Merkur, Nr. 288, April 1972

Wissenschaftliche Politikberatung und Umweltschutz

von Georg Picht

 

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik — seit Platon eines der großen Themen der politischen Theorie — wird durch die Bedrohung unserer natürlichen Umwelt in ein neues und unheimliches Licht gerückt. Wir sind im Begriff, unsere eigene Biosphäre zu zerstören, weil Politik und Wirtschaft bedenkenlos mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung spielen, und weil die Wissenschaft für die Auswirkungen der Instrumente, die sie den Machthabern dieser Welt zur Verfügung stellt, die Verantwortung ablehnt. Es geht schon heute um Leben oder Tod von vielen Tausenden von Menschen. Die Ressourcen des Raumschiffes Erde sind begrenzt. Die Schicht des organischen Lebens auf unserem Planeten ist dünn und verletzlich. Nachdem der Haushalt der Natur durch menschlichen Eingriff aus den Fugen geraten ist, bedarf es riesiger Anstrengungen, das biologische Gleichgewicht wieder herzustellen.

Die Politik bewegt sich dabei auf Messers Schneide. Willkür, Dilettantismus und Ausbeutung sind am Werk. Jede Entscheidung, jedes Unterlassen kann ein Verhängnis bringen, das uns hinterrücks überfällt, weil wir versäumt haben, die Kräfte, mit denen wir umgehen, zu erforschen. Um die Gesetze und Mechanismen der menschlichen Ökologie zu verstehen und zu beherrschen, müßten wir über ein wissenschaftliches und politisches Instrumentarium verfügen, mit dem verglichen die NASA-Zentrale und die amerikanische Atom-Energie-Kommission wie Kinderspielzeug wirken. Aber wir stehen bisher mit leeren Händen da. Erst in den letzten Jahren beginnt die öffentliche Meinung zu begreifen, was eine Minorität von Wissenschaftlern seit Jahrzehnten weiß und sagt.

Politik und Wirtschaft sind jedoch weit davon entfernt, aus Erkenntnissen, die niemand mehr bezweifelt, rationale Konsequenzen zu ziehen. Statt die »Kommandozentralen« aufzubauen, die nötig wären, um das Spiel destruktiver Prozesse einer rationalen Kontrolle zu unterwerfen, versucht man, der Umwelthysterie dadurch zu begegnen, daß man mit konventionellen Methoden an isolierten Symptomen herumkuriert. Weder werden die Strukturen verändert, die das Übel herbeigeführt haben, noch kann man sich dazu entschließen, die falschen Zielvorstellungen zu revidieren, von denen wir doch wissen, daß sie in die Katastrophe führen. Die Politik ist mehr denn je entschlossen, sich die Freiheit ihres Ermessensspielraums nicht durch wissenschaftliche Analysen einschränken zu lassen, und die Wissenschaft steht im Begriff, sich aus Angst vor der Unruhe der Studenten in einer verantwortungslosen »Freiheit« zu verschanzen; wer auf ihre Verflechtung mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft reflektiert, wird als ein Helfershelfer der »kommunistischen Unterwanderung« verfemt. Aber die falsche Mentalität von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik wird durch die Tatsachen überführt. Die technische Zivilisation wird gezwungen werden, die von ihr produzierte Realität zur Kenntnis zu nehmen. Wenn das geschieht, wird sich das Verhältnis von Politik und Wissenschaft in der Tiefe verändern.

Mit dieser Problematik mußten wir uns in einer Kommission beschäftigen, der Minister Genscher zu Beginn des vorigen Jahres den Auftrag erteilt hat, ihm ein Gutachten über die Organisation der wissenschaftlichen Beratung der Bundesregierung in Umwelt-Fragen zu erstatten. Das Gutachten wurde am 30. Juli 1971 vorgelegt; seine Vorschläge konnten im Umwelt-Programm der Bundesregierung verwertet werden. Es ist hier nicht der Ort, die wissenschaftlichen, technischen, organisatorischen und rechtlichen Probleme zu diskutieren, die das Gutachten zu berücksichtigen hatte. Die heute allgemein herrschende Tendenz, die Diskussion über Probleme des Umweltschutzes in die Erörterung technischer Spezialfragen abzudrängen, entspringt einem Defensivmechanismus, durch den sich Politik und Wirtschaft gegen Erkenntnisse abzuschirmen versuchen, die ihnen unbequem werden könnten. Es gibt nämlich jenseits der technischen Details eine Schicht von fundamentalen Einsichten und Fragen, die in Zukunft zum Grundbestand des politischen Weltverständnisses gehören werden. Die zerstörte Umwelt ist für uns ein Spiegel, in dem sich ein erschreckendes Bild zeigt: Es ist das Bild einer Gesellschaftsordnung, die auf naturwidrigen Prämissen beruht und deshalb einer Gesetzlichkeit gehorcht, die falsches Denken und falsches Handeln produziert. Es ist das Bild einer staatlichen Organisation, die sich in unser ökologisches System nicht einfügen läßt. Sollen wir richtig denken, richtig handeln und adäquate politische Strukturen ausbilden, so müssen Institutionen geschaffen werden, die politisches Handeln und wissenschaftliche Forschung auf rationale und durchsichtige Weise koordinieren. Unser Gutachten hat den Versuch gemacht, in dieser Richtung wenigstens einen ersten Schritt zu tun.

