Merkur, Nr. 115, September 1957

Brecht-Portrait
Tagebuch-Aufzeichnungen Santa Monica 1942/43

von Günter Anders

 

I

Als ich heute zu Br.s kam — es war sehr heiß, man saß im Garten, H. spritzte, schwimmen gehen sie (damit das im normalen Arbeitsleben erst gar nicht einreiße) ziemlich selten —, da saß in Badehose, braun, zottig und O-beinig Gr., der Schauspieler; der bereits fünf leergetrunkene cans Bier vor sich aufgebaut hatte, bei Br.; und wirkte neben ihm (nicht zuletzt, weil dieser angezogen und wie stets nüchtern war) wie ein Gorilla. Gr., der Br. aufs tiefste bewundert, aber auf viel zu kindlich-impulsive und gierige Art eitel ist, als daß er sich auf den asketischen Gestus der Verfremdung einlassen, also darauf verzichten könnte, sich in seine Rollen hineinzuknieen — also Gr. ging hemmungsloser aus sich heraus, als er es sonst Br. gegenüber wagt. Die Tatsache, daß er dabei, im Unterschiede zu Br., nackt war, wirkte wie ein Regie-Einfall, der das Gespräch auf anderer Ebene wiederholte — was dem Dickhäuter unspürbar blieb, Br. dagegen offensichtlich Vergnügen bereitete. Das Gespräch handelte vom epischen Theater.

„Natürlich ist das alles großartig!“ schrie Gr., und er schien dafür den ganzen Stillen Ozean zum Zeugen aufzurufen. „Das soll’s gar nicht sein“, meinte Br. in ominös bescheidenem Tone, und vermutlich prägte er sich dabei Gr.s Pathos, das zu der absoluten Leere seines Ausrufes aufs herrlichste paßte, sehr genau ein. „Aber daß das“, fuhr Gr. fort, und zwar mit einer Geste, die als Frage anhob, um dann in grenzenloses Bühnenleid überzugehen, „daß das dem Publikum Spaß machen soll… daß es ihm Spaß machen soll, sich nicht zu amüsieren…“ — „Das wär allerdings bedauerlich“, meinte Br., und zwar mit einer Nüchternheit, die er in einem direkten Verhältnis zu Gr.s Pathos zu dosieren schien. Gr. Nahm erst einen langen Schluck. „Was?“ rief er dann, so als hätte er nun erst gehört, „was wäre bedauerlich? Wenn das Publikum sich amüsieren würde?“ — „Umgekehrt.“ — „Also wenn es sich nicht amüsieren würde?“ — „Richtig.“ — Woraufhin Gr. beschloß, in tiefstes Nachdenken zu versinken — was, siehe Rodins „Penseur“, schon bei Nackten fragwürdig, bei Ausgezogenen aber unwiderstehlich komisch wirkt. Br. machte dieser Anblick jedenfalls so große Freude, daß Gr. sein noch soeben von Tiefsinn zerfurchtes Gesicht überrascht hob. „Sie wünschen also doch“, fragte er langsam, „daß die Zuschauer ihren Spaß haben?“ — „Was denn sonst“, antwortete Br. (ohne alle Frage-Flexion — seine Extrem-Methode, um sein ,dixie‘ auszudrücken). Gr., dem das rätselhaft blieb, spielte seine Verblüfftheit aus: ratlos blickte er von rechts nach links, gewissermaßen in die Kulissen, um einen weiteren Partner zu finden; wobei sein Auge auf mich fiel. Jeder andere Gegenspieler wäre ihm ebenso recht gewesen.

