Merkur Nr. 588, März 1998

Kann eine Biographie ein Werk zerstören?
Bemerkungen zu de Man, Jauß, Schwerte und Hermlin

von Gustav Seibt

 

Die Stunde Null des Jahres 1945 hat stattgefunden. Als das Morden und der Krieg zu Ende waren, mußten unzählige Menschen neu anfangen, die Vertriebenen und Gefangenen, die aus Lagern und Armeen Entlassenen, die aus dem Exil Heimkehrenden, die überlebenden Opfer und die schuldigen Täter, die mitschuldigen Mitläufer, auch ungezählte sehr junge Menschen, die, oft ohne recht zu wissen, wie ihnen geschehen war, sich am Ende des Krieges nicht nur besiegt, sondern auch stigmatisiert fühlen mußten. Die ersten Schlußstriche wurden schon damals gezogen, verhunzte Biographien abgestreift wie äußeres Gewand, Lebensläufe begradigt und verschönert.

Schon am 2. Mai 1945 meldete sich in Lübeck ein gewisser Hans Schwerte an, der seine Papiere im Osten verloren haben wollte. In Wahrheit handelte es sich um den 1909 geborenen Germanisten und SS-Offizier Dr. Hans Schneider, zuletzt Leiter des »Germanischen Wissenschaftseinsatzes« in Himmlers Stiftung »Ahnenerbe«, unter deren Obhut beispielsweise die medizinischen Menschenversuche im Konzentrationslager Dachau abgewickelt worden waren. Als Schwerte begann Schneider ein neues, inzwischen oft erzähltes Leben, das ihn zu einem beliebten, gemäßigt liberalen Hochschullehrer und zu einem nicht ganz erfolglosen Literaturhistoriker machte, dessen Werk seit den sechziger Jahren für den modernisierten Geist seines Faches zeugte.

Am 18. Oktober 1945 schrieb sich an der Universität Bonn der 1921 geborene Hans Robert Jauß zum Studium der Romanistik ein, mit einem Lebenslauf, der nicht nur seine militärische Laufbahn als dekorierter Offizier in den fremdvölkischen Divisionen der Waffen-SS verschwieg, sondern auch falsche Angaben über Wohnorte und Schulbesuch vor dem Krieg machte. Der leicht durchschaubare Schwindel des vom amerikanischen Geheimdienst gesuchten Studienanfängers flog schon wenige Wochen später auf, und Jauß wanderte in die Kriegsgefangenschaft. Erst 1948 konnte er sein Studium in Heidelberg wieder aufnehmen. Von seiner Bonner Episode hat er später nie mehr etwas verlauten lassen. Jauß wurde in den folgenden Jahrzehnten nicht nur der berühmteste Vertreter seines Fachs in Deutschland, sondern als theoretischer Neuerer eine der wenigen international sichtbaren und wirksamen Figuren der deutschen Geisteswissenschaften nach dem Krieg.

Auch der junge belgische Literaturkritiker Paul de Man, geboren 1919, der 1941/42 Literaturchef der angesehenen, von den deutschen Besatzern auf regimetreuen Kurs gebrachten Brüsseler Zeitung Le Soir gewesen war, orientierte sich neu. Nach einem glücklosen Versuch, als Verleger Fuß zu fassen, wanderte er 1947 nach Amerika aus, wo er eine zu spätem, weltweitem Ruhm führende akademische Karriere begann. De Man wurde einer der einflußreichsten Literaturtheoretiker des 20. Jahrhunderts.

Am 15. März 1946 füllte der 1915 geborene, als Jude aus Deutschland verjagte kommunistische Dichter Stephan Hermlin in Frankfurt am Main einen amerikanischen Fragebogen aus, in dem er seinen gehetzten Lebenslauf als politischer Flüchtling zwischen Palästina, Frankreich und der Schweiz mit einer unrichtigen Angabe weiter dramatisierte. Hermlin behauptete, im Konzentrationslager Sachsenhausen zu einem Zeitpunkt inhaftiert gewesen zu sein, als es noch gar nicht bestand. Diese Unwahrheit zog später viele weitere nach sich, in denen Hermlin seine Herkunft veredelte und sein politisches wie privates Leben mit allerlei neuen Ehrentiteln ausschmückte, die ihm nicht zustanden. 1947 zog Hermlin nach Ost-Berlin und wurde zum ersten geistigen Repräsentanten der jüngeren Generation in seinem überaus künstlichen Staat.

Diese vier Geschichten beschreiben sehr unterschiedliche, moralisch gewiß nicht gegeneinander abzuwägende Fälle. Gemeinsam ist ihnen ihre späte Aufdeckung. De Man, Jauß und Hermlin, in geringerem Maße auch Schwerte, hatten Ruhm und Ansehen bereits gewonnen und ihre Lebensleistung schon erbracht, als ihre wahren Lebensläufe mit den verborgenen Episoden ans Licht kamen. Ihre Werke hatten ihre Wirkung getan, als bekannt wurde, welche Schatten auf den Anfängen ihrer Autoren lagen. Das unterscheidet ihre Geschichten etwa von der Heideggers, dessen Rektoratsrede immer bekannt war, und von vielen anderen kompromittierter Wissenschaftler und Schriftsteller, deren Schriftenverzeichnisse durch Konzessionen an den Nationalsozialismus oder den Stalinismus verunziert sind. Carl Schmitts Werk ist lange Zeit fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt seiner nationalsozialistischen Verstrickung wahrgenommen worden, ohne daß dieser Umstand die Wirkung seiner Theorien auf Dauer hätte blockieren können. Stephan Hermlin stellt in diesem Zusammenhang allerdings einen verwickelten Sonderfall dar: Er hatte neben seiner persönlichen biographischen Fälschungsgeschichte eine seit je bekannte Geschichte öffentlicher Kompromittierung in der stalinistischen Zeit der frühen DDR, die er nie verleugnet oder beschönigt hat. Sein großer Mut in den inneren Kämpfen der DDR seit den sechziger Jahren, den die soeben veröffentlichen Dokumente der Akademie der Künste ein weiteres Mal belegen, war aber nicht minder notorisch; um so befremdlicher mußte die Schminke auf seiner Lebensgeschichte wirken.