 

I

Bisher beschränkt sich die öffentliche Diskussion der Umweltfragen auf Oberflächensymptome eines Zerstörungsprozesses, von dem nur Ausschnitte bekannt sind. Die Zeitungen überschwemmen uns mit Berichten über die Verschmutzung von Wasser und Luft, über die chemische Vergiftung von Boden, Tieren, Pflanzen und über die alarmierenden Folgen von Störungen des biologischen Gleichgewichts. Ein gewiß nur kleiner Teil dieser Daten wird durch die bisherigen Methoden und Meßverfahren zuverlässig erfaßt. Für einzelne Faktoren der Umwelt-Belastung wurden (nach oft recht willkürlichen Kriterien) Grenzwerte festgesetzt, deren Einhaltung am Widerstand wirtschaftlicher Interessengruppen zu scheitern pflegt. In dieser Oberflächenschicht der Problematik wäre das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik leicht zu regeln: Die Wissenschaft liefert, wo sie es kann, exakte Informationen; die Politik hätte die Aufgabe, daraus die Konsequenzen zu ziehen. Sie müßte außerdem dafür sorgen, daß die Wissenschaft so organisiert und so finanziert wird, daß sie den Informations- und Alarmdienst, für den sie gebraucht wird, auch durchführen kann. Unsere Kommission ist der Meinung, daß zwar nicht im technischen Bereich, aber doch im Sektor der Forschung die vorhandenen Kapazitäten vorerst ausreichen müßten, um das, was unentbehrlich ist, zu leisten.

Diese Kapazitäten bei rationaler Planung und Nutzung verteilen sich auf die sehr unterschiedlichen Bereiche der freien Forschung an Universitäten und Institutionen nach Art der Max-Planck-Gesellschaft, der Großforschungseinrichtungen, der Industrieforschung und der weisungsgebundenen Forschung an Bundes- und Länderanstalten. Die Bundesrepublik ist indes noch weit davon entfernt, diese Komplexe so koordiniert zu haben, daß eine rationale und ökonomische Nutzung des gesamten Potentials möglich wird. Das ist eine organisatorische Aufgabe großen Stils, deren Bewältigung Probleme aufwirft, die tief in die Struktur der gegenwärtigen Formen der Wissenschaftspolitik und Wissenschaftsfinanzierung eingreifen.

Bei konsequenter Analyse stößt man schon hier auf fundamentale Probleme unserer gegenwärtigen Staats- und Gesellschaftsordnung, unserer Verfassung und der Struktur der internationalen Körperschaften. Eine effektive Organisation der Forschung auf nationaler und internationaler Ebene wird durch föderalistische Kirchturmspolitik und nationalen Egoismus verhindert; der Einfluß der Wirtschaft auf Wissenschaftsplanung und -finanzierung ist so übermächtig, daß eine Forschung, die mit mächtigen wirtschaftlichen Interessen kollidiert, nur geringe Chancen hat, zum Zuge zu kommen. Außerdem sind die Probleme der Forschungsorganisation unlösbar mit der Universitätsreform verkoppelt, die zur Zeit durch die Verblendung aller Beteiligten hoffnungslos verfahren ist.

Beim Umweltschutz geht es nicht nur um technische Apparate und Geld; es muß auch qualifiziertes Personal ausgebildet werden. Selbst wenn die Milliarden zur Verfügung stünden, die man etwa zum Bau der nötigen Kläranlagen braucht, fehlen uns dazu die Ingenieure; und für die Ausbildung der Ingenieure fehlen die Institutionen. Bei den Politikern ist heute die Meinung verbreitet, man könnte nur entweder die Umweltpolitik oder die Bildungspolitik finanzieren. Tatsächlich konvergieren aber Umweltzerstörung und Bildungsnotstand zu einem Syndrom. Nur eine gebildete Gesellschaft ist der Umwelt-Bedrohung gewachsen.