„Verstehen Sie das?“ fragte er mich also, „doesn’t he want to have the cake and eat it too ?“ — „Glaub ich nicht“, antwortete ich. Und dann, improvisierend: „Was Sie sagen wollen, ist vielleicht eher: He wants to give them bread, but have them enjoy it as if it were a cake.“ — „You said it, buddy“, rief Gr. enthusiastisch; hatte aber im nächsten Moment diese Begeisterung bereits vergessen: denn schon machte er, mit dem Daumen auf mich weisend, Br. ein Zeichen, das etwa bedeuten mochte: Der da ist eben dafür angestellt, unsere Worte auf Hochglanz zu wichsen. — Was Br. durchaus nicht fand. „Nein“, korrigierte er. „Ich liefere Kuchen und hoffe, daß der sie ernähren wird wie Brot.“ — „Also doch Kuchen!“ schrie da Gr. triumphierend, so als wäre ihm durch die Tatsache, daß das Wort ,Kuchen‘ nun auch aus Br.s Mund kam, sein Sieg bestätigt worden. Den Unterschied zwischen Br.’s und meiner Formel aufzufassen, hatte er sich gar keine Zeit genommen. „Also trotz allem epischen Theater doch Kuchen! Doch Freude am schönen Schein! Doch! — „Warum ,trotz'“, meinte Br. „Und warum ,doch‘. Und warum Freude am ,Schein‘.“ (Daß er das gefragt hätte, konnte man wieder nicht behaupten.) — „Sondern?“ — „Ich würde sagen: Freude an der vorgemachten Veränderbarkeit der Welt… Die Einsicht in der Veränderbarkeit, die ermutigt… Und dadurch belustigt sie auch… Die Freude am Vorgemachten ist eben Vorfreude… Auf Wirkliches… Mindestens auf mögliche Verwirklichung… Denn die Veränderbarkeit der Welt, die ist ja kein Schein.“ — Diese Erklärung schien Gr. ungeheuer zu verblüffen. „Vorfreude?“ wiederholte er, das Wort endlos zerdehnend, „Ermutigung? Ermutigung wollen Sie im Zuschauer erregen?“ — „Warum denn nicht.“ ( Wieder ohne Frage-Flexion.) — „Aber dann sind ja Ihre Stücke…“ — „Was?“ — „Na gewissermaßen erbaulich!“ — „Warum gewissermaßen.“ (Diesen Ausdruck kann Br. nicht ausstehen.) — „Ist das Ihr Ernst?“ — „Ich probiere“, antwortete er, und begann seine Brasil zu inspizieren. „Natürlich sprech ich in die Kladde. Wenn sich der Zuschauer durch das, was er auf der Bühne sieht, darauf freut, mit dem Bauen oder Umbauen der veränderbaren Welt anzufangen, dann könnte man seine Freude ja unter Umständen ,erbaulich‘ nennen.“ — Aber dann, nach einer letzten Begutachtung des intakten Aschenturms seiner Zigarre: „Verwenden werde ich den Witz allerdings kaum.“ Und schließlich die Asche abschlagend: „Nein. Unter keinen Umständen.“

 

