Merkur, Nr. 101, Juli 1956

Der goldene Mittelweg
Notizen zu Problemen der Geschichtsschreibung

Von Golo Mann

 

Die folgenden Denkfragen sind mir beim Geschichtsunterricht oder dem Schreiben über geschichtliche Gegenstände untergekommen. Sie sind alt und oft behandelt. Aber ein jeder erfährt sie ein wenig anders.

Wir wollen die historische Wirklichkeit begreifen, ordnen, schön gestalten. Zu zeigen, daß sie nicht sinnvoll geordnet werden kann, ist leicht, der Sophist, der Nihilist tut es. Aber er leistet nichts damit, außer daß er seine eigene Überlegenheit exhibiert. Gestehen wir dies dem Pragmatismus zu: Denken soll helfen. Es soll nicht lähmen und zerstören.

Nun ist es so, daß ein jeder die historische Wirklichkeit ordnende Gedanke ad absurdum geführt werden kann. Der Mensch — das ist seine Situation — kann es sich nicht erlauben, einen Gedanken zu Ende zu denken, allein ihm sich anzuvertrauen. Tut er es, so zerstört er die Wirklichkeit, in der er ordnend sich zurechtfinden wollte. Das Gedachte muß er korrigieren durch Gedanken der entgegengesetzten Art.

Man hat dies balancierende, stets sich korrigierende Denken dem Liberalismus zum Vorwurf gemacht. Der Liberale sage „distinguo„, der Konservative „affirmo“ und „nego„: die Leute würden das unentschiedene, schwächliche Unterscheiden bald satt bekommen (Donoso Cortes). Die Aufgabe des Denkens ist aber gerade die: unterscheidend, sich selber widersprechend, dennoch zum Positiven zu kommen. Mit dem bloßen „affirmo“ ist es nicht getan. Es geht früher oder später auf Kosten der Wahrheit. Unwahrheit hilft nicht.

Beginnen wir unsere Beispiele mit dem, was man die Logik der Geschichtsschreibung nennen mag.

 

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Hier begegnen wir jederzeit den uralten, hoch lebendigen Problemen des Universalienstreites.

Sollen wir die Realität der großen begrifflichen Einheiten voraussetzen — erstens der zusammenziehenden: „Französische Revolution“, „Deutsches Volk“, „Zeitgeist“, „Antike Zivilisation“; zweitens der abgezogenen: „Demokratie“, „Revolution“, „Klasse“, „Totaler Staat“? Sollen wir, umgekehrt, uns von dem kritischen Gedanken leiten lassen, wonach es etwas wie „die Französische Revolution“ eigentlich gar nicht gegeben hat, die Ereignisse jener zehn oder fünfundzwanzig oder hundert Jahre in dem unerschöpflichen Reichtum der Individuen und Tendenzen sich dem einen Begriff und Schlagwort nimmermehr fügen? Die Antwort ist, daß wir beides tun. Konsequenter „Realismus“ verwischt das Individuelle und seinen Unterschied, die Freiheit des Wirklichen.

Eine Revolution wird wie die andere, weil es eben „Revolution“ war, ein „totaler Staat“ wie der andere, eine Kultur wiederholt die Geschichte der anderen. Konsequenter  „Nominalismus“ zerstört alle Sinnzusammenhänge, verwehrt jeden gedanklichen Zugang zur Wirklichkeit; man könnte, in seinem Zeichen, die Dinge nicht einmal mehr in ihrer Individualität beschreiben, nur schweigend auf sie deuten, man verstünde nichts mehr. Das heißt nicht, daß der Gegensatz Nominalismus — Realismus sinnlos ist. Man begegnet ihm allenthalben, er nötigt zur Entscheidung. Aber nachdem man sich für den einen Pol entschieden hat, wird man demnächst sich für den anderen entscheiden müssen.