 

II

In eine tiefere Schicht der Problematik dringen wir ein, wenn wir uns klarmachen, daß die Faktoren der Umweltbelastungen nicht isoliert werden können. Jeder Einzelne ist immer gleichzeitig einer Vielzahl von solchen Belastungen ausgesetzt. Verschmutzte Luft, vergiftete Nahrung, Lärm, schlechtes Wasser, Überschwemmung durch Medikamente, zunehmende Radioaktivität müssen vom Organismus auf einmal bewältigt werden. Wir wissen aber noch viel zu wenig darüber, wie sich die Belastungsgrenzen verschieben, wenn mehrere solcher Faktoren zusammenwirken. Einzeluntersuchungen haben zu höchst beunruhigenden Ergebnissen geführt. Hinzu kommt, daß auch die sozialen Verhältnisse »Umwelt« sind, und daß die Lebenssituationen am Arbeitsplatz, im Verkehr, in den angeblich »sozialen« Wohnungen, in den Schulen und in der sogenannten Freizeit unsere psychophysische Konstitution genauso bedrohen wie die Verschmutzung der Luft. Jedermann weiß, daß physische Belastungen, die man in normalen Lebenslagen leicht erträgt, unter dem Druck von Stress einen Kollaps oder einen Herzinfarkt auslösen können. Man kann an einem solchen Zusammenwirken verschiedener Belastungen sterben; aber quantitativ lassen sich Synergismen entweder überhaupt nicht oder nur in sehr langfristigen Untersuchungsreihen messen. Wenn die Resultate vorliegen, ist es zu spät. Heute herrscht der Aberglaube, wahr sei nur das, was quantitativ beweisbar ist. Solange nicht Tausende von Menschen an Krebs gestorben sind, gibt man nicht zu, daß die Luftverschmutzung in den Ballungsgebieten gefährlich ist. Aber wenn wir warten wollen, bis das Massensterben ein katastrophales Ausmaß angenommen hat, ist das Übel nicht mehr zu beseitigen. Wenn die Regierung ihre Verantwortung für die Sicherheit der Bürger ernst nimmt, muß sie in der Umweltpolitik, nicht anders als in der Militärpolitik, handeln, bevor die Katastrophe eintritt.

In dieser Schicht der Problematik werden die Aufgaben sowohl der Wissenschaft wie der Politik schon sehr viel komplizierter. Wir betrachten zunächst beide Bereiche getrennt und beginnen mit der Wissenschaft. Eine Erkenntnis jener Wirkungen, die durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren ausgelöst werden, läßt sich nicht mehr durch spezialwissenschaftliche Untersuchungen gewinnen. Hier müssen viele Disziplinen an gemeinsamen Forschungsprojekten zusammenarbeiten. Gerade die Erforschung der »Umwelt«—treffend bezeichnet das Wort die Unteilbarkeit der Realität — ist grundsätzlich nur als interdisziplinäre Forschung möglich. Das ist ein evidenter Satz, hinter dem sich jedoch große Schwierigkeiten verbergen. Es ist eine Illusion zu meinen, interdisziplinäre Forschung könnte an spezialwissenschaftlichen Instituten allein dadurch zustande kommen, daß man diese zur Zusammenarbeit auffordert und schönklingende Programme aufstellt. Für diesen neuen Typ integrierter Forschung müssen die organisatorischen Voraussetzungen erst geschaffen werden; neben der Planung und Finanzierung bedarf sie vor allem der Ausbildung eines geeigneten wissenschaftlichen Nachwuchses. Wie das mit relativ bescheidenen Mitteln in Gang gebracht werden könnte, sei hier nicht erörtert. Es muß nur mit Nachdruck unterstrichen werden, daß die spezialwissenschaftliche Forschung für eine Politikberatung in Umweltfragen noch keine geeignete Basis darstellt. Die Struktur unseres ökologischen Systems, die Wechselwirkungen, die sich in ihm ergeben, und die Methoden, mit denen es erforscht werden könnte, sind uns bisher noch weithin unbekannt. Hier stehen wir vor riesigen Aufgaben, die unter mörderischem Zeitdruck gelöst werden müssen. Bis dahin tappt auch die Umweltpolitik im Dunkeln. Durch Addition von Einzelmaßnahmen läßt sich zwar viel Nützliches bewirken, aber eine Politik kommt dabei noch nicht heraus. Vernunftgemäßes Handeln einer Regierung, die ihre Verantwortung erkennt, beginnt mit der Einsicht, daß beim Umweltschutz die Organisation und Entwicklung der Forschung an der Spitze der Prioritäten stehen muß.

