl feiner paralleler Striche eng, in gleichen Abständen, auf einen Metallspiegel geritzt, an denen das aus einer Dichtung auftretende Licht gestreut und je nach seiner Wellenlänge in verschiedene Richtungen wieder gesammelt wird. Für die viel, viel kürzeren Wellen des Röntgenspektrums sowie für die „Materiewellen“, als welche die Partikelströme hoher Geschwindigkeit sich manifestieren, sind auch die feinsten Strichgitter, die wir ritzen können, etwas grob. Im Jahre 1912 hat Max von Laue das Instrument entdeckt, das seither die exakte Analyse aller dieser Wellen möglich macht, hat es entdeckt im natürlich gewachsenen Kristall. Die Entdeckung war unschätzbar, einzig in ihrer Art. Denn nicht nur enthüllt sie den Bau des Kristalls — eine höchst regelmäßige Anordnung von Atomen, dieselbe Gruppe unzählige Male wiederholt, je in gleichen Abständen in drei Richtungen, „Länge“, „Breite“ und „Höhe“ — , sondern diese Entdeckung war eins mit der Verwendung der periodischen Feinstruktur des Kristalls zur Analyse von Wellen — an Stelle eines Strichgitters. Und zwar beachten Sie dies: Die natürliche Struktur des Kristalls kommt uns hier zu Hilfe gerade dort, wo sie, d. h. wo die körnige Struktur der Materie aller Feinmechanik ein Ende setzt. Gitter solcher Feinheit könnte man nicht ritzen, weil das „Material“ zu grob ist. — Mit diesen Kristallgittern wurde nun also zunächst die Wellennatur der Röntgenstrahlen festgestellt und ihre Wellenlängen gemessen, und später die von Materiewellen, besonders an Elektronenströmen, aber auch an anderen Partikelströmen, wie Neutronen und Protonen.

  1. Quantentheorie: Planck, Bohr, de Broglie

Nun habe ich mancherlei von der Struktur der Materie erzählt, aber wir haben immer noch nicht von Max Planck und seiner Quantentheorie gesprochen. Alles, wovon ich bisher berichtet habe, hätte sich füglich ereignen können auch ohne sie. Wie war es denn nun wirklich? Was hat es mit dieser Quantentheorie auf sich? Ich werde wieder nicht genau den historischen Hergang erzählen, sondern wie etwa die Sache uns heute erscheint.

Planck sagt uns 1900 — und das Wesentliche daran ist bis heute wahr geblieben —, daß er die Strahlung von rotglühendem Eisen oder die eines weißglühenden Sterns, wie etwa der Sonne, nur verstehen kann, wenn diese Strahlung bloß portionenweise erzeugt und von einem Träger an den anderen (etwa von Atom zu Atom) portionenweise weitergegeben wird. Das war erstaunlich, denn es handelt sich bei dieser Strahlung um Energie, was ursprünglich ein höchst abstrakter Begriff war, ein Maß der gegenseitigen Einwirkung oder Wirkungsfähigkeit jener kleinsten Träger. Die Einteilung in abgezirkelte Portionen befremdete aufs höchste — nicht nur uns, auch Planck. Fünf Jahre später sagt uns Einstein, daß Energie Masse hat und Masse Energie ist, daß sie also ein und dasselbe sind — und auch das ist bis heute wahr geblieben. Da fällt es uns wie Schuppen von den Augen: unsere altgewohnten, lieben Atome, Teilchen, Partikel sind Plancksche Energiequanten. Die Träger jener Quanten sind selbst Quanten. Es schwindelt einen. Man merkt, es liegt etwas ganz Fundamentales zugrunde, das man noch nicht versteht. Tatsächlich fielen ja auch die vorerwähnten Schuppen nicht plötzlich. Es brauchte 20 oder 30 Jahre. Und ganz sind sie vielleicht bis heute noch nicht gefallen.

Die unmittelbare nächste Folge war weniger weitreichend, aber doch wichtig genug. Niels Bohr lehrte uns 1913, durch eine geistvolle und sinngemäße Verallgemeinerung des Planckschen Ansatzes, die Linienspektren der Atome und Moleküle verstehen, und zugleich den Aufbau dieser Teilchen aus schweren positiv geladenen Kernen und leichten, sie umkreisenden Elektronen, deren jedes eine negative Einheitsladung trägt. Dieses wichtige Durchgangsstadium unserer Erkenntnis im einzelnen zu erläutern, muß ich mir hier versagen. Der Grundgedanke ist, daß jedes dieser kleinen Systeme — Atom oder Molekül — nur ganz bestimmte, seiner Natur oder seinem Aufbau entsprechende diskrete Energiemengen beherbergen kann; daß es beim Übergang von einem höheren zu einem tieferen „Energieniveau“ den Überschuß als ein Strahlungsquant von ganz bestimmter Wellenlänge emittiert, die dem abgegebenen Quantum umgekehrt proportional ist (was schon in Plancks ursprünglicher Hypothese enthalten war).