Paul de Mans frühe Zeitungsartikel wurden vier Jahre nach seinem Tod 1987 bei biographischen Recherchen entdeckt. Die Mitgliedschaft von Hans Robert Jauß in der Waffen-SS war seit 1974 in der französischen Kriegsliteratur bezeugt und seither Gegenstand der akademischen Gerüchtebildung − wovon die Figur des Siegfried von Turpitz in David Lodges Campus-Romanze Small World Zeugnis ablegt −, untersucht und diskutiert wird sie erst seit 1995; der 1997 verstorbene Jauß hat nur zögernd, gequält und vornehmlich nichtöffentlich, in persönlichen Äußerungen und Briefen, dazu Stellung genommen. Hermlins hochstaplerische Überhöhung seiner Vita ist in ihrem ganzen Ausmaß erst durch die minutiösen Forschungen Karl Corinos 1996 sichtbar geworden; auch Hermlin, der wenige Wochen nach Jauß starb, sah sich noch genötigt, seinen verbitterten Stolz mit halbherzigen Eingeständnissen zu verteidigen. Schwertes jahrzehntelanger Betrug wurde 1995 aufgedeckt und sogleich zum Gegenstand vieler teils empörter, teils erstaunlich verständnisvoller Betrachtungen. Er ist mangels intellektueller Masse heute vornehmlich ein Exemplum, das dazu dienen soll, alle möglichen Fälle biographischer Belastung mit Vergangenheit zu illustrieren.

Die Aufdeckung aller vier Fälle löste in den Feuilletons und den zuständigen Fachwelten große, zuweilen etwas künstliche Überraschung aus. Auf die Differenz von bedeutender intellektueller Leistung und moralischer Fragwürdigkeit Wurde mit einer am Ende des 20. Jahrhunderts nicht recht glaubwürdigen Jungfräulichkeit reagiert. Das gilt übrigens für die Verteidiger wie die Kritiker der vier unterschiedlichen Sünder; denn auch die Verteidiger wollten letztendlich die Möglichkeit ausschließen, daß ihre Helden trotz ihrer Verstrickungen geistig und künstlerisch Großes geleistet haben können − sie sollten rein bleiben. Umgekehrt wurde die Kritik, die an den gebrochenen Lebensläufen von de Man, Jauß oder Hermlin zu üben ist, oft genug umstandslos auf ihre Werke, ihre Argumente und ihren ästhetischen Rang ausgedehnt.

Es gibt aber eine Eigengesetzlichkeit von Kunst und Theoriebildung, die die Frage nach biographischen Motiven und Hintergründen verblassen läßt. Die Herstellung eines literarischen Kunstwerks und einer längeren Argumentation unterwirft das Subjekt einer Disziplin, die es zwingt, persönliche Antriebe hintanzustellen; sie verblassen vor dem gelungenen Werk zu äußeren Anläßen. Von einem bestimmten Komplexitätsgrad an verfangen Argumente ad personam nicht mehr; sie können höchstens einen Anfangsverdacht begründen, der dazu führt, daß die Kritik sich der Sache selbst zuwendet. Im historischen Abstand wird dies übrigens seit langem zugestanden; die genaue Kenntnis von Wagners abscheulichem Antisemitismus, der seine Spuren bis in die Handlungen seiner Musikdramen hinterlassen hat, konnte dem Rang seiner Musik nichts nehmen. Wir haben allen Grund zu vermuten, daß Caravaggio ein Mörder war, und diese historisch verbürgte Gewaltsamkeit ist der Schätzung seiner Werke sogar zugute gekommen, weil sie nun auch als Ausdruck einer ungezügelten Leidenschaftlichkeit und eines zerrissenen Lebenslaufes verstanden werden.

Nun ist besonders die Gelehrtenrepublik ohnehin ein undurchsichtiges Land. Jeder Forscher muß Hunderte von Aufsätzen, Büchern, Editionen, Kommentaren verwenden, deren Verfasser ihm nur dem Namen nach bekannt sind. Trotzdem verläßt er sich in aller Regel auf die Korrektheit ihrer Arbeit. Zuweilen erfährt er dann, der Verfasser einer geschätzten Poussin-Monographie sei sowjetischer Agent gewesen oder der bewährte Parzival-Übersetzer ein Spitzel der Staatssicherheit. Die Geltung von Poussin-Studie und Parzivalübersetzung beeinträchtigt das nicht, nur möchte man den betreffenden Kollegen auf Kongressen und in Fachbereichssitzungen vielleicht lieber nicht begegnen.