Der Zersplitterung der Wissenschaft in Spezialfächer entspricht im Bereich der Politik die Zersplitterung der Kompetenzen. Es gibt in den Regierungen des Bundes und der Länder kein Ministerium, das nicht direkt oder indirekt mit Umweltproblemen zu tun hätte. In der technischen Welt haben die Entscheidungen der Exekutive, die Gesetze und Verordnungen, durchgängig Veränderungen der Umwelt zur Folge, die heute, weil uns die nötige Forschung noch fehlt, niemand berechnen und kontrollieren kann. Wenn — um hier nur einige Beispiele zu nennen — eine Steuerreform beschlossen wird, so wirkt sich die veränderte Kanalisierung des Geldstroms in sehr kurzen Fristen auf die Disposition über die Finanzen der öffentlichen Hand aus. Danach bemißt sich der Spielraum der Umweltpolitik. Zugleich aber werden Richtung und Umfang von Produktion und Konsum beeinflußt und damit jene Prozesse verändert, die die Umweltkrise beschleunigen oder bremsen. So hat etwa die Gewerbesteuerordnung Zerstörungen zur Folge gehabt, die in die natürliche Umwelt tiefer eingreifen als einzelne chemische Substanzen, über die ein großes Geschrei erhoben wird.  Die Finanzminister sind aber in der Regel nicht darüber informiert, daß ihre Entscheidungen möglicherweise menschliches Leben bedrohen. Ein anderes Beispiel ist das Eigentumsrecht, das als ein Schlüsselproblem der Städteplanung, der Raumordnung und des Landschaftsschutzes für die Umweltgestaltung große Bedeutung besitzt. Im Knäuel von Ideologien und Interessen bricht sich nur mühsam die Erkenntnis Bahn, daß das Festhalten an veralteten Rechtsnormen Schäden verursacht, deren Beseitigung unzählige Milliarden kosten wird. Mit gleichem Recht könnte man auf die Verkehrspolitik, die Agrarpolitik, die Militärpolitik, aber auch auf die Sozialpolitik verweisen. In allen diesen Bereichen werden Entscheidungen getroffen, deren Auswirkungen unsere Umwelt weit nachhaltiger beeinflussen als etwa der Arsenschlamm.

Hat man das einmal begriffen, so wird man nicht mehr auf den Gedanken verfallen, das Problem des Umweltschutzes ließe sich durch die Einrichtung eines Umwelt-Ministeriums lösen. Ein solches Ministerium müßte, um überhaupt etwas bewirken zu können, als eine Art von Überministerium in sämtliche Ressorts hineinregieren; das ist weder verfassungsrechtlich noch politisch möglich. Kann es das aber nicht, so wird es zu einem bloßen »Konfliktministerium«, das die schon jetzt beunruhigende Desorganisation unseres Regierungsapparates höchst wirkungsvoll befördern würde. Noch schlimmer wäre ein »Dekorationsministerium«, das, bloß als Alibi gedacht, den Wählern vorspiegelt, es würde gehandelt, während in Wahrheit nichts geschieht. Wenn es wahr ist, daß alle Ressorts der Regierung durch ihre Planungen und durch ihr Handeln auf die Gestaltung unserer Umwelt Einfluß haben, dann liegt die Verantwortung für die Umwelt bei der gesamten Regierung. Umweltpolitik ist eine Querschnittsaufgabe.

Der interdisziplinären Aufgabe der Wissenschaft entspricht die ressortübergreifende Aufgabe der Politik. Das gilt auch für das Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen. Es ist ein Tatbestand, daß die verfassungsrechtliche Struktur unseres Staates zum ökologischen System in Widerspruch steht. Da wir die Staatsordnung aber nicht einfach umstürzen können, müßte wenigstens der Versuch gemacht werden, die Mängel des Systems durch vernünftige Zusammenarbeit zu kompensieren.