II

Schlug Br. heute folgende Deutung seines Theaterstils vor: „Modell der Situation, die Sie vor sich sehen, ist das physikalische Praktikum. An die Stelle der Studenten treten die Zuschauer; an die der Professoren die Kommentatoren. Im naturwissenschaftlichen Experiment setzen wir Stücke der Welt auf eine Weise ein, in der diese sich ,von sich aus‘ nicht kombinieren; was im Experiment vor sich geht, ist stets ein Eingriff, ein von uns gemachtes Arrangement, eine von uns kontrollierte physische Veränderung. Diesen Begriff der arrangierten und kontrollierten Veränderung, den haben Sie nun mit jenem Begriff von ,Veränderung‘, den Marx in seiner Konfrontierung mit ,Interpretation‘ gemeint hatte, verschmolzen: Was Sie in Ihrem Theater durchführen, sind gleichfalls Experimente; aber solche, in denen Veränderungen der gesellschaftlichen Welt vorgemacht, mindestens die Voraussetzungen möglicher Veränderungen dargelegt werden. Experimentaldramatik. In diesem Sinne habe ich, als Sie sich vor mehr als zehn Jahren entschlossen, Ihre Veröffentlichungen ,Versuche‘ zu nennen, Ihren Titel verstanden.“ — „Das heißt?“ — „Daß Ihr Titel nicht die Verdeutschung des Wortes ,Essay‘ oder ,Approximations‘ darstellte, sondern des Wortes ,Experiment‘, und nicht aussagen wollte, daß Sie Ihrer Sache stilistisch oder sonstwie unsicher gewesen wären und darum Ihre Arbeiten nur als zugestandenermaßen mehr oder minder geglückte ,Versuche‘ vorlegten…“ — „Sondern?“ — „Daß Sie das Experiment zu Ihrem Ziel machten; daß heißt: daß es Ihre Absicht war, gelungene, das heißt brauchbare Experimente vorzulegen; und ,Experimente‘ als positive literarische Gattung zu etablieren. In anderen Worten: In der Literatur haben Sie nur deshalb experimentiert, weil Sie darauf aus waren, mit Hilfe literarischer Werke nützliche Experimente aufbauen zu können.“ — „Stimmt. Kürzer: Der Unterschied zwischen dem üblichen und meinem Theater ist derselbe wie der zwischen beschreibender und experimenteller Physik. Episches Theater ist zugleich experimentelles Theater.“ — „Eben. Und aus dieser Identität scheinen sich mir alle Charakteristika Ihres Theaters zu ergeben.“ — „Zum Beispiel?“ — „Ihre Theorie des Zeigens. Denn auch die stammt aus der Praktikum-Situation.“ — „Inwiefern?“ — „Weil das im Praktikum durchgeführte Experiment nicht nur dasjenige zeigt, was sich nun physikalisch oder chemisch abspielt, sondern immer zugleich, was man, soll das Experiment gelingen, zu tun oder zu lassen hat.  Die Rolle des in das gezeigte Experiment hineingehörenden Professors macht dieses doppelte Zeigen ja völlig klar: der tut nicht nur, sondern zeigt auf das, was er tut; und zeigt auch nicht nur auf das, was er tut, sondern auch zugleich auf sich, den Tuenden: ist also Zeiger und Gezeigtes zugleich. Oder: er macht nicht nur seine Manipulationen, sondern macht sie vor; und macht sie ausschließlich, um sie vorzumachen.“

— Br. streckte seine Beine bequem von sich, was mir bewies, daß er einverstanden war und keinen Einwand vorhatte. „Genau das aber“, fuhr ich fort, „ist die Doppelaufgabe des Zeigens, die Sie auf der Bühne verfolgen. Die Figur des, sein Tun vormachenden und durch sein Vormachen kommentierenden, Schauspielers ist keine andere als die auf die Bretter verpflanzte Figur des Professors. Wenn Ihr Dichten auf viele akademische Poeten so provokant wirkt, so deshalb, weil Sie der einzige wirklich akademische Dichter sind.“ Diese Klassifikation schien Br. Spaß zu machen. „Die anderen können sich das auch nicht leisten“, meinte er. „Die sind nämlich zumeist nicht nur nicht akademisch.“ — „Bleibt nur noch der Punkt, daß auch Ihre Verfremdung‘ aus dieser Praktikum-Situation stammt. Wenn auch der Ausdruck nicht von Naturwissenschaftlern, sondern von Hegel geprägt worden ist. Daß der ,vormachende‘ Physiker oder Chemiker die Stücke Welt, die er im Experiment kombiniert, entfamiliarisiert, also verfremdet, allein schon dadurch, daß er sie mit eigenen, im Alltagsleben ungebräuchlichen Namen belegt, das ist ja klar.“