Dasselbe gilt für einen verwandten Gegensatz (verwandt ist in diesem Problemkreis alles): das sich Fortsetzende und im Wechsel Dauernde und das Neue. Geschichtsschreibung kann nicht sein ohne Kontinuität. Das, was ist, kommt her von Früherem. Es war aber nicht ganz im Früheren vorgebildet, es ist auch neu. Übertreibt man die Dauer im Wechsel, so kommt man zu den falschen Kontinuitäten, den albernen Identifizierungen, Vorwegnahmen, Determinismen („Von Luther zu Hitler“, Deutschlands tausendjähriger „Drang nach Osten“). Setzt man das Neue als völlig neu, so zerfällt die Wirklichkeit in disparate Situationen, die man nicht verstehen kann.

Am schwierigsten ist die Verbindung von Altem und Neuem, von Identität und Nicht-Identität im Bereich der Ideengeschichte zu vollziehen. Sollen wir sagen, der Denkende sei nur mit sich selber identisch und die Idee nichts ohne ihn; er sei nur für das verantwortlich, was er selber gemacht hat, und keineswegs für das, was andere später abwandelnd daraus machten? Oder eine Bewegungskraft der Ideen annehmen, die, einmal geboren, ihrem eigenen Gesetz gemäß sich entwickeln? Wir orientieren uns an beiden Gesichtspunkten, manchmal mehr an dem einen, manchmal mehr an dem anderen, je nach dem Fall. Die Gründer des Christentums haben sehr wenig mit der Inquisition zu tun, Rousseau um ein Beträchtliches mehr mit Robespierre, noch mehr Marx mit Stalin. „Das habe ich nicht gewollt“, könnte aber selbst der Geist Marxens mit einem gewissen Recht sagen.

In einer merkwürdigen Abhandlung hat der englische Historiker Herbert Butterfield1 sich gegen das gewandt, was er die „Geschichtsauffassung der Whigs“ nennt: die vorwiegend protestantische, vorwiegend liberale Schule, die von der Reformation bis zur Demokratie des 20. Jahrhunderts einen einzigen zielsicheren Weg sieht, auf dessen Stationen sich jeweils eine Partei der Guten, Fortschrittlichen mit einer Partei der Widerspenstigen siegreich schlug. Wogegen Butterfield an die abgrundtiefen Unterschiede zwischen den Zeiten erinnert: die im 16. Jahrhundert meinten nicht, was die im 20. meinen, und was aus dem myriadenfach geknüpften Netz von Ursache und Wirkung schließlich hervorging, ist von niemandem gewollt, von niemandem beherrscht, ist niemandes Schuld, niemandes Verdienst. . . Butterfields Untersuchung gehört zum Anregendsten, was für die Theorie der Geschichte in unseren Tagen geleistet wurde. Nähme man aber seine kritische Ansicht ganz an, so geriete man wieder in den Geschichtsnihilismus; das Vergangene würde wildfremd und gleichgültig, Tradition zum Schwindel, das Gegenwärtige käme, praktisch, von nirgendwo her.

Was dann die Funktion des Vergleichs betrifft, so werden wir sagen müssen, daß die geschichtlichen Dinge unvergleichlich und auch vergleichlich sind. Sie sind unvergleichlich, keine Situation ist wie die andere, Geschichte wiederholt sich nicht. Sie sind aber auch vergleichlich: da, wo wir verstehen, vergleichen wir — sei es direkt, das eine mit dem anderen, sei es indirekt, durch das Operieren mit Allgemeinbegriffen, die ihrerseits von einer Summe von Vergleichen herstammen. Je unvergleichlicher ein historischer Vorgang ist, desto weniger ist er uns verständlich; weshalb wir angesichts einer so noch nie dagewesenen Verbindung befreiender und erstickender Kräfte, wie sie heutzutage in China am Werk zu sein scheinen, uns so ungeschickt aufführen.