Auch diese Fragen haben ihren präzise zu lokalisierenden Sitz im Leben. Die Frau, die gegen einen Heiratsschwindler im Schach verliert, hat keinen Anlaß sich zu beschweren; doch wenn sie eine Partnerschaft sucht, hat sie allen Grund, den Schachgegner abzulehnen. In Wissenschaft und Kunst besteht sehr viel aus solchem Schachspiel, aus der ingeniösen Anwendung von Regeln, und darin können auch moralische Monster exzellieren. Wenn der berüchtigte Una-Bomber einen unentbehrlichen mathematischen Beweis gefunden hätte, wäre dieser nach wie vor gültig, und man müßte sich auf ihn beziehen. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, daß man nach der Entdeckung der Le-Soir-Artikel gerade die hochgradige Formalisierung von Paul de Mans dekonstruktivistischer Lektüremethode als moralischen Vorwurf gegen sein späteres Werk gerichtet hat, so als sei das Ausweichen ins Abstrakte nichts als persönliche Tücke gewesen.

Die Wissenschaft ist aber nicht nur Schachspiel, sondern auch eine der Wahrheitsfindung verpflichtete Lebensform. Der Ort dieser Lebensform ist noch immer die Universität, und Professoren bekleiden öffentliche Ämter. Die Freunde und Schüler von Schwerte, Jauß und de Man hatten alles Recht, sich nach dem Vorleben ihrer Kollegen und Lehrer zu erkundigen. Selbst die von Hermann Lübbe gepriesene »asymmetrische Diskretion« und das »kommunikative Beschweigen«, mit dem nach dem Krieg die belasteten Ordinarien sich mit ihren aus dem Exil zurückgekehrten Kollegen arrangiert haben sollen, setzt immerhin summarische wechselseitige Kenntnis von den Lebensläufen der in einer solchen wissenschaftlichen Gemeinschaft Zusammenlebenden voraus. Für den Schriftsteller Hermlin gilt ein analoges Argument: Er war kein Dichter, dessen Person hinter dem Werk verborgen war, sondern zumal in den ersten Jahren der DDR ein Vorbild kommunistischer und antifaschistischer Gesinnung; da ist es nicht gleichgültig, ob das Lebensbild, das mit seinem Einverständnis in Nachschlagewerken und biographischen Würdigungen entworfen wurde, tatsächlich zutraf oder nicht. Bei Hermlin kommt hinzu, daß die Ungewißheiten über seinen Lebenslauf offenbar auch dem Sicherheitsdienst des Landes bewußt waren; das machte ihn abhängig von der Nachsicht der Mächtigen.

Für die Werke der Literatur und der meisten sogenannten Geisteswissenschaften gilt, daß die Sphären des formal Gelungenen und Gültigen auf der einen Seite und des moralischen Lebensstoffes auf der anderen nicht zu trennen sind. Vor Romanen, Gedichten und ihren Interpretationen sitzen wir wie die Frau vor dem Heiratsschwindler, mit dem sie nicht nur Schach spielen, sondern leichtsinnigerweise auch noch eine Beziehung eingehen will. Literaturwissenschaftler und -kritiker schreiben Werke über Werke, die sich mit Lüge und Wahrheit, mit Schuld und Verantwortung, mit Moral und Amoral befassen. Solche Werke (und ihre Interpretationen) sind zwar Objektivierungen, sie können nicht als unmittelbarer Ausdruck von Personen gelten, mit denen sie dann stehen oder fallen müssen; aber in ihnen ist Erfahrung aufgehoben, als Element, oft eingekapselt, zuweilen am deutlichsten in den Vermeidungen, den Allergien und den blinden Flecken. Die Art, in der das Erfahrene objektiviert wird, ist in jedem Werk anders und keinesfalls mit den ohnehin nie zu klärenden psychologischen Mechanismen gleichzusetzen, die einen Autor beim Schreiben geleitet habenmögen. Biographismus ist erlaubt, sofern er sich auf vorgängige Texte, Selbstaussagen und äußere, nachprüfbare Tatsachen bezieht; aber Biographismus ist nur eine partikulare Form der Lektüre, die allein nie hinreichen kann, ein Werk der Theorie oder der Kunst zu erledigen. Ohne Betrachtung des Einzelfalles geht es nicht, und so müssen wir zu unseren vier Geschichten zurückkehren.

Über den Fall Paul de Mans ist soviel geschrieben worden, daß hier der Verweis auf die jüngste Erörterung genügen kann. Sie wurde von dem Schriftsteller Gilbert Adair in dem Kriminalroman Der Tod des Autors vorgelegt.[1. Gilbert Adair, Der Tod des Autors. Zürich: Edition Epoca 1997. Quellen:Wartime Journalism 1939−1943. Lincoln: University ofNebraska Press 1989. Beste Übersicht zum Lebenslauf: Lindsay Waters in der Einleitung zu de Mans Critical Writings 1953−1978. Minneapolis: University of Minnesota Press 1989. Weiteres Material in dem apologetischen Nachwort von Christoph Menke zu Paul de Man, Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt: Suhrkamp 1993.] Adair erzählt die Geschichte eines Gelehrten, der ganz nach dem Bilde de Mans geformt ist; vor allem hat er dieselbe Leiche im Keller, jenen Artikel vom 4. März 1941, in dem auf einer antisemitischen Sonderseite von Le Soir behauptet wird, die mögliche Schaffung einer Judenkolonie außerhalb Europas (die Madagaskar-Lösung) würde dem literarischen Leben Europas keinen ernsten Schaden zufügen, weil es sich dabei nur um mittelmäßige Persönlichkeiten handele. Adair stellt das folgende intellektuelle Leben seines Helden als den Versuch dar, diese Entgleisung mit Ausreden zu überdecken. Der literarische Dekonstruktivismus erscheint als die Bemühung, die Autorenrolle von aller Verantwortlichkeit zu entlasten, so als schrieben sich die Texte von selbst und brächten ihre mörderischen Bedeutungen von sich aus hervor. Adairs de Man-Double wird dann allerdings zum Opfer seines Erfolges: Seine Theorie ist so einflußreich, daß sie bei einer fanatischen Verehrerin das Bedürfnis nach einer Biographie ihres Autors hervorruft, und da tauchen dann die kompromittierenden Texte seiner Jugendzeit wieder auf. Nun muß der Autor, der sich selbst für tot erklärt hatte, zum Mörder werden.