Br. hatte mir, an seiner Zigarre ziehend und sich immer bequemer zurücklehnend, zugehört. Nun bot er mir, obwohl er weiß, daß ich kein Zigarrenraucher bin — aber eine Zigarette schien ihm wohl zu gering —, eine Brasil an, vor der er mich freilich verschmitzt warnte; und brach dann, als ich die Zigarre anrauchte, in ein schallendes Lachen aus. Zuerst glaubte ich, ihm, dem Gestenjäger und -liebhaber, mache es eben Spaß, einen raschen Zigarettenraucher im Kampf mit der, Haltung und Gemächlichkeit erfordernden, Zigarre zu beobachten; und er lache allein deshalb. Aber er lachte weder über etwas noch über mich, überhaupt nicht ,über‘; sondern einfach aus Vergnügen. „Die Sache ist also in Ordnung“, erklärte er nämlich. — „Welche?“ — „Die meiner Dramatik. Ihre ,Erklärung‘ beweist mir, daß ich nichts undeutlich gelassen habe.“ — „Undeutlich nichts.“ — „Aber?“ — „Die Frage ist nur“, meinte ich zögernd, „wie weit das alles durchführbar ist.“ — „Warum nicht?“ — „Weil Sie die Rolle des Professors, des »Vormachenden‘, dessen, der sich zeigend, zugleich auf sich zeigt, und damit etwas zeigt, Leuten zuzuweisen haben, die sehr wenig professoral sind: Leuten nämlich, die nichts zu zeigen haben; die niemals meinen, was sie sagen; und die nicht gewöhnt sind, zu sagen, was sie meinen, weil sie ja gewöhnlich von sich aus gar keine Meinung haben.“ — „Sagen Sie schon: Schauspielern“, ergänzte Br., und zwar plötzlich unwirsch: denn daß man über Schauspieler pauschal aburteilt, das liebt er durchaus nicht. „Eben. Eine schöne Aufgabe haben Sie sich da eingebrockt“, fuhr ich fort, „Lehrerbildung zum Zwecke des erfolgreichen Unterrichts durch diese Lehrer“ — worauf er nur mit einem verächtlichen „you are telling me“ reagierte. — „Und das Heikle besteht eben darin, daß diejenigen, denen Sie erst einmal beibringen müssen, nicht nur sich selbst zu zeigen, sondern gleichzeitig damit etwas vorzumachen …“ — „… die Schauspieler. Ja? Was haben Sie denen schon wieder vorzuwerfen?“ — „Daß die Schauspieler im Gestus des Zeigens, weil dieser für sie eine neue Aufgabe darstellt, die Hauptsache sehen werden, das eigentlich Wichtige.“ — „Das wichtiger wäre als was?“ — „Als das, was sie zeigen sollen. Der Lehrgestus wichtiger als der Lehrgehalt.“ — „Wobei sie noch immer nützlich wären“, meinte Br. Aber nach einer Pause: „Nein. Das gibt es gar nicht.“ — „Was?“ — „Hohlformen.“ — „Hohlformen?“ — „Epische Gesten für beliebigen Gebrauch; für beliebige Füllung; für auswechselbaren Lehrgehalt. Den richtigen Lehrgestus, den beherrschen die Schauspieler nur dann, und die Lehre übermitteln sie nur dann richtig, wenn sie diese verstehen.“ — „Die Umkehrung wäre nicht auch möglich?“ — „Wie?“ — „Daß Schauspieler, weil sie den Gestus zu beherrschen scheinen, oder weil sie diesen effektiv beherrschen, auch die Lehrmeinung als ihre Meinung betrachten? Daß sie sich diese eben gestisch aneignen? Daß sie dasjenige glauben, was sie können? Daß sie es glauben, weil sie es können? Zuweilen soll ja so was schon vorgekommen sein. Ganz zu schweigen davon, daß es gestische Hohlformen doch gibt.“ — „Wo?“ — „Schließlich vergeht ja kein Tag, an dem Ihr Stil nicht irgendwo imitiert würde. Ich meine: Ihr Gestenstil minus Lehrmeinung.“ — „Geschieht denen recht“, meinte Br. — „Wie meinen Sie das?“ — „Daß die entwendeten und verwendeten Lehrgesten viel zu scharf sind für die angeblichen Lehren, die die Diebe mit Hilfe dieser Gesten an den Mann zu bringen versuchen. Daß Gesten und Gehalt nicht zusammenpassen. Daß der Unterschied in die Augen springt. Und die Falschheit der Verwendung verrät.“ — „Meinen Sie, die Diebe werden sich durch Entwendung der Gestik infizieren?“ — „Ob die, weiß ich nicht; das ist auch egal. Aber vielleicht diejenigen, denen diese oder jene Lehre in der zu scharfen gestischen Verpackung serviert wird, die werden sich vielleicht an dieser Verpackung infizieren. Praktisch wär das jedenfalls.“ Aber sein listiges Schmunzeln war nicht eigentlich schadenfroh: viel eher „nutzenfroh“.