Fragen wir an dieser Stelle erneut nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik, so zeigt sich alsbald, wie die Frage sich durch diese Überlegungen kompliziert hat. Im Feld der Wissenschaft überschneiden sich drei Kreise von bisher ungelösten Problemen: die Methodenprobleme interdisziplinärer Forschung, die kommunikationstechnischen und organisatorischen Probleme der Koordination heterogener Forschungsbereiche und das gesellschaftliche Problem des Konfliktes der in diesen Bereichen investierten Interessen. Im Feld der Politik müssen im Rahmen einer für diese Aufgabe nicht eingerichteten Verfassung Strukturen ausgebildet werden, die es ermöglichen, in einem irrationalen Gefüge rational zu handeln. Gleichzeitig ist auf beiden Seiten ein Wandel der Mentalität erforderlich. Die Wissenschaftler sind in ihrer Mehrzahl weltfremd, die Politiker in der Mehrzahl »umweltfremd«. Wie Weltfremdheit und Umweltfremdheit im Zusammenwirken gesunde Verhältnisse produzieren sollen — das ist das Problem der Umweltpolitik.

 

III

Ein Ausweg aus diesen Schwierigkeiten ist nur auf einer höheren Reflexionsstufe zu finden. Jene Umweltschäden, die heute mit Recht die Öffentlichkeit erregen, sind lediglich die äußeren Symptome der Krankheit. Die Ursachen liegen nicht im Feld der Physik und der Biologie; sie ergeben sich aus ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Prozessen. Wir müssen die Ursachen beeinflussen, wenn die Symptome beseitigt werden sollen. Läßt sich das ökonomische und politische Verhalten weitgehend als das Resultat der Wertvorstellungen beschreiben, die ein Produkt des Zusammentreffens herrschender Interessen mit bestimmten Kulturtraditionen sind, dann bilden auch die Kulturtraditionen ein wesentliches Element unseres ökologischen Systems.

Auch sie sind durch komplexe Transformationsmechanismen mit der natürlichen Umwelt verkoppelt. Hätte christliche Theologie nicht gelehrt, der Mensch sei zur Herrschaft über die Erde bestimmt, und hätte die neuzeitliche Wissenschaft diese Lehre nicht umgedeutet und säkularisiert, so wäre die Umweltkatastrophe nicht eingetreten.

Wir gehen auf die inhaltlichen Fragen, die eine solche Feststellung aufwirft, hier nicht ein, sondern versuchen, die Konsequenzen abzuleiten, die sich für unser Thema ergeben. Sie lassen sich in wenigen einfachen Sätzen zusammenfassen. Die Umweltbedrohung kann nur überwunden werden, wenn beide Partner, Wissenschaft wie Politik, die Struktur unseres ökologischen Systems begreifen. Die Demontage der Natur durch den Menschen wurde dadurch möglich, daß das neuzeitliche Denken unter »Natur« nur noch jene Objektsphäre versteht, die wir durch Naturwissenschaft und Technik zu beherrschen vermögen. Man vergaß, daß die Menschen selbst in der Natur sind, und daß wir durch Ausbeutung und Zerstörung von Natur unsere eigenen Lebensbedingungen mit vernichten. Das neuzeitliche Denken hat von der unheimlichen Möglichkeit des Menschen, sich naturwidrig zu verhalten, schrankenlos Gebrauch gemacht. Wenn wir die Zyklen und die Wechselwirkungen durchschauen, die soziale und natürliche Umwelt miteinander verbinden, werden wir lernen, auch Politik und Wirtschaft als Vorgänge in der Natur zu betrachten. Wir werden lernen unser eigenes Denken danach zu prüfen, was es in der Natur bewirkt. Das wird eine tiefgreifende Veränderung unseres gesellschaftlichen Verhaltens und unserer politischen Begriffe zur Folge haben, und diese Veränderung ist die Voraussetzung dafür, daß wir die Zerstörung der Umwelt eindämmen können.

Noch sind wir längst nicht so weit, eine so einfache Erkenntnis in ihren theoretischen Konsequenzen zu durchschauen und in der Praxis realisieren zu können. Trotzdem ergeben sich aus ihr schon jetzt gewisse Folgerungen, die bei der Konstruktion eines modernen Systems der wissenschaftlichen Politikberatung auf dem Gebiet des Umweltschutzes berücksichtigt werden müssen:

  1. Solange wir die Struktur unseres ökologischen Systems nicht verstehen, können wir den relativen Stellenwert, die Funktion und die Wechselwirkung der einzelnen Umweltschäden, die gemessen worden sind, nicht beurteilen. Wir wissen dann nicht einmal, wie wir den vieldeutigen und ambivalenten Begriff »schädlich« definieren sollen. Auch eine Skala der Prioritäten, an der sich Umweltpolitik orientieren könnte, ist nur aus einer Analyse der Systemstruktur rational abzuleiten. Deshalb ist die Erforschung jener komplexen Zusammenhänge, in denen sich die moderne Gesellschaft bei ihrem ständigen Wechselspiel mit der Natur bewegt, eine der dringlichsten Aufgaben wissenschaftlicher Forschung überhaupt; sie bedarf dafür eingerichteter Institutionen. Die Erforschung der Struktur unseres ökologischen Systems läßt sich zwar nicht unmittelbar in Politikberatung übersetzen; da diese aber die Kenntnis der Systemzusammenhänge voraussetzt, ist die sogenannte »reine Theorie« für eine rationale Praxis des Umweltschutzes ebenso wichtig wie etwa die Kernphysik für die Gewinnung von Atomenergie.
  2. Die Politik hat es beim Umweltschutz zunächst mit kurzfristigen und mittelfristigen Problemen zu tun, die eine rasche Lösung verlangen. Auch diese Probleme gehören nicht, wie man vielfach noch meint, ausschließlich in das Gebiet von Naturwissenschaft und Technologie; sie hegen im undurchsichtigen Feld der bisher keiner Kontrolle unterworfenen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und natürlicher Umwelt. Das Problem der Luftverschmutzung und der Wasserbelastung hängt mit der Besiedlungs- und  Verkehrsdichte zusammen. Diese wird durch die industrielle Entwicklung, durch den Strukturwandel in agrarischen Gebieten, durch Raum- und Städteplanung und durch politische Interessen beeinflußt. Isolierte Maßnahmen führen nicht zum Ziel, wenn man das Wechselverhältnis dieser Faktoren nicht durchschaut. Am Scheitern der Raumordnung ließe sich demonstrieren, daß ungezählte Milliarden falsch investiert worden sind, weil man die wissenschaftlichen Untersuchungen entweder unterließ oder nicht ernst nahm, auf die sich eine rationale Planung hätte stützen müssen. Ein so dilettantisches Vorgehen können wir uns beim Umweltschutz nicht leisten. Deshalb brauchen wir eine Institution, die in der Lage ist, in Abstimmung auf den Terminplan der Regierung jene wissenschaftlichen Analysen vorzulegen, deren die Regierung als Entscheidungsunterlagen bedarf. Auch eine solche Institution, die im strikten Sinne des Wortes der »wissenschaftlichen Politikberatung« dient, muß interdisziplinär zusammengesetzt sein. Da es hier nicht um abstrakte Theorie, sondern um massive gesellschaftliche Interessen geht, gehört es zur Aufgabe der Wissenschaft auch die Interessenlagen in ihrem Wechselverhältnis allen Partnern ins Bewußtsein zu heben. Daraus ergibt sich, daß nicht nur die Denkbereiche der Wissenschaft, sondern auch die Erfahrungsbereiche der Gesellschaft in einem solchen interdisziplinären Gremium repräsentiert sein und reflektiert werden müssen. Eine Institution dieser Art bedarf eines breiten wissenschaftlichen Unterbaues. Der ungenügend ausgestattete »Sachverständigenrat«, zu dessen Berufung die Bundesregierung sich durchgerungen hat, ist nur ein dürftiger Ersatz für jene Schaltstelle zwischen Politik, gesellschaftlichen Interessengruppen und Wissenschaft, ohne die ein moderner Staat seine Bürger gegen die Umweltbedrohung nicht zu schützen vermag.
  3. Für einen dritten Problembereich sei der Text des Gutachtens zitiert: »Ein großer Teil der heutigen Umweltschäden ist entstanden, obwohl es längst Gesetze und Verordnungen gab, mit denen sie hätten verhindert werden können. Die Umwelt-Krise ist in zentralen Bereichen eine Folge der Mangelhaftigkeit der administrativen Durchführungsmechanismen. Wirksamer Umweltschutz erfordert nicht nur eine permanente Kontrolle der Umweltbelastungen; er erfordert auch eine permanente Kontrolle der Funktionsfähigkeit unserer Kontrollmechanismen. Die Ursachen für das Versagen dieser Kontrollmechanismen sind nicht weniger komplexer Natur als die Ursachen der Umweltschäden selbst… (Deswegen) ist die wissenschaftliche Erforschung der Durchführung des Umweltschutzes ein bisher vernachlässigter, aber wesentlicher Teil der Umwelt-Forschung und der wissenschaftlichen Politikberatung.«Nach unserer Verfassung fällt der Durchführungsbereich in die Kompetenz der Länder und der Kommunen. Deswegen durfte ein für die Bundesregierung erstattetes Gutachten zu diesem Problemkreis keine Vorschläge machen. Nun sind aber die gesellschaftlichen Kräfte und Tendenzen, die sich der Durchführung von Maßnahmen des Umweltschutzes widersetzen und sie bisher mit Erfolg zu blockieren vermochten, nicht auf die Ländergrenzen beschränkt, sie können von der Warte einer Landesregierung nicht überblickt, geschweige denn kontrolliert werden. Die wissenschaftliche Analyse des Durchführungsbereiches ist nur in nationalem und internationalem Kontext möglich. Sie muß auch die Irrationalität der Kompetenzverteilung untersuchen. Solange — um das vermutlich dramatischste Beispiel zu nennen — eine zentrale Ordnung der gesamten Wasserwirtschaft daran scheitert, daß die erforderliche Änderung des Grundgesetzes sich gegen den hier schon an Wahnwitz grenzenden Widerstand der Länder nicht durchsetzen läßt, sind unsere Zukunftsaussichten düster.Auch im Durchführungsbereich stößt wissenschaftliche Forschung auf Fragen von großer prinzipieller Tragweite. Die Rechtsnormen und Verwaltungsgrundsätze, an denen wir uns orientieren, stammen aus einer Phase unserer Geschichte, in der man von der Naturkatastrophe, die hereinzubrechen droht, noch keine Ahnung hatte. Inzwischen nimmt der Prozeß der Zerstörung mit atemberaubender Geschwindigkeit seinen Lauf. Die Ordnungsvorstellungen von Gestern verlieren ihre Gültigkeit. Wenn man an Normen festhält, deren Anwendung menschliches Leben nicht mehr schützt, sondern bedroht, pervertiert man das Recht. Es steht uns eine schmerzliche Überprüfung bevor, die tief in unsere Gewohnheiten einschneiden und ehrenwerte Überzeugungen verletzen muß. Unsere Staats- und Gesellschaftsordnung ist daran zu messen, ob dieser große Lern- und Transformationsprozeß im Rahmen der heutigen Demokratie mit Klarheit und Besonnenheit vollzogen werden kann.