Eine wie gefährliche Mischung das Vergleichliche mit dem Unvergleichlichen eingehen kann, zeigt das Beispiel der russischen Revolution, die von ihren eigenen Führern so gern mit der französischen verglichen wurde: die Revolte des Adels am Anfang, die „Große Furcht“ auf dem Lande, die Tagebücher Nikolaus‘ II. und Ludwigs XVII. und so fort. Trotzki lebte so ganz in diesem Vergleich, daß er sich für einen anderen Robespierre, Stalin für einen anderen Barras oder Bonaparte hielt und so sein eigenes Schicksal mißverstand bis zum bitteren Ende — kalter Alleswisser, der er sein wollte, Romantiker, der er war. Ebenso gründlich fiel Marx herein, als er 1848 ein anderes 1792 zu erleben glaubte. — Im Lichte dessen, was in den letzten 35 Jahren geschah, ist es heute leicht, in der russischen Revolution einen (trotz gewisser technischer Parallelen des Anfangs) von der französischen grundverschiedenen Vorgang zu erkennen. Die Reise begann unter vergleichbarem Getöne, ging aber bald in anderer Richtung, durch fremde Landschaft; unbekannt selbst denen, die auf der Lokomotive standen.

Die großen Systeme, welche die Geschichte vollkommen verstehen und Gegenwart und Zukunft ihres fremdartigen, abenteuerlichen Charakters entkleiden wollen, sind ganz „realistisch“; sie vergessen den anderen, nominalistischen Pol der Wahrheit. Daher mißbrauchen sie das Instrument des Vergleichs. Spengler hat sich zwar gegen seiner Meinung nach oberflächliche, falsche Vergleiche wie die zwischen Karl dem Großen und Napoleon gewandt und sie durch seine wahren, auf die Parallelität in den Lebensläufen seiner Kulturseelen gegründeten ersetzen wollen. Die Vergleiche, die er sieht („Chaeronea und Leipzig“) sind jedoch oft von knabenhafter Willkür und so wenig überzeugend, daß sie praktisch nicht einmal Schaden tun konnten.

Gleichfalls aus seinem Begriffsrealismus gewinnt Spengler den Glauben an die Notwendigkeit des uns geschichtlich Bevorstehenden, der sich durch sein Hauptwerk zieht und ihm den Ton gibt. Sein Ästhetizismus, der nur anschauen will, ohne helfend einzugreifen, der das Zukünftige mit der gleichen wissenden Kühle beschaut wie das schon Vergangene und Entschiedene; sein Amoralismus, dem es weder ums Loben noch ums Tadeln, sondern nur ums Sehen zu tun ist, und allenfalls ums Verachten (derer nämlich, die nicht so scharf sehen können wie er und zur Vermeidung des Unvermeidlichen ihre törichten Sprünge machen) — es kommt alles aus derselben Quelle: einem Gedanken-Erlebnis, das hilfreich und erleuchtend hätte sein können, wenn der Erlebende es kritisch kontrolliert hätte. Oswald Spengler und Zweifel — das ist freilich ein ungleiches Paar. Man prüfe den Stil des Mannes: dies Auftrumpfen von der ersten bis zur letzten Seite, dies kalte Dekretieren, dies Überwältigen des Lesers mit Namen und Sachen und Urteilen, die, kommt er zu Schriftstellern der eigenen Zeit oder des eigenen Fachgebietes, fast immer Verurteilungen sind. Wer nicht begriff, was Spengler begriff — und schließlich begriff nur er es —, der war ihm im besten Fall ein nützlicher Materialsammler, nicht mehr.

Spenglers kühnes „affirmo“ hat ihm den Erfolg gebracht und tut es heute noch; es sind mir noch unlängst amerikanische Studenten vorgekommen, denen der „Untergang“ als endgültige Lösung des Menschen-Rätsels erschien.