Wie großartig Br. sich von Kafka unterscheidet! Um wieviel sokratischer und wahrhaftiger er ist trotz seiner Listen! Da bei ihm der Bote die Botschaft verstehen muß, um sie übermitteln zu können, sind Vernunft und Menschenwürde gerettet. Während es bei Kafka geheißen hätte: „Was geht schon den Boten die Botschaft an? Sein Amt besteht darin, Botschaften richtig zu überbringen. Selbst nicht mehr gültige Botschaften. Zum Beispiel die des ,toten Königs‘.“ Und diejenigen Boten, die aus der rechten Art, die Botschaft zu übermitteln, deren Sinn erschließen, die hätte Kafka sogar disqualifiziert: als religiös oder metaphysisch indiskret.

Nicht anders als bei Kafka ist die Welt der Brechtschen Kreaturen eine juristische Welt. Jedes der Brechtschen Stücke könnte „Der Prozeß“ heißen. Daß diese Ähnlichkeit von Kafka und Brecht niemals aufgefallen ist, ist erstaunlich. Nur — freilich ein sehr beträchtliches „nur“ —, daß Br. den Zuschauer urteils-reif machen will und fähig, Vorurteile als solche zu durchschauen; daß er im Urteilen unterrichtet; daß er richtiges und falsches Urteilen vormacht. In der Tat gibt es in Br.s Theater keine Situation, die häufiger vorkäme als die des zum Urteil führenden Gerichtsverfahrens. Oft geht das so vor sich, daß Vorurteile „verfremdet“, nämlich in ausdrückliche Gerichtsurteile übersetzt und in dieser schockierenden Version dargeboten werden. Das heißt: Was er in seinen Stücke beabsichtigt, ist, Vorurteile zu zwingen, „Rede zu stehen“; unausgesprochene Urteile (bei ihm = Klassenvorurteile) in ausgesprochene, in gefällte, zu verwandeln. Diese „Ausgesprochenheit“ macht die Prononziertheit seiner Sprache aus. Diese entstammt also nicht der Lust an Sprachfrechheit oder einer Stil-Caprice, sondern dieser Verwandlungs- und Exhibitionsabsicht. Daß der Hörer auf ausgesprochene und ausgestellte Urteile anders, nämlich ausgesprochener, reagiert als auf unausgesprochene, ist plausibel. Und diese ausgesprochene, diese schöffenhafte Reaktion des Zuschauers ist es, auf die Br. aus ist.

 

III

Gestern nachmittag Schachpartie mit Br., die ich nach zwanzig Minuten verlor. Da Br. durch jede technische Inkompetenz verstimmt wird, mir mein laienhaftes Spiel also verübelte, begann die nachfolgende Unterhaltung unter einem Unstern. Thema: die Rechtmäßigkeit der Verwendung von Moralbegriffen. Seine Ungeduld mit dem traditionellen Vokabular (Sollen, Pflicht usw.) wurzelt

  1. in dem Verdacht, daß sich in jedem „Soll“ eine supranaturale Stimme verstecke; Ethik nichts anderes sei als getarnte Religion;
  2. in seinem (aus dem Medizinstudium stammenden) Naturalismus, von dem aus gesehen die Rede von „Seinsollendem“ ontologischer Quatsch ist. „So was gibt’s nicht“;
  3. in der (Marx überspitzenden) Behauptung, moralische Postulate zielten, da sie nur das Benehmen Einzelner regelten, ausschließlich darauf ab, die Menschen dazu zu erziehen, die Welt, also die Gesellschaft, intakt zu lassen. —

Was ihn gegen mich aufbringt (und diese Gereiztheit zieht sich zuweilen durch Wochen), ist, daß ich ihn unbekümmert um seine Allergie weiter als „Moralisten“ respektiere, auch dieses Wort ruhig verwende; ja ihn, wenn er gar positivistisch kommt, einen „schiefgewickelten Theologen“ nenne; und daß ich ihn dann frage, warum er, wenn es nichts „Gesolltes“ gebe, seine politisch-pädagogische Aufgabe so ernst nehme und unter Opfern durchführe; womit er ja bezeuge, daß er sie irgendwie als verbindlich anerkenne.