 

IV

In diesem Spektrum von Aufgaben, die wissenschaftliche Politikberatung auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu bearbeiten hätte, wurde der Sektor der spezifisch naturwissenschaftlichen und technologischen Probleme ausgeklammert, weil seine Bedeutung unumstritten ist. Es ist fast überflüssig hervorzuheben, daß er nicht vernachlässigt werden darf. Bisher kennen wir nur einen unzureichenden Ausschnitt der Sachverhalte, die Umweltschutz erforderlich machen. Zum Teil reichen die Kapazitäten nicht aus, um die Untersuchungen und Messungen vorzunehmen, die wir brauchen; zum Teil sind die Methoden noch nicht entwickelt, mit denen die nötigen Daten gewonnen werden könnten. Weite Gebiete der Umweltbedrohung liegen im Dunkeln; vielleicht lauern hier die größten Gefahren. Die Politik kann mit den isolierten Fakten, die in Speziallaboratorien entdeckt werden, wenig anfangen. Damit die hier gewonnene Erkenntnis in den Bereich des politischen Handelns vordringen kann, bedarf es einer wissenschaftlichen Kombination und Kondensation der Informationen und einer methodisch durchgeführten Relevanzkritik. Es bedarf also wiederum interdisziplinärer Arbeit, die hohe methodische Anforderungen stellt — hat doch die Vorbereitung des Umweltprogramms gezeigt, in welchem Maße die Auswertung der Informationen durch den Druck von Interessengruppen beeinflußt wird, die auch in den Expertengruppen vertreten sind.

Das politische Handeln bezieht sich nicht direkt auf physikalische oder biologische Fakten; es bezieht sich vielmehr auf die Transformationsmechanismen, die diese Fakten so oder so beeinflussen können. Um dasselbe weniger abstrakt zu sagen: Der Weg zu einer Verbesserung der Luft führt über die Vorschriften für Konstruktionsbüros der Automobilindustrie. Solange wir die Vermittlungsketten nicht kennen und die ökonomischen oder gesellschaftlichen Folgen von staatlichen Eingriffen nicht überblicken, laufen wir stets Gefahr, durch unser Handeln die Verhältnisse nicht zu verbessern, sondern zu verschlimmern. Deshalb muß wissenschaftliche Politikberatung auch auf diesem Sektor die Rückkoppelungsmechanismen zwischen natürlicher und sozialer Umwelt durchschauen.