Die Systeme Spenglers und Arnold Toynbees sind oft verglichen worden. Jedoch geht der Unterschied zwischen ihnen tief, in der Begriffsbildung wie in den geistigen Charakteren, die dahinter stehen. Toynbees Denken bleibt polarisiert und der eigenen Kritik unterworfen. Realität und Nicht-Realität der Begriffe, welche das Indivuelle transzendieren; Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit; Notwendigkeit und Freiheit — es kommt immer beides bei ihm vor. Sein Werk ist darum komplizierter, widerspruchsvoller, künstlerisch weniger befriedigend; nicht, wie das Spenglersche, aus einem Guß. Aber es ist wahrhaftiger. Auch Toynbee erlaubt sich allerlei Spielereien, schiefe Einordnungen und Benennungen, das Sehen wiederkehrender Rhythmen, etwa zwischen Kriegs- und Friedensperioden, wo man mit bloßem Auge keine finden kann. Freiheit und Notwendigkeit integriert er nicht, sondern läßt sie in der Zeit nacheinander auftreten: wir sind frei in der Gestaltung unseres Schicksals bis zu einem bestimmten, dem historischen Arzte erkennbaren Punkt des Kulturverfalls; ist dieser einmal erreicht, dann sind wir nicht mehr frei, von da ab ist keine Rettung und geht es mit eintöniger Gesetzmäßigkeit dem Ende zu. Dergleichen führt Toynbee emsig aus mit Beispielen, die man ihm glauben mag oder auch nicht. Sein konstruktiver Wille ist stärker als sein kritischer, sonst hätte er wohl seine zehn Bände nicht hinstellen können. Daß es aber zehn Bände wurden anstatt eines oder zweier, hat auch zu tun mit seiner Selbstkritik; er brauchte mehr Platz als Spengler, weil er so vorsichtig definiert und nuanciert, so oft sich zurücknimmt. Vor allem: er ist wahrhaftig genug, sein Gedankensystem in die Gegenwart zu halten und an ihr scheitern zu lassen. Spät tut er es, im neunten Bande. Da gesteht er ein, daß einige Erfahrungen der westlichen Zivilisation einzigartig sind, mit nichts, was wir von der Geschichte früherer Zivilisationen wissen, verglichen werden können. Nicht alle, aber einige, und wohl sehr wichtige: Bevölkerungszahlen, Kriegstechnik, Technik überhaupt und technische Vereinheitlichung der Erde; woraus einzigartige Gefahren, einzigartige Aufgaben entstehen.

Ich will nicht sagen, daß Toynbee zu ihrer Diskussion Ungewöhnliches zu bieten hat. Seine Sorgen und Hoffnungen sind so trivial wie wohlmeinend: Aufteilung der Erde in eine amerikanische und eine russische Einflußsphäre, die, in historisch erstmaliger Weisheit, einander zu tolerieren hätten, später vielleicht eine „Weltregierung“, und so fort. Jedenfalls, er zog aus, um das Gleiche oder Ähnliche, das sich Wiederholende in der Geschichte der Zivilisationen zu finden und mit ihm sich zu trösten; er endete damit, das Einzigartige unseres geschichtlichen Augenblicks zu entdecken. Die Wirklichkeit war stärker als sein Schema. Das macht es nicht unnütz. Indem es an der heutigen Wirklichkeit scheitert, zeigt es, was diese ist und nicht ist, nicht mehr ist.

Spengler ist Ästhetizist, Toynbee Moralist. Dem einen kommt es nur darauf an, daß unser Untergang auf „prachtvolle“ Weise geschehe; der andere möchte etwas Bescheidenes beitragen zu seiner Verhinderung. Der eine hat alles verstanden; der andere weiß viel, aber das Entscheidende nicht. Toynbee glaubt an Gut und Böse, Sünde und Strafe, wo Spengler nichts sieht als das immer Eine, in sich Stimmige, die Naturnotwendigkeit.

Falschen „Realismus“ macht man auch Toynbee zum Vorwurf, Collingwood tut es in seiner „Idee der Geschichte“ (1946). Toynbee sehe die Dinge von außen, sehe Einheiten, „Zivilisationen“, die eines bestimmten Tages entstehen und eines bestimmten Tages aufhören zu sein; da doch in Wahrheit alles im Fluß sei und zwischen der „klassischen“ und der „westlichen“ Zivilisation niemand eine klare Linie ziehen könne. Ich zweifle nicht, daß dieser Vorwurf zutrifft; wie umgekehrt Toynbee die Unterschiede innerhalb einer „Zivilisation“ verkennt, etwa zwischen dem römischen und griechischen Charakter, dem amerikanischen und dem westeuropäischen. Mehr oder weniger trifft er aber für jeden zu, der in der Masse historischer Wirklichkeit Gestalten erkennen will. „Völker“ sind so wenig in Zeit, Raum und Wesen eindeutig bestimmbare Identitäten, wie Zivilisationen es sind, und doch haben Historiker hundert Jahre lang hauptsächlich von „Völkern“gesprochen. Toynbees System war ursprünglich polemisch: nur-nationale Geschichtsschreibung sei ein Unding, Nationen seien die Einheiten der Geschichte, die man aus sich selbst heraus verstehen könnte, nicht. So kam er auf seinen Begriff der Zivilisation als der kleinsten aus sich selbst heraus verständlichen Einheit historischer Forschung. Ein solcher polemischer Begriff wird seinerseits Zweifel hervorrufen. Jede gedankliche Position ist einseitig; woran zu erinnern die Funktion der Kritik sein muß (insofern ihr Schöpfer es nicht selber tut).