 

 

Adairs Modell setzt einen radikalen Bruch zwischen dem frühen und dem späten de Man voraus, bei dem der späte den frühen auslöschen soll. Und in der Tat hat keiner der Kritiker de Mans eine Kontinuität zwischen den Artikeln in Le Soir und seinen theoretischen Alterswerken behauptet. Der Vorwurf, diese seien nichts als eine sophistisch ausgearbeitete Ausrede, trifft aber auch nicht. Die dekonstruktive Lektüre (was immerman von ihrer Plausibilität halten mag) ist nur anwendbar auf Texte mit einem gewissen Komplexitätsgrad, von dem an die Logik der Sprache eine eigene, wenn auch widersprüchliche und dann den Intentionen des Autors zuwiderlaufende Dynamik entfalten kann. Das ist die Objektivierung (die Adorno als »Entäußerung« des Autorensubjekts beschrieben hätte), die einen planen Biographismus unmöglich macht. Aber natürlich lassen sich alltägliche Sprechakte, politische Äußerungen oder rassistische Mordaufrufe nicht dekonstruktiv lesen. Sie fallen auf ihre Urheber zurück. Man kann mit dem Dekonstruktivismus den literarkritischen Voluntarismus des frühen de Man nicht bagatellisieren; aber deshalb lassen sich die Artikel aus Le Soir auch nicht gegen die Allegorien des Lesens ins Feld führen.

Trotzdem ist Adairs romanhafte Karikatur des de Manschen Dekonstruktivismus treffend. In de Mans späten Texten verschwindet die Figur des richtenden, wertenden, die literarische Welt aufteilenden Kritikers. Er wird ersetzt von einem scheinbar willenlosen Leser, der sich der absoluten Musik der Zeichenbewegung überläßt. Aus dem jungen Literaturchef ist ein buddhistischer Zuhörer geworden, sanft, gewaltlos, nicht mehr Herr, sondern nur noch Gast in jenem klösterlichen Bezirk der reinen Kunst, den schon der junge de Man als Kritiker zu verteidigen geneigt war (um ihn seiner Souveränität zu unterwerfen). Dabei verschweigt der wunderbar milde Leser de Man allerdings, daß er immer noch der Regisseur des rhetorischen Theaters ist, dem er sich vor den Augen seiner Leser scheinbar so willenlos überläßt. Er hat die erlesen kleine Zahl von Texten ausgesucht, die er zum Sprechen bringt, und natürlich ist er es, der mit vollendeter Ironie über die Absichten ihrer Autoren hinweggeht, indem er sie zu einer Stimme unter vielen anderen herabstuft. Der ehrgeizige, kalte und hochfahrende Kritiker von Le Soir kann den Weltweisen aus Yale nicht umbringen. Doch macht er in dessen Texten einen bisher unerkannten Schattenriß sichtbar, den des sanften Unmenschen, der sich im Ästheten verbirgt.

Als die Identität von Hans Schwerte mit dem germanischen Wissenschaftler Schneider bekannt wurde, begann man sofort nach Spuren von Schneider in den Schriften Schwertes zu suchen.[1. Wichtigste Quellen und Literatur in Auswahl: Hans Schwerte, Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart: Klett 1962. Der Fall Schneider/Schwerte, Sonderheft der Zeitschrift Sprache und Literatur. Paderborn 1996.HelmutKönig u. a. (Hrsg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen. München: Beck 1997. Am detailliertesten ist das Gutachten, das der Historiker Bernd-A. Rusinek im Nordrhein-Westfälischen Hauptstaatsarchiv für die Kommission der Landesregierung zum Fall Schneider/Schwerte erarbeitet hat.] Gefunden hat man erstaunlich viele Äußerungen, die sich mit der Problematik des Maskentragens und des Rollenspiels befassen, so in einer Rezension über Thomas Manns Felix Krull, die die Maskenhaftigkeit von Manns Stil beklagt, die Scheu seiner Kunst vor dem Bekennen und unverhüllten Aussagen. Offenbar hat der radikale Identitätswechsel bei Schwerte das abgelegte Ich eine Zeitlang fast zwanghaft präsent gehalten. Schwerte mag vieles von dem verdrängt haben, was er als Schneider tat oder wußte; daß er einmal ein anderer gewesen ist, war nach dem Hineinschlüpfen in einen neuen Namen mit der damit verbundenen Verpflichtung, sich in der neuen Rolle zurechtzufinden, nicht mehr zu vergessen. Auch hat Schwerte in seinen ersten Schriften nach dem Krieg intellektuell noch nicht den radikalen Bruch vollzogen, den sein Wechsel der Papiere schon aus Täuschungsgründen hätte nahelegen können.