Das bedeutet nun, daß ein Quant von gegebenem Betrag sich in einem periodischen Vorgang von ganz bestimmter Frequenz manifestiert, welche dem Quant direkt proportional ist (die Frequenz ist gleich dem Energiequant, dividiert durch die berühmte Plancksche Konstante h). Den eigentlich recht naheliegenden Schluß, daß dann wohl mit einer Partikelmasse m, die nach Einstein eine Energie mc2 hat (c = Lichtgeschwindigkeit), ein Wellenvorgang von der Frequenz [latex]\frac{mc^2}{h}[/latex] assoziiert sein dürfte, zog erst L. de Broglie im Jahre 1925, zunächst für die Masse m des Elektrons. Nur wenige Jahre nach dieser berühmten Doktorarbeit de Broglies wurden die von ihm theoretisch geforderten „Elektronenwellen“ experimentell nachgewiesen, in der Art wie ich es schon oben besprochen habe. Dies war der Ausgangspunkt für die bald platzgreifende Erkenntnis, von der ebenfalls schon vorher die Rede war: der Erkenntnis, daß alles — überhaupt alles — zugleich Partikel und Wellenfeld ist. Denn sobald wir von nun an von einer Partikel der Masse M hören, werden wir damit ein Wellenfeld von der Frequenz [latex]\frac{Mc^2}{h}[/latex] verbinden. Und wo wir einem Wellenfeld der Frequenz v begegnen, werden wir Energiequanten, oder was dasselbe ist, Massenquanten [latex]\frac{hv}{c^2}[/latex] damit verknüpfen.

So war also die de Brogliesche Dissertation der Ausgangspunkt für die völlige Unsicherheit unserer Vorstellung von der Materie. Sowohl im Partikelbild wie im Wellenbild steckt Wahrheitswert, den wir nicht aufgeben dürfen. Aber wir wissen nicht, sie zu vereinigen.

 

  1. Wellenfeld und Partikel: ihr theoretischer Zusammenhang

Dabei ist der Zusammenhang der beiden Bilder in voller Allgemeinheit, mit großer Klarheit und bis zu erstaunlichen Einzelheiten bekannt. An seiner Richtigkeit und Allgemeingültigkeit zweifelt niemand. Bloß über die Vereinigung zu einem einzigen, konkreten, handgreiflichen Bilde sind die Meinungen so sehr geteilt, daß sehr viele dies überhaupt für unmöglich halten. Ich werde den Zusammenhang jetzt kurz umreißen. Aber rechnen Sie nicht damit, daß Ihnen daraus solch einheitliches konkretes Bild erwachse; und schieben Sie es weder auf mein Ungeschick in der Darstellung noch auf Ihre eigene Begriffsstutzigkeit, daß das nicht gelingen wird — denn es ist bisher noch niemandem gelungen.

An einer Welle unterscheidet man zwei Dinge, nämlich erstens die Wellenflächen, die so etwas wie ein System von Zwiebelschalen bilden, nur daß sie sich in Bichtung senkrecht zu den Schalen (d. h. zu sich selbst) ausbreiten; das Analoge in zwei (statt drei) Dimensionen ist Ihnen wohlbekannt von den schönen Wellenkreisen, die etwa auf dem glatten Wasserspiegel eines Teiches von einem hingeworfenen Stein erzeugt werden. Das Zweite, weniger Anschauliche, sind dann eben jene gedachten Linien senkrecht zu den Wellenflächen, in deren Richtung an jeder Stelle die Welle fortschreitet, die Wellennormalen, die man auch Strahlen nennt, indem man einen vom Licht geläufigen Ausdruck auf jede Art von Wellen überträgt.