 

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Gehen wir von der Logik über zu Fragen der Wertung, so begegnet uns dasselbe Sic et Non; es läßt kein Argument sich bis zu Ende durchführen.

Unter den modernen Historikern ist Lord Acton der konsequenteste Moralist. Er verlangt, man müsse den König mit gleich strengem moralischen Maßstab messen wie den gemeinen Mann und sogar mit noch strengerem, eben weil er der König, die verantwortlichere, wirksamere Figur sei. Bei ihm findet sich das Wort von den großen Männern, die immer böse Männer seien; bei ihm das immer wiederholte Klagen über die Schlechtigkeit aller Parteien, der Protestanten wie der Katholiken, der Katholiken wie der Protestanten. Die Geschichte macht Lord Acton traurig, weil er reine, hohe Ansprüche an den Menschen stellt.

Auf der anderen Seite haben wir die Machiavellisten, die Hegelianer, die Verherrlicher der „Wahrheit der Macht“. Es sind jene, welche die Geschichte froh macht, weil die Dinge allemal so ausgehen, wie sie ausgehen müssen, und das Große, Wirkliche sich ohnehin der Beurteilung moralisierender Stubenhocker entzieht.

Der Gegensatz ist einer zwischen echten Polen des Denkens, nicht zwischen müßigen Abstraktionen. Aber niemand wird sich ungestraft einem von ihnen, unter Verachtung des anderen, anvertrauen.

Acton tat das keineswegs; sonst hätte er Geschichte gar nicht schreiben können, am wenigsten in der Weise, die ihm, dem britischen Liberalen, gemäß war. Wir ertappen ihn denn auch gelegentlich bei der Anwendung völlig anders gearteter Kriterien. Karl I. und seine Leute, meint er einmal, seien wohl nicht schlechter gewesen als die Führer der Parlamentspartei, unter denen sich recht zweifelhafte Gestalten befanden, und doch müsse ihm historisch unrecht gegeben werden gegenüber jenen und sei ihm recht geschehen; Stuart stand dem großen Zweck der modernen Geschichte, der geregelten Freiheit, im Wege; die Parlamentspartei förderte ihn, gleichgültig, mit welchen Mitteln . . . Das ist inkonsequent, wird man sagen, Acton widerspricht sich hier selber, der Historiker dem Moralisten. Wer kann es sich erlauben, hier konsequent zu sein? Octavian hat große Verbrechen geschehen lassen, aber deswegen den „Augusteischen Kompromiß“ zu verdammen, wäre unwahrhafter Eigensinn. — In Acton ist es eben die Spannung zwischen dem frommen Moralisten und dem echten, passionierten Geschichtsforscher, was sein Werk so lebendig macht.

Das andere Extrem, der historisierende Amoralismus, müßte, dächte man es zu Ende, den Geist der Forschung töten; so wie der Politiker, der praktisch und konsequent in seinem Sinn handelt, die Wirklichkeit und am Ende sich selbst zerstört.

Gegen den Historiker als Richter hat Benedetto Croce sich gewandt; gerichtet werde man zu Lebzeiten, die im Frieden der Vergangenheit Aufgehobenen noch einmal zu verurteilen, sei kläglich, feige, sinnlos. „Diese Nachahmer des Tacitus, diese Augustinianer, denen nichts fehlt als die Seele des Augustini“ . . . Nun hat Lord Acton das Richten auch wirklich ein wenig pompös betrieben, so daß man sich eines Gefühles: „Du hast leicht reden“ beim Lesen seiner Predigten nicht erwehren kann. Ganz ohne Billigung und Mißbilligung ist aber noch kein Historiker ausgekommen.