 

V

Wie verhalten sich nun Wissenschaft und Politik, wenn ihre Partnerschaft rational organisiert wird? Wenn es also nicht mehr um die Wechselwirkung unbestimmter Größen, sondern um die funktionsgerechte Koordination von zwei komplexen Systemen geht? Einer der Kernsätze des Gutachtens heißt: »Ein System der wissenschaftlichen Politikberatung in Umweltfragen ist erst dann sachgemäß, wenn es sowohl die Unabhängigkeit der Forschung als auch die Unabhängigkeit der Politik zu stärken vermag.« Der Akzent liegt auf dem Wort »sachgemäß«. Wenn Maßnahmen des Umweltschutzes wirksam sein sollen, schneiden sie tief in die Interessen sämtlicher Gruppen der Gesellschaft ein. Alle sozialen Schichten werden ihre Wertvorstellungen, ihre Ambitionen, ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten einer bitteren Revision unterwerfen müssen. Der Lastenausgleich, zu dem wir gezwungen sind, ist nur im Durchgang durch tiefe gesellschaftliche Konflikte zu erreichen. Jedermann weiß, welchem Interessendruck Politik heute ausgesetzt ist, wenn sie ihre Verantwortung für die großen Gemeinschaftsaufgaben wahrnehmen will. Daß trotzdem niemand einsieht, wie dringend die Unabhängigkeit der Exekutive der Stärkung bedarf, erklärt sich aus dem allgemeinen, aber verblendeten Interesse an der Ausbeutung des Staates.

Bedroht ist aber auch die Unabhängigkeit der Wissenschaft. Die wissenschaftliche Forschung unserer Zeit braucht immer aufwendigere Apparaturen; sie kostet Geld. Wer Forschung finanziert, bestimmt ihre Richtung. Die offene oder versteckte Manipulation der Wissenschaft durch Interessenten ist aber genau der Vorgang, der unsere Umwelt gefährdet. Wir sind von einer Zerstörung unserer Biosphäre bedroht, weil die Verfügung über das riesige Machtpotential von Wissenschaft und Technik bisher jeder Kontrolle entzogen war.

Wissenschaft kann sich jedoch nur selbst kontrollieren; allen übrigen Instanzen fehlt dazu der Sachverstand. Die Selbstkontrolle der Wissenschaft setzt ihre Unabhängigkeit und ihre Publizität voraus. Deshalb ist Unabhängigkeit und Publizität der Wissenschaft die einzige Garantie gegen ihren Mißbrauch; der Schutz der Unabhängigkeit der Forschung ist Umweltschutz.

In ihrer Partnerschaft mit den politischen Instanzen hat die Wissenschaft eine kritische Funktion. Da Umweltschutz eine Querschnittsaufgabe ist, richtet sich wissenschaftliche Beratung auch an die Adresse jener Ressorts, deren Interessen mit denen des Umweltschutzes kollidieren. Hier ist es Pflicht der wissenschaftliche Beratung, rechtzeitig die Konsequenzen aufzudecken, die sich aus umweltfeindlichen Entscheidungen ergeben müssen. Ein wissenschaftliches Beratungssystem muß also darauf eingerichtet sein, Fragen nicht nur zu beantworten, sondern auch zu stellen. Darüber hinaus ist es die Pflicht der Wissenschaft, die Öffentlichkeit über die Umwelt-Situation nüchtern und zuverlässig zu informieren; denn ohne sachgemäße Information der Öffentlichkeit ist Umweltpolitik nicht durchzuführen.

Es ist zu hoffen, daß die Regierung die Wichtigkeit dieser einfachen Grundsätze erkennt. Menschliche Eingriffe haben die Umwelt-Schädigungen in Gang gesetzt, aber ihr Verlauf gehorcht den Gesetzen der Natur. Die Zeitskala der Naturprozesse richtet sich nicht nach dem Terminkalender der Regierungen, nicht nach der Konjunkturlage der Wirtschaft und nicht nach der Langsamkeit gesellschaftlicher Lernprozesse. Hier gehorcht nicht die Natur den Menschen; hier müssen die Menschen der Natur gehorchen. Die Frist, die uns vergönnt bleibt, ist kurz. Die Erforschung unseres ökologischen Systems ist im Rückstand. Wir können den Wettlauf mit der Zeit nur gewinnen, wenn die Gesellschaft sich von den Illusionen befreit, die heute ihre Mentalität noch bestimmen. Es gibt einen unbestreitbaren Maßstab für den Stand der öffentlichen Moral: die Kraft, der Wirklichkeit so zu begegnen, wie sie ist.