Dabei betone ich immer wieder (genau wie vor zehn Jahren — diese Gespräche sind nachgeradezu Reproduktionen eines einzigen, sehr wenig musterhaften, Mustergesprächs geworden, das durch die Fluchtländer mitgewandert ist):

  1. Die Sanktionierung des „Gesollten“ (also die Instanz, die anordne und das Gesollte verbindlich mache) ist mir genau so unbekannt wie ihm;
  2. andererseits dürfen wir uns selbst: unsere Leidenschaft (also die Tatsache, daß Niedertracht uns indigniere, daß wir „brennen“, daß wir Aufgaben nachjagen) nicht einfach deshalb, weil sie uns in unseren doktrinären Kram nicht hineinpassen, als Luft behandeln und über sie zur positivistischen Tagesordnung übergehen.

Aber gegen mein Zugeständnis des moralischen Agnostizismus bleibt er taub; und meine Aufforderung, den „Skandal“ unserer unaufgeklärten moralischen Leidenschaft ernst zu nehmen und sie zu befragen, was sie eigentlich sei, scheint er gleichfalls nicht zu hören. Da für ihn (nicht zwar als Dichter, aber doch eben als Theoretiker) die Alternative von Kirche und Labor erschöpfend ist, hört er aus meiner Rede ausschließlich die „Stimme des Pfaffen“. Eine verquertere Diskussions-Situation ist also nicht denkbar; gründlicher könnten meine agnostischen Worte nicht mißverstanden werden. —

Diesmal hatte er nun — eine Goebbelsrede war erwähnt worden — in einem gewissermaßen unkontrollierten Moment von der Lüge gesagt: „Das ist nicht erlaubt, das darf nicht sein!“ — also sie dürfe nicht herrschen — woraufhin ich ihn sofort beim Wort nahm; ihn an seine Thesen über das „Schreiben der Wahrheit“ erinnerte und fragte, was er damit denn meine. Warum die Wahrheit denn sein solle? Und sein solle? Und die Lüge nicht? Nämlich nicht „erlaubt“ sei (sein Wort) und nicht herrschen dürfe (gleichfalls sein Wort)? Was diese Ausdrücke denn in seinem Munde zu suchen hätten? Ob nicht auch er durch sie an jenem „Pfaffengerede“ teilnehme, das er so verachte? Denn als reiner Diktator, der dies oder jenes einfach auf Grund seiner Machtvollkommenheit untersage, könne er das Nicht-dürfen ja nicht meinen. Da er es so aber nicht meinen könne — ob er mir irgendeinen anderen Sinn von Nicht-dürfen außer dem moralischen verraten könne? Woraufhin er nicht etwa dies oder jenes antwortete oder antwortlos blieb; sondern, in der Überlegenheit seiner Position nicht im mindesten erschüttert, in höhnisches Lachen ausbrach. Vermutlich versteht er meine Frage genau so wenig wie ich sein Lachen. Hier ist ein Punkt, an dem zwei völlig verschiedene und endgültig ineinander nicht übertragbare Sprachen aneinandergrenzen.