Was er dem geschichtlich Handelnden zum Vorwurf macht, ist ein Zuviel oder Zuwenig; Sache des Grades, nicht der absoluten Qualität. Etwa sagt er: Der Politiker Bismarck hat nicht genug vom Reich der Ideen gewußt; er hat nur mit andrängenden Realitäten hantiert, aber den ideellen Lichthof um sie herum nicht sehen wollen, viel weniger ihnen einen solchen zu geben verstanden. Und lobt, ihm gegenüber, den Staatsmann, der, indem er die Tatsachen meisterte, auch träumen konnte und das Wirkliche am Idealen maß, zum Beispiel Lincoln. Kommt er dann auf einen ungeschickten, von den Tatsachen überwältigten Theoretiker zu sprechen wie Woodrow Wilson, einen mörderischen Fanatiker der Idee wie Lenin, so wird er ihnen gegenüber den erfahrenen, erfolgreichen, pessimistischen Staatsvirtuosen loben — zum Beispiel Bismarck. Das heißt, er hat es nicht mit absoluten Dingen zu tun, sondern mit Aspekten, die ihm zu Kontrastwirkungen dienen. Wenn die Charakterbilder in der Geschichte schwanken, so ist das nicht so sehr der Parteien Haß und Gunst zuzuschreiben wie eben dieser Bezogenheit der Wertungen. Der Friede von 1814 taugt uns gegen den Frieden von 1919; er taugt uns nicht völlig, an sich. Kants idealistische Politik ist groß und wahr gegenüber der Politik Clemenceaus, aber sie ist nicht an sich selbst vollkommen groß und wahr. Sie bedarf der Korrigierung ebensosehr wie der bloße Empirismus — die „pöbelhafte Berufung auf die Erfahrung“ —, gegen den sie sich richtete.

Die hilfreichsten Werke im Gebiete der politischen Philosophie haben, obgleich auch sie polemischen Ursprungs waren, doch ihre eigene Kritik in sich hineingenommen. Darin beruht die Überlegenheit Burkes gegenüber de Maistre und anderen donquichotesken Konservativen, das schärft seinen Ausdruck, das gibt seinem Stil die Spannung und Nervosität. Dagegen begreift man bei gewissen Theoretikern unserer Tage, zum Beispiel den „Neoliberalen“ kaum, wie sie die Einwände übersehen mochten, die gegen ihre Halbwahrheiten gemacht werden können.

Auch die großen, einfachen Sachfragen, die man dem Historiker so gerne stellt, zwingen gewöhnlich zu einem Ja und Nein: ob die Habsburger Monarchie von innen (und nicht von außen) zerstört worden sei, ob der Nationalsozialismus ein wesentlich deutsches (und nicht ein wesentlich dem 20. Jahrhundert angehörendes, auch anderwärts denkbares) Phänomen gewesen sei, und so fort. Es wird über dergleichen Fragen hitzig diskutiert, und gegen die eine These mag man die andere vertreten; aber die ganze Wahrheit liegt in keiner von ihnen.

Der Schriftsteller oder Lehrer, der es in diesem Sinn genau nimmt, wird sich leicht dem Vorwurf verwirrender Unentschiedenheit aussetzen. Eben hat er das und das gesagt, nun sagt er etwas ganz anderes; der Schüler will eindeutige, handfeste Antworten haben. Man darf ihm nicht zu Willen sein. Die historische Welt ist die menschliche, die Welt des Relativen, nicht des Absoluten; des Scheines, der vielen Ansichten, die kein Ganzes ergeben. Das Vieldeutige zu überwinden, ein Ganzes dennoch erscheinen zu lassen, ist Aufgabe des Kunstwillens, der dem Wahrheitswillen die Waage hält, ohne ihn aufzuopfern.

 

 

FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. The Whig Interpretation of History, New York 1951.

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