Sein eilig zusammengestoppelter Beitrag über die deutsche Gegenwartsliteratur in der ersten Auflage von Heinz Otto Burgers Annalen zur deutschen Literatur (1952) zeigt noch viel vom Geist völkischer Germanistik, und in dem Sammelwerk Denker und Deuter im heutigen Europa (1954) hat Schwerte sogar mit ehemaligen SS-Kameraden kollaboriert. Paradoxerweise tragen gerade diese trüben Reste seines verborgenen Vorlebens dazu bei, dem 1962 erschienenen ideologiekritischen Buch über Faust und das Faustische eine gewisse Glaubwürdigkeit zu sichern. Hätte der neugeborene Homunkulus Schwerte gleich ins kritische Horn geblasen, dann müßte man dies heute nur als äußerlichen Teil seiner neuen Identität verstehen. So aber sieht man, daß aus Schneider erst allmählich Schwerte wurde. Der intellektuelle Identitätswechsel gelang nur quälend und zögernd, und sein moralischer Wert darf auch nicht überschätzt werden. Als Schwerte ersparte sich Schneider die Schande, das lebenslange Stigma, ein SS-Mann gewesen zu sein. Daß er – wie Klaus Weimar glaubt − vielleicht auch als Schneider im Nachkriegsdeutschland hätte Karriere machen können, ändert nichts daran, daß der Identitätswechsel ihm Reue und Buße erspart hat, den Zusammenbruch der moralischen Persona, die einen Neuanfang erst beglaubigt. Das Faust-Buch, wissenschaftlich das einzig Bemerkenswerte, was Schwerte hervorgebracht hat, wird überdauern als Stoffsammlung, jenem unpersönlichen Bereich fachlichen Austauschs zuzuschlagen, in dem die Fußnoten gedeihen.

Im Gegensatz zu de Man und Schneider/Schwerte begann die intellektuelle Biographie von Hans Robert Jauß erst nach dem Krieg.[1. Der Fall Jauß ist noch nicht abschließend geklärt. Das wichtigste Material hat der Romanist Earl Jeffrey Richards gefunden und bereitgestellt (zuletzt in dem Aufsatz Vergangenheitsbewältigung nach dem Kalten Krieg in der schwedischen Zeitschrift Germanisten (Nr.1, 1997). Professor Richards hat mir seinMaterial überaus großzügig zur Einsicht überlassen, obwohl ihm bekannt war, daß ich seine Schlußfolgerungen keineswegs teile.] Es gibt keinen Text des jungen, in der Waffen-SS dienenden Soldaten, den man mit den späteren Schriften des Rezeptionsästhetikers konfrontieren könnte. Jauß war noch nicht einmal achtzehn Jahre alt, als er sich freiwillig meldete. Das Klima in den sogenannten fremdvölkischen Divisionen, in denen er diente, muß man sich stramm bis fanatisch regimetreu vorstellen. Jauß war nach Ausweis der zugänglichen Dokumente ein bis zu Verwegenheit tapferer Soldat. Sein Itinerar im Krieg ist nur in Umrissen bekannt; die historische Forschung hat hier erst begonnen.

Schon jetzt aber steht fest, daß die theoretischen Motive des Lebenswerks von Jauß sich nicht in eine intellektuelle Kontinuität mit der Ideologie, wie sie in der Waffen-SS geherrscht haben mag, bringen lassen. Diese von Earl J. Richards vorgebrachte Kritik ist ganz abwegig. Richards wirft der Rezeptionsästhetik Wertrelativismus und »Ästhetisierung der Geschichte« vor, eine voluntaristische Machtergreifung der Gegenwart über die Vergangenheit. Nun hat es eine solche nationalsozialistische Rezeptionsästhetik tatsächlich gegeben; formuliert hat sie beispielsweise 1933 der Germanist Gerhard Fricke in einer Abhandlung Über die Aufgabe und die Aufgaben der Deutschwissenschaft. Sie bestehe »in der geschichtlichen Erkenntnis und Deutung deutscher Vergangenheit und deutschen Schicksals, nicht mehr von einem europäisch-westlichen, sondern vom germanischen Blickpunkt und von der gegenwärtigen Zeit beginnender Erfüllung aus«.

Für den Nationalsozialismus war Wahrheit eine Machtfrage, und die Macht kam von der Überlegenheit eines vorgeschichtlichen, ewig gegenwärtigen Bluts. Hier war kein Platz für die Alterität früherer Epochen oder fremder Kulturen. Die hermeneutische Rezeptionstheorie ist ein sozial konkret gewordener, nämlich im wechselnden Leben der Lesergenerationen angesiedelter Historismus. Das Bestehen von Jauß auf der Alterität meinte einen Zustand, »in dem man ohne Angst verschieden sein kann« (Adorno), und die Elastizität des Verstehens fand für ihn die Grenze bei der »Indifferenz, der Selbstgerechtigkeit, letztlich der blanken Durchsetzung von Gewalt«. Mit dem ästhetischen Urteil teile das Verstehen »das Moment der Freiwilligkeit, der nur zumutbaren Beipflichtung«. Der Wertrelativismus der Rezeptionsästhetik hat seinen Ort in jedem Gespräch über Kunst, in dem die Teilnehmer sich nicht zur Übereinstimmung zwingen, und wenn man Jauß als akademischem Lehrer und Schulhaupt etwas vorwerfen kann, dann vielleicht am ehesten, daß es in seiner Konstanzer Schule zu wenig von solchem praktizierten Wertrelativismus gegeben hat.