Sein Zorn gegen Moralausdrücke hat nun aber eine höchst eigentümliche, in gewissem Sinne komische, letztlich aber sehr schöne Folge: Da er diese Vokabeln der „Pfaffenhaftigkeit“ verdächtigt, überspringt er sie; aber um nun bei einem Worte zu landen, das (ich möchte fast sagen: dialektischerweise) der Dimension des Religiösen näher liegt als die Moralwörter: nämlich bei dem Herzworte „Freundlichkeit“, das nun für ihn, den angeblich so Kaltschnäuzigen, eine ganz zentrale Bedeutung angenommen hat. Deren Nachbarschaft mit der Nächstenliebe und mit dem „reinen Herzen“ nicht zu empfinden, ist ja beinahe unmöglich. Und es ist ja kaum denkbar, daß er nicht selbst spüren sollte, wie leicht es wäre, manche seiner Hauptfiguren, namentlich die weiblichen, in Legenden, ja sogar in christliche, zu verpflanzen. Und das ist es, was ich mit der schönen Folge seiner Vermeidung des prononziert Moralischen meine. Denn die Freundlichkeit, die er uns in seinen Stücken vorführt, ist eine Tugend, die lebendiger ist und unlarmoyanter und unpathetischer und liebenswerter als alles, was wir an eigentlich moralischen Tugenden auf der Bühne zu sehen gewohnt sind; sie ist nicht nur Unschuld, sie ist nicht nur „schöne Seele“; sondern, von robusterer Art, Gutsein, das Spaß macht; Gutsein, das Lust am Glück hat; Gutsein, das aus Willen zum Glück Charakter annimmt und Verstand; sogar Gutsein, das, aus Einsicht in die Schlechtigkeit der Welt, um auch nur ein wenig gut sein zu dürfen, sich darauf einläßt, außerdem unfreundlich und schlecht zu werden. Und steht auch diese „Freundlichkeit“ verdammt nahe allem Animalischen und du auf du mit List und Verschmitztheit, so gibt sie doch dem Animalischen die Farbe des Mütterlichen und der List das Leuchten der Humanität.

Wer solche Lebendigkeit zu erfinden weiß, der hat wahrhaftig alles Recht darauf, sich als Diskutant falsch zu rechtfertigen und sich auf die ersten besten und schlechtesten und doktrinärsten Argumente zu berufen. Sogar auf positivistische.

 

IV

Dieses Wort „Freundlichkeit“ im Berliner Jahr 32 je aus seinem Munde gehört zu haben, kann ich mich nicht entsinnen. Nicht als wenn er damals unanfällig gewesen wäre; dem Mitleid weniger ausgesetzt; weniger sensitiv als heute oder gar so genießerisch kalt wie Grosz. Wenn er damals zuweilen kühl bis ans Herz hinan oder gar gefühlsroh wirken mochte, so weil er das schwere Pensum auf sich genommen hatte, Liebenswürdigkeit und Erbarmen (die ja von der Hauspostille an in unbestreitbarer Kraft da sind) aus seinem Herzen zu reißen —„abzumontieren“, wie er es damals in seinem Technikerjargon genannt hatte; und wenn er diese Gefühle „abmontierte“, so im Interesse am Ergehen der Elenden; so allein, weil er sich zur einer Einsicht ins Allgemeine gebracht hatte, eben zu der Überzeugung, daß nur eine prinzipielle und organisierte, also eine politische, Aktion wirklich helfen konnte, und weil er sich entschlossen hatte, dieser seine Kraft zur Verfügung zu stellen. Wie unbrechtig, ja wie widerbrechtig diese Ausdrücke auch klingen mögen: Wärme war es, was ihn drängte, sich kalt zu stellen; Menschenliebe, was ihn dazu veranlaßte, den Lieblosen zu spielen. Daß er sich schizophren gemacht habe (denn so glaubten ihn manche, wohl auch auf Grund seiner ganz äußerlichen Ähnlichkeit mit van Gogh, charakterisieren zu dürfen), davon kann gar keine Rede sein. Im Gegenteil: „Schizophrene“ sah er wohl eher in uns.