Hier stocke ich. Denn was ich jetzt sagen will und muß, ist zwar wichtig und grundlegend, ja es ist sogar richtig, aber in einem Sinn, den wir so stark werden einschränken müssen, daß es der vorläufigen Behauptung fast widerspricht. Die vorläufige Behauptung ist: Diese Wellennormalen oder Strahlenentsprechenden den Teilchenbahnen. Wenn Sie nämlich ein kleines Stückchen aus der Welle herausschneiden, etwa 10 oder 20 Wellen in der Fortschreitungsrichtung und etwa ein ebenso großes Stück quer dazu, und die übrigen Teile der Welle zerstören („glätten“), dann bewegt sich ein solches „Wellenpaket“ wirklich entlang eines Strahles und mit genau derjenigen Geschwindigkeit und allenfalls Geschwindigkeitsänderung, wie es von einem Teilchen der betreffenden Art an der betreffenden Stelle unter Rücksicht auf etwa vorhandene Kraftfelder, die auf das Teilchen einwirken, zu erwarten steht.

Wenn wir so im Wellenpaket oder der Wellengruppe für das Teilchen eine Art anschauliches Bild gewinnen, das sich in viele Einzelheiten ausführen läßt (z. B. ist der Impuls des Teilchens um so größer je kleiner die Wellenlänge, die beiden sind genau umgekehrt proportional), — so dürfen wir dieses anschauliche Bild doch aus vielen Gründen nicht ganz ernst nehmen. Erstens ist es doch etwas verschwommen, um so verschwommener je größer die Wellenlänge; zweitens liegt ja oft gar nicht ein kleines Paket, sondern eine ausgedehnte Welle vor; endlich können auch ganz kleine „Paketchen“ vorliegen von einer Struktur, daß von Wellenflächen und Wellennormalen überhaupt nicht die Bede sein kann — ein wichtiger Fall, auf den ich gleich zurückkomme. Folgende Auffassung scheint mir angemessen und vertretbar, weil weitgehend experimentell gesichert: an jeder Stelle in einem regelmäßig fortschreitenden Wellenzug findet sich ein zweifacher struktureller Zusammenhang der Wirkungen, die man als „längs“ und „quer“ unterscheiden mag. Die Querstruktur ist die der Wellenflächen und tritt bei Beugungs- und Interferenzversuchen zutage, die Längsstruktur ist die der Wellennormalen und manifestiert sich bei der Beobachtung einzelner Teilchen. Beides ist völlig sichergestellt durch sinnreiche, jeweils für den besonderen Zweck sorgfältig ausgedachte Versuchsanordnungen.

Allein diese Begriffe der Längsstruktur und Querstruktur sind keine scharfen und keine absoluten, weil die der Wellenflächen und Wellennormalen es nicht sind. Sie gehen notwendigerweise verloren, wenn sich das ganze Wellenphänomen auf einen kleinen Raum von den Abmessungen einer einzigen oder ganz weniger Wellenlängen beschränkt. Dieser Fall ist nun von ganz besonderem Interesse, und zwar vor allem bei jenen Wellen, welche nach de Broglie die „zweite Natur“ des Elektrons ausmachen.

Für sie stellt sich heraus, daß dieser Fall gerade in der Nähe eines positiv geladenen Atomkerns eintreten muß, wobei das Wellenphänomen, eine Art stehender Schwingung, sich auf einen kleinen Raum zurückzieht, für den sich rechnungsmäßig sehr genau die wahre Atomgröße ergibt, die ja anderweitig schon lange recht gut bekannt war. Stehende Wasserwellen ähnlicher Art kann man in einem kleinen Waschbecken erzeugen, etwa indem man mit dem Finger in der Mitte einigermaßen regelmäßig plätschert, oder auch nur dem ganzen Becken einen kleinen Schups gibt, so daß die Wasserfläche hin und her schwankt. Es liegt da keine regelmäßige Wellenausbreitung mehr vor; aber was das Interesse auf sich zieht, sind die Eigenfrequenzen dieser stehenden Schwingungen, welche Sie ebenfalls im Wasserbecken ganz wohl beobachten können. Für die den Atomkern umspielende Wellengruppe kann man diese Frequenzen berechnen und findet sie ganz allgemein genau gleich den durch die Plancksche Konstante h dividierten „Energieniveaus“ der Bohrschen Theorie, die ich vorhin kurz erwähnte. Die geistreichen, aber doch etwas kunstvollen Annahmen jener Theorie, sowie der älteren Quantentheorie überhaupt, finden so in dem de Broglieschen Wellenphänomen einen sehr viel natürlicheren Ersatz. Das Wellenphänomen bildet den eigentlichen „Körper“ des Atoms. Es tritt an die Stelle der einzelnen punktförmigen Elektronen, die im Bohrschen Modell den Kern umschwärmen sollten. Von solchen punktförmigen Einzelteilchen kann innerhalb des Atoms auf keinen Fall die Rede sein; und wenn man sich den Kern selber noch als ein solches denkt, so ist das ein ganz bewußter Notbehelf.