In eigener Sache hat der Wissenschaftler Jauß öffentlich und sehr indirekt erst ganz am Ende gesprochen, weniger in dem mißglückten Interview mit Le Monde am 6. September 1996 als in seinem 1995 publizierten Vorwort zu den autobiographischen Aufzeichnungen von Werner Krauss. Da handelt Jauß von der Unmöglichkeit, eine Autobiographie zu schreiben, von der Einsicht, »daß keine literarische Form auf einmal erfassen kann, was als opake Realität, die sich keiner Entwicklung fügt, alles ordnende Schreiben überschießt«. So hat Jauß 1995 zum fünfzigjährigen Kriegsende auch keine Erinnerungen publiziert wie seine Kollegen und Generationsgenossen Arno Borst und Reinhart Koselleck, und er führte als Begründung mangelndes literarisches Talent und eine an Proust geschulte Erinnerungsskepsis ins Feld. Aber niemand hatte eine Suche nach der verlorenen Zeit von ihm erwartet, sondern nur ein paar Auskünfte.

Nicht die absurde Kontinuität eines SS-Kämpfers für den historischen Wertrelativismus prägte die intellektuelle Biographie von Jauß, sondern das Ausblenden der finsteren Seiten der Geschichte. Jauß hat nie erzählt, daß er schon im Herbst 1945 als auch moralisch besiegter Hauptsturmführer der Division Charlemagne mit gefälschten Entlassungspapieren bei dem hochfahrenden Kulturabendländer Ernst Robert Curtius, den er später so häufig kritisieren sollte, in der Bonner Vorlesung gesessen hat. Man mag es sich kaum ausmalen. Geschichtsschreibung hat Jauß als halbfiktives Unternehmen am Beispiel von Johann Peter Hebels Schilderung des Brands von Moskau beschrieben; noch für die Katastrophenerzählung machte er sich zum Fürsprecher einer literarischen Überformung, die historische und ästhetische Erfahrung kaum zu trennen wußte. Erst in seinem letzten Vortrag, der wenige Wochen vor seinem Tod Das Verstehen von Geschichte und seine Grenzen behandelte, fragte Jauß zweifelnd, ob das Böse das Unerklärbare sei, auf welches das Verstehen als seine letzte Grenze stoße. Wenn es eine Spur seiner frühen Jahre im wissenschaftlichen Lebenswerk von Jauß gibt, dann ist es nicht eine dumpfe Kontinuität, sondern ein allzu optimistischer Glaube an die hellen Seiten der Moderne, der aufklärerischen Sprache, der lebenspraktischen Möglichkeiten von Literatur. Sein Kanon hat alle schwarzen und gefährlichen Autoren der französischen Moderne, Bataille oder Céline etwa, ausgeblendet. Insofern ist das späte Vorwort zu Werner Krauss mehr als eine Ausrede; es bezeichnet einen authentischen Zweifel. Jauß ist zu früh gestorben, als daß er aus ihm noch vermehrten intellektuellen Nutzen hätte ziehen können. Nur noch eine unerledigte Frage hat er in sein Werk eintragen können.

Als Karl Corino 1996 Die Legenden des Stephan Hermlin enthüllte und dabei vor allem den Prosatext Abendlicht (1979) Punkt für Punkt mit der dokumentarisch faßbaren Realität konfrontierte, da wurde ihm sogleich entgegengehalten, er verwechsle die Textsorten und ziehe einen dichterischen, ergo fiktiven Text unzulässigerweise als historische Aussage heran.[1. Karl Corino, »Außen Marmor, innen Gips«. Die Legenden des Stephan Hermlin. Düsseldorf: Econ 1996. Karl Corino stand mir in voller Kenntnis meiner abweichenden Schlußfolgerungen mit Auskünften aus seiner reichen Materialkenntnis bei. Frau Irina Hermlin danke ich für ein längeres Gespräch und ein Exemplar der Ersten Reihe.] Dieser Grundsatzeinwand ist so wenig zu widerlegen wie Corinos Dokumente, und so könnte man sich dabei beruhigen, daß es sich hier um zwei nicht versöhnbare Seiten von Hermlins Leben als Dichter handle. Und in der Tat läßt sich Abendlicht einfach als schöner Text lesen, der das Standbild eines reichen Lebens zeigt. »Eine Wanduhr tickte langsam und beharrlich. Eingehüllt in das warme Licht, das in einer Säule aus tanzendem Staub und Tabaksdunst auf mein Buch fiel, folgte ich schläfrig und zufrieden den grammatikalischen Erläuterungen des Pfarrers.« Vor einem solchen Satz verblaßt die Frage, wie lange und in welchem Pensionat der junge Rudolf Leder in der Schweiz wirklich gewesen ist.

Gleichwohl bleibt ein Unbehagen. Denn daß Abendlicht nicht einfach ein Roman ist, der ein erfundenes Leben entwirft, ist sofort erkennbar. Hier werden historische Daten genannt, es treten historische Persönlichkeiten auf, und der Stoff, aus dem die Spannung dieses Lebens gewonnen wird, ist die Geschichte. Ebenso klar ist aber, daß es sich bei Abendlicht nicht um Historiographie und auch nicht um eine Autobiographie handelt. Die Kritiker Corinos, die ihm Textsortenverwechslung vorhielten, haben selbst die Frage nach dem Genre weder gestellt noch beantwortet. Das ist bei einem Text, dessen Anmutung überaus formstreng ist, verwunderlich.