Zwar von seinem Seelenleben weiß ich nichts, jedenfalls nichts durch ihn; und daß er sich überhaupt darüber viel ausgelassen habe, halte ich für unwahrscheinlich: das empfand er wohl nicht nur als „unmaterialistisch“, sondern auch als schamlos und unerwachsen; und das Wort „psychologisch“ habe ich ihn, obwohl er weiß Gott Menschenkenner war, noch nie aussprechen hören. Aber unberechtigt ist es wohl nicht, zu vermuten, daß er, ohne sich viel darüber den Kopf zu zerbrechen oder gar eine Theorie darüber zu erfinden, versucht hat, sein Gemüt auf die Höhe seines Geistes, seine Gefühle auf die Höhe seiner Einsicht zu bringen. (Wie unbrechtig das wieder klingt! Aber eben lediglich durch die verwendeten Vokabeln.) In anderen Worten: daß er darauf aus war, gerade nicht zwei Seelen in seiner Brust zu haben; nicht einerseits Grundsätzliches zu wissen; sich aber andererseits durch Mitleiden mit jeder einzelnen Misere entnerven zu lassen.

Ich entsinne mich des folgenden Falles aus dem Jahre 32: An einer bekannten Bettelecke an der Tauentzienstraße — wir waren zu dreien — hatte D., „anfällig“ geworden, einem Bettler etwas gegeben. Obwohl das im Augenblick erledigt war, unterbrach sich Br. mitten im Worte; und sah aus wie ein Mathematiker, der, verständnislos gegenüber der Möglichkeit von Nicht verstehen, zum Zeugen des Denkschrittes eines mathematischen Idioten wird. —

Wie gesagt, in der damaligen Zeit habe ich den Ausdruck „Freundlichkeit“ (obwohl die Sache selbst ihm gewiß nicht fremd war) nie von ihm gehört. Oft dagegen (und zwar in Fällen, in denen er heute von „Freundlichkeit“ spräche) den Ausdruck „Höflichkeit“. Und diesen Ausdruck verwendete er nicht nur aus Reserviertheit, nicht nur aus Hohn gegen Pathos oder um den Gebrauch eines zu expressiven Herzwortes zu vermeiden; sondern auch aus einem positiven Grunde: nämlich deshalb, weil er gewissermaßen konstitutiv Hegelianer war. Damit meine ich, daß es ihm natürlich war, Tugenden und Laster in institutionellen Begriffen, mindestens (was ja bei einem Theatermann, der Benehmen, nicht innere Erlebnisse zu zeigen hat, sehr plausibel ist) als „behavior patterns“ aufzufassen; kurz: daß er Sittlichkeit und Unsittlichkeit, außer in Einrichtungen, nur in der Form „gute“ oder „schlechte Sitte“ als etwas Reelles und Taugliches anerkannte. Was er ja auch persönlich bewies. Denn obwohl er sich zuweilen in ziemlicher Grobheit gefiel, war er ja auch damals, in der Zeit seiner schockierendsten Dichtungen, zumeist musterhaft höflich. Und zuweilen gab es ja Gespräche (z.B. mit Benjamin), sogar inhaltlich explosive Gespräche, von denen uneingeweihte Zufallszeugen den Eindruck davontragen mußten, daß da zwei Herren ein konfuzianisches Zeremonial durchspielten. Und noch heute steht er ja mit Freunden, die seit Jahr und Tag aufs engste mit ihm zusammenarbeiten, auf dem Siezfuß.

Man könnte denken, das beweise, daß er ein gewisses Vergnügen daran hatte, seinen Verfremdungsgestus auch ins Alltagsleben hineinzutragen. Das glaube ich nicht; ich glaube sogar, daß die Sache umgekehrt liegt: daß nämlich auch die Verfremdung auf der Bühne bereits ein Element der Diskretion und Höflichkeit in sich enthielt; und zwar deshalb, weil er durch deren Einführung darauf verzichtete, dem Zuschauer zuzumuten, sich gehen zu lassen.

Da er außerdem seine Höflichkeit nicht für Fremde reservierte (oder etwa nur für Feinde, um diese zu epatieren und in Armeslänge von sich zu halten), sondern auch und gerade Menschen gegenüber bezeugte, die zu ihm gehörten und denen er gut war, stellte sie wohl auch damals schon eine Spielart von Güte, Achtung und Rücksichtnahme dar; und mit dem, was er nun ohne Hemmung „Freundlichkeit“ nennt, stand sie wohl in der direktesten Beziehung.

 

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