An der Entdeckung, daß die „Energieniveaus“ eigentlich nichts weiter als die Frequenzen von Eigenschwingungen sind, scheint mir nun besonders wichtig, daß man so auf die Annahme sprunghafter Übergänge verzichten kann, weil ja zwei oder mehr Eigenschwingungen sehr wohl gleichzeitig angeregt sein können. Die Diskretheit der Eigenfrequenzen reicht, wie ich wenigstens glaube, vollkommen hin zur Stütze der Überlegungen, von denen Planck ausgegangen war, und vieler ähnlicher, ebenso wichtiger — ich meine, kurz gesagt, zur Stütze der ganzen Quantenthermodynamik.

 

  1. Quantensprung und Partikelidentität

Das Ablassen von der Theorie der Quantensprünge, die mir persönlich von Jahr zu Jahr unannehmbarer erscheinen, hat freilich erhebliche Konsequenzen. Es bedeutet ja, daß man den Austausch der Energie in abgezirkelten Paketen nicht ernst nimmt, nicht wirklich daran glaubt, sondern ersetzt durch die Resonanz zwischen Schwingungsfrequenzen. Nun haben wir aber gesehen, daß wir, wegen der Identität von Masse und Energie, die Korpuskeln selbst als Plancksche Energiequanten ansehen müssen. Da erschrickt man zunächst. Denn der besagte Unglaube zieht es nach sich, daß wir auch die einzelne Partikel nicht als ein wohlabgegrenztes Dauerwesen ansehen dürfen.

Daß sie das nun in Wirklichkeit nicht ist, dafür gibt es noch manche andere Gründe. Erstens werden solch einem Teilchen schon seit langem Eigenschaften zugeschrieben, die damit im Widerspruch stehen. Aus dem oben nur flüchtig erwähnten Bilde des „Wellenpakets“ kann man sehr leicht die berühmte Heisenbergsche Unschärferelation ablesen, nach welcher ein Teilchen nicht gleichzeitig an einem ganz bestimmten Ort sein und eine scharf bestimmte Geschwindigkeit haben kann. Selbst wenn diese Unschärfe gering wäre — und sie ist es gar nicht —, zieht sie nach sich, daß man nie mit apodiktischer Gewißheit zweimal dasselbe Teilchen beobachtet. Ein anderer sehr stichhaltiger Grund, der Einzelpartikel die identifizierbare Dasselbigkeit abzusprechen, liegt in folgendem. Wenn wir in einer theoretischen Überlegung mit zwei oder mehr Teilchen derselben Art zu tun haben, beispielsweise mit den zwei Elektronen eines Heliumatoms, dann müssen wir ihre Individualität verwischen, sonst werden die Resultate einfach falsch, stimmen nicht mit der Erfahrung. Wir müssen zwei Situationen, die sich nur durch Rollentausch der zwei Elektronen unterscheiden, nicht etwa bloß als gleich — das wäre selbstverständlich —, sondern wir müssen sie als eine und dieselbe zählen; zählt man sie als zwei gleiche, so kommt Unsinn heraus. Dieser Umstand wiegt schwer, weil er für jede Art von Partikel in beliebiger Anzahl ohne jede Ausnahme gilt und weil er allem, was man in der alten Atomtheorie darüber dachte, stracks zuwider läuft.