Um welche Gattung handelt es sich? Abendlicht ist in der ungewohnten, modernen Variante einer Ich-Erzählung etwas sehr altes, nämlich in der Tat eine Legende, nicht im abwertenden, alltagssprachlichen Sinn Corinos, sondern ein religiöser Text im Sinne einer präzisen Gattungstypologie. Die Legende, so hat es André Jolles in seiner Typologie der Einfachen Formen entwickelt, ist die Objektivierung einer Tugend unter dem Gesichtspunkt ihrer Imitabilität. Die Tugend beweist sich in Wundern, in Erzählungen, in typischen, wiederkehrenden Situationen. Diese Tugend ist an ein bestimmtes Leben gebunden, das Leben eines Heiligen. Die Textform der Legende ist das sprachliche Äquivalent einer wundertätigen Reliquie. Sie zeigt nicht eine seelische Entwicklung, sondern stehende Bilder, die die Tugend bezeugen und veranschaulichen. Die Legende ist als sprachliche Gestalt aus dem Leben hervorgegangen und soll wieder ins Leben zurückwirken. Sie zerbricht ein Leben in seine Bestandteile und erfüllt diese mit dem Wert der Imitabilität, der Nachahmbarkeit. In ihrer perikopenhaften Gestalt zeigt sie verallgemeinerte Situationen, an denen die Leser sich orientieren können. Als Bild einer Möglichkeit zur Tugend ist sie nicht einem historischen Zusammenhang verpflichtet, sondern zielt auf Zeitlosigkeit.

All diese Merkmale lassen sich in Hermlins Abendlicht zeigen. Es hat in seinem Werk einen wenig bekannten Vorläufer, Die Erste Reihe, eine Serie aus den Akten gearbeiteter, gemeißelter Kurzbiographien von meist proletarischen Widerstandskämpfern, die Hermlin 1951 veröffentlicht hat. Es sind reine Legenden. Ihren Ton mag ein Zitat über Hans Scholl bezeugen: »Inmitten einer deutschen Umwelt, die unter den von Hitler angegriffenen und bedrohten Völkern Abscheu und Haß verbreitet, zeigt Hans Scholl das Gesicht des Deutschen, wie es in Sagen und Überlieferungen nur noch traumhaft weiterlebt: das Antlitz des Treuherzigen, des Rechtlichen, des wahrhaft Tapferen.« Die meist nur wenige Seiten langen Viten der Ersten Reihe zeigen bereits die Textform, aus der Abendlicht entwickelt werden konnte. Schon seine Kürze, die perikopenhafte Knappheit der Episoden, vor allem aber das, was Corino als lügenhaft kritisiert, die Überhöhung sowohl von Hermlins großbürgerlicher Herkunft wie von seinem klassenkämpferischen Heroismus, weisen auf die Gattung der Legende. Abendlicht zeigt einen vorbildlichen Bürgersohn, der wie ein Franziskus die Kleider seiner Herkunft ablegt und zu einemvorbildlichen Vorkämpfer des Proletariats wird. Er will in Spanien gekämpft haben und macht seinen 1939 nach England ausgewanderten und dort 1947 gestorbenen Vater zu einem KZ-Opfer. Sein angeblich gefallener Bruder und seine Freunde bewähren dieselbe Tugend. Diese kommunistische Legenda aurea ist zudem vaterländisch grundiert: »Hinter der dröhnenden Dunkelheit spürte ich die stille Duldsamkeit des Landes, lautlos die unüberwindliche Melancholie seiner Musik, die unhörbaren Verse seiner Dichter, seine Orakel und Prophetien, seine lange, verworrene Geschichte, das rätselhafte Aufsichselberweisen seiner Landschaften, die einfache Tapferkeit meiner Freunde. Ich war allein, und die Engel des Vaterlandes standen um mich her.« Das klingt fast nach dem Geheimen Deutschland der Jünger Stefan Georges, und man sollte bei diesem Legendentext beachten, daß er nicht nur kommunistische, sondern auch bürgerliche und patriotische Tugenden preist, selbst in der späten DDR des Jahres 1979 keine selbstverständliche oder gar leichte Sache.

Legenden stellten etwas Nachahmenswertes auf, doch sie sollten immer auch seine Möglichkeit beglaubigen. Die Heiligen gab es wirklich, ihre Wunder sollen wahr sein. So belegen es die Acta Sanctorum, die Sammlung aller Legenden der katholischen Kirche. Ihr Zweck ist nicht historiographisch, aber es soll sich doch nicht um reine Dichtung handeln. Legenden sind Zeugnisse. Es ist daher für die Gattungspragmatik, den »Sitz im Leben«, den Abendlicht einnimmt, nicht ganz gleichgültig, ob elementare Daten, auf die es sich bezieht, stimmen oder nicht. Karl Corino übernahm den seit jeher eingeführten Part des Advocatus Diaboli in dem von Stephan Hermlin in eigener Sache angestrengten Heiligsprechungsprozeß. Bezeichnenderweise können Corinos Befunde vor allem den Lesern gleichgültig bleiben, die nicht an Heilige glauben und auch der kommunistischen Religion nicht anhängen. Für die Anhänger dieser Glaubensgemeinschaft aber müßte sein Plädoyer alarmierend sein. Gerade sie sollten sich nicht auf den Standpunkt der reinen Literatur zurückziehen, sondern müßten mit Gegenbeweisen kommen oder Hermlin aus ihrem Heiligenkalender streichen. Die Ungläubigen dürfen ungläubig staunend eine Bildergeschichte auf Goldgrund bewundern, die ein Leben im Glaubenskrieg zeigt. Wer daran Gefallen findet, kann Stephan Hermlin aus dem kommunistischen Paradiso ins heidnische Pantheon der Literatur überführen.