Daß die Einzelpartikel kein wohlabgegrenztes Dauerwesen von feststellbarer Identität oder Dasselbigkeit ist, wird ebenso wie die hier angeführten Gründe für die völlige Unzulässigkeit dieser Vorstellung wohl von den meisten Theoretikern zugegeben. Trotzdem spielt in ihren Vorstellungen, Überlegungen, Gesprächen und Schriften das Einzelteilchen immer noch eine Rolle, der ich nicht beipflichten kann. Noch viel tiefer verwurzelt ist die Vorstellung von den sprunghaften Übergängen, den „Quantensprüngen“, wenigstens nach den Worten und Redewendungen, die sich stehend eingebürgert haben; freilich in einer sehr verklausulierten Fachsprache, deren gutbürgerlicher Sinn oft schwer zu fassen ist. Zum ständigen Vokabular gehört beispielsweise die Übergangswahrscheinlichkeit. Man kann aber von der Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses doch wohl nur reden, wenn man denkt, daß es zuweilen auch wirklich eintritt. Und diesfalls, da man von Zwischenzuständen nichts wissen will, muß der Übergang wohl ein plötzlicher sein. Auch könnte er ja, wenn er Zeit gebrauchte, durch eine unvorhergesehene Störung in der Hälfte unterbrochen werden; dann wüßte man gar nicht, woran man ist, die angeblich scharfe und fundamentale Begriffsbildung bekäme ein Loch. In dieser Begriffsbildung spielt überhaupt die Wahrscheinlichkeit eine alles beherrschende Rolle. Das schwerempfundene Dilemma Welle-Korpuskel soll sich so auflösen, daß aus dem Wellenfeld lediglich die Wahrscheinlichkeit zu errechnen sei, eine Korpuskel von bestimmten Eigenschaften an einer bestimmten Stelle anzutreffen, wenn man dort nach einer solchen sucht. Diese Ausdeutung mag den Befunden mit besonderen, sinnreich ausgedachten Versuchsanordnungen an äußerst hochfrequenten Wellen („ultraschnellen Korpuskelströmen“) ganz angemessen sein. Ich meine diejenigen, die ich an früherer Stelle als Beobachtung an einzelnen Teilchen anführte. In den Strichspuren, die man Teilchenbahnen nennt, tritt zweifellos ein longitudinaler Wirkungszusammenhang, entlang der Wellennormalen, zutage. Ein solcher ist aber bei der Ausbreitung einer Wellenfront durchaus zu erwarten. Ihn aus der Wellenvorstellung zu verstehen, besteht jedenfalls mehr Aussicht als umgekehrt den transversalen Wirkungszusammenhang der Interferenz und Beugung aus dem Zusammenwirken diskreter Einzelteilchen, wenn man den Wellen die Realität abspricht und bloß eine Art informativer Rolle zuerkennt.

 

  1. Wellenidentität

Reale Existenz ist nun freilich ein von vielen philosophischen Hunden fast zu Tode gehetztes Wort, dessen einfache, naive Bedeutung uns beinahe abhanden gekommen ist. Drum will ich hier noch an etwas anderes erinnern. Wir sprachen davon, daß eine Korpuskel kein Individuum ist. Man beobachtet eigentlich nie dieselbe Partikel ein zweites Mal — so ähnlich wie das Herakleitos vom Fluß sagte. Man kann ein Elektron nicht kennzeichnen, nicht „rot anstreichen“, und nicht nur das, man darf sie sich nicht einmal gekennzeichnet denken, sonst erhält man durch falsche „Abzahlung“ auf Schritt und Tritt falsche Ergebnisse — für die Struktur der Linienspektren, in der Thermodynamik u. a. m. Im Gegensatz dazu ist es aber ganz leicht, einer Welle individuelle Struktur aufzuprägen, an der sie mit voller Sicherheit wiedererkannt wird. Denken Sie nur etwa an die Leuchtfeuer zur See. Nach einem bestimmten Code ist jedem seine Lichtfolge vorgeschrieben, etwa 3 Sekunden Licht, 5 Sekunden Dunkel, 1 Sekunde Licht, wieder 5 Sekunden Pause und dann wieder Licht für 3 Sekunden usw. Der Schiffer weiß: Das ist San Sebastian. Ähnliches gilt für Heulbojen, nur sind es da Schallwellen. Oder: Sie telephonieren drahtlos mit einem guten Freund in New York; sobald er hineinspricht, wissen Sie, daß seine Stimme der Radiowelle eine Struktur aufgeprägt hat, die fünftausend Meilen weit zu Ihnen gewandert und mit Sicherheit von jeder anderen zu unterscheiden ist. Man braucht aber gar nicht so weit zu gehen. Wenn die Gattin aus dem Garten heraufruft: „Franz“, ist es ganz dasselbe, bloß sind es Schallwellen, die Reise ist kürzer, dauert aber etwas länger. Unsere ganze sprachliche Verständigung beruht auf aufgeprägter individueller Wellenstruktur. Und welche Fülle von Einzelheiten in rascher Folge übermittelt uns nach demselben Prinzip das kinematographische Bild oder das Fernsehbild!

Nun handelt es sich hier freilich um verhältnismäßig grobe Wellenstrukturen, denen man vielleicht nicht die einzelnen Korpuskeln gegenüberstellen sollte, sondern die handgreiflichen Körper in unserer Umgebung. Und diese haben nahezu alle eine sehr ausgesprochene Individualität; mein altes Taschenmesser, meinen alten Filzhut, das Züricher Münster usw. habe ich hundertmal mit Sicherheit wiedererkannt. Aber bemerkenswerterweise findet sich jenes Charakteristikum, daß man dem Wellenphänomen, im Gegensatz zur Korpuskel, Individualität zuzuschreiben hat, auch schon bei den Elementarwellen. Ein Beispiel muß genügen. Man kann sich ein abgegrenztes Volumen etwa von Heliumgas entweder aus vielen Heliumatomen bestehend denken, oder anstatt dessen aus einer Überlagerung elementarer Wellenzüge von Materiewellen. Beide Anschauungsweisen führen zu denselben Ergebnissen für das Verhalten des Gaskörpers bei Erwärmung, Kompression usw. Aber man muß bei gewissen ziemlich umständlichen Abzahlungen, die in beiden Fällen vorzunehmen sind, verschieden vorgehen. Wenn man sich als Denkbild der Teilchen, der Heliumatome, bedient, so darf man ihnen, wie ich schon vorhin sagte, keine Individualität zuschreiben. Das schien anfangs sehr erstaunlich und hat zu langen Kontroversen geführt, die aber längst beigelegt sind. Dagegen bei der zweiten Betrachtungsweise, die anstatt der Teilchen die Materiewellenzüge ins Auge faßt, kommt jedem derselben eine angebbare Struktur zu, verschieden von der jedes anderen. Wohl gibt es sehr viele Paare, die einander so ähnlich sind, daß sie ihre Rollen tauschen können, ohne daß man es dem Gaskörper von außen anmerkt. Wollte man aber die sehr vielen ähnlichen Zustände, die so entstehen, bloß als einen einzigen zählen, so erhielte man etwas ganz Falsches.

 

  1. Schlußwort

Daß trotz alledem, was ich zuletzt vorgebracht habe und was ja eigentlich von niemand geleugnet wird, die engverknüpften Begriffe des Ouantensprungs und der Einzelkorpuskel noch nicht aus dem Vokabular und auch nicht aus dem Denkbild des Physikers verschwunden sind, das mag vielleicht wundernehmen. Sie finden die Aufklärung, wenn Sie überlegen, daß die Auffassung, zu der wir zuletzt gelangt sind, viele Einzelheiten über die Struktur der Materie, die ich zu Anfang vorbrachte, aufhebt oder doch in ihrer eigentlichen Bedeutung in Frage stellt. Aber ohne unerträgliche Weitschweifigkeit konnte ich gar nicht anders, als mich zunächst einer Sprache bedienen, die ich eigentlich nicht für angemessen halte. Wie kann man das Gewicht eines Kohlenstoffkerns und eines Wasserstoffkerns je auf mehrere Dezimalen genau angeben und feststellen, daß jener um ein Geringes leichter ist als die zwölf in ihm vereinigten Wasserstoffkerne, ohne vorläufig den Standpunkt zu akzeptieren, daß diese Teilchen etwas ganz konkret Wirkliches sind? Das ist so viel bequemer und anschaulicher, daß man darauf nicht verzichten kann, wie der Chemiker auf seine Valenzstriche nicht verzichtet, obwohl er genau weiß, daß sie eine drastische Vereinfachung recht verwickelter wellenmechanischer Sachverhalte sind.

Fragen Sie mich zuletzt: Ja was sind denn nun aber wirklich diese Korpuskeln, diese Atome und Moleküle? — so müßte ich eigentlich ehrlich bekennen, ich weiß es so wenig, als wo Sancho Pansas zweiter Esel hergekommen ist. Um aber doch etwas, wenn auch nicht Gewichtiges zu sagen: am ehesten darf man sie sich vielleicht als mehr oder weniger vorübergehende Gebilde innerhalb des Wellenfeldes denken, deren Gestalt aber, und strukturelle Mannigfaltigkeit im weitesten Sinne des Wortes, so klar und scharf und stets in derselben Weise wiederkehrend durch die Wellengesetze bestimmt ist, daß Vieles sich so abspielt, als ob es substantielle Dauerwesen wären. Die so genau angebbare Masse und Ladung des Teilchens muß man dabei mit zu den durch die Wellengesetze bestimmten Gestaltelementen rechnen. Erhaltung von Ladung und Masse im großen hätte als ein statistischer Effekt zu gelten, gestützt auf das „Gesetz der großen Zahl“.