Kann eine Biographie ein Werk zerstören? Nein, sie kann es nicht oder doch nur eines, das die Zeit allein auch zerstört hätte. Die Geschichte des Jahrhunderts lehrt, daß die Zeit oft stärker ist als die Kontinuität der Person. Daß de Man über seine frühe Zeit immer geschwiegen hat, daß für Jauß der Waffen-SS-Soldat, der er einmal gewesen war, später unzugänglich wurde, ist nicht nur Ausflucht und Entschuldigung gewesen. Die totalitären Gewaltsysteme schaffen ihre eigene, pathologische Normalität, und was im Moment des Tuns wie eine kleine Konzession wirken mag, enthüllt erst im Rückblick seinen Sündenfallcharakter. Paul de Man war kein glühender Nationalsozialist, nach aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal Antisemit. Sein Satz über die leicht zu entbehrenden Juden wirkt vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik aber gerade durch seine kühle Mäßigung doppelt schäbig. Gegen alle dekonstruktivistischen Theorien von der Diskontinuität des Subjekts ist daran festzuhalten, daß die einzelne Biographie den einzigen faßbaren Maßstab für moralisches Urteilen an die Hand gibt. Ohnehin geht in keinem Leben etwas verloren, und auch das Abgekapselte verbreitet sein Gift. Autobiographie, so hat Paul de Man gesagt, sei keine Gattung oder Textsorte, sondern eine Lese- und Verstehensfigur, die in gewissem Maße in allen Texten auftrete. »Das autobiographische Moment ist der Prozeß einer wechselseitigen Angleichung der am Leseprozeß beteiligten Subjekte.« Dieses autobiographische Moment macht nach de Man nur den weiter reichenden, mit jeder Autorschaft verbundenen Anspruch explizit, »der immer dann vorliegt, wenn von einem Text gesagt wird, er sei von jemand und dieser Umstand sei für sein Verständnis von Bedeutung. Das heißt aber letztlich nichts anderes, als daß jedes Buch mit einem lesbaren Titelblatt in gewisser Hinsicht autobiographisch ist.«

Mit schwer zu widerlegender Logik, aber doch überaus sophistisch geht de Man dann aber noch einen Schritt weiter: »Wenn wir aber aus diesem Grund behaupten wollen, alle Texte seien autobiographisch, dann müssen wir aufgrund desselben Merkmals auch sagen, kein Text sei autobiographisch.« Die Wahrheit liegt aber zwischen den beiden von de Man gegeneinander ausgespielten Übertreibungen (die ganze Sprachtheorie des literarischen Dekonstruktivismus lebt von solchen Übertreibungen). Die meisten, wenn nicht alle Werke der Literatur und der Theorie wären ohne den Ausgangspunkt eines ernsten, die Person erfassenden Problems gar nicht entstanden. Lebensfähig sind sie aber nur, wenn sie den trüben Untergrund des Autobiographischen hinter sich gelassen haben, das heißt, wenn andere Autoren sie auslegen und weiterschreiben können.

Die wenigsten der nationalsozialistisch belasteten Gelehrten haben nach dem Zweiten Weltkrieg dazu Stellung bezogen, sich erklärt und so versucht, die Kontinuität ihrer Person gegen die Geschichte wiederzugewinnen. So wie es die Stunde Null gab, so gab es den Neuanfang. Der Fall Schwerte zeigt in aller Bizarrerie etwas Typisches: Der Neufang wurde in Angriff genommen wie ein zweites Spiel, man ließ die Kugel noch einmal rollen und nahm die zweite Chance wahr, als wenn von nichts die Rede wäre. Man tat es auf ausgeprägt sachliche, fast beiläufige Art, und die Nüchternheit der Bundesrepublik ist vielleicht nichts anderes als diese unpathetische und daher so ungeneröse Sachlichkeit.

Es gibt aber einzelne Gegenbeispiele. Der schon zitierte Germanist Gerhard Fricke, der 1933 in Göttingen die Rede zur Bücherverbrennung gehalten hatte, trat 1965 vor seine Kölner Studenten und erklärte sich zu seiner Vergangenheit.[1. Das folgende nach Gudrun Schnabel, Gerhard Fricke. Karriereverlauf eines Literaturwissenschaftlers nach 1945. In: Petra Boden/ Rainer Rosenberg (Hrsg.), Deutsche Literaturwissenschaft 1945−1965. Berlin: Akademie 1997.] Er tat dies, weil »die uns, Sie und mich verbindende Arbeit an der literarischen und ästhetischen Geschichte des Geistes, an Werken der Dichtung, in höherem Maße als etwa im strengen Objekt- und Sachbereich der Mathematik, der Naturwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft eine personale Gemeinschaft voraussetzt, ein Verhältnis der Achtung, des Vertrauens, der Redlichkeit«. Als einen Grund des langen Schweigens seiner Generation gab er an, daß angesichts der ungeheuerlichen Schuld jeder Versuch, auch der aufrichtige und begründbare, die eigene Verstrickung und Haltung verständlich zu machen, ohnmächtig und fatal erscheine, wie der Versuch, herumzuretuschieren »und zu radieren, was solch kindischem Versuch spottet«.

Fricke sprach dann aber doch über eine Stunde lang. Seine Rede war pathetisch, noch immer war ihr der expressionistische Ton seiner Jugendzeit anzuhören. Fricke liefen, so haben seine Studenten berichtet, die Tränen herunter, wenn er von Kleist und Hölderlin sprach. Das wird ihm seinen Schritt erleichtert haben. Die Haltbarkeit seines Werks hat er weder mit seinen Tränen noch mit seiner öffentlichen Beichte erhöhen können. Doch wird man ihm als Menschen ein ehrendes Gedenken nicht versagen können.