MERKUR, Nr. 131, Janur 1959

Zwei Märchen

Von Hans Christian Andersen

 

Was einem einfallen kann

Da war ein junger Mann, der bereitete sieh darauf vor, ein Dichter zu werden, er wollte es zu Ostern werden, sich verheiraten und von der Poeterei leben; es galt, wußte er, nur, sich etwas einfallen zu lassen, aber es fiel ihm nichts ein. Er war zu spät auf die Welt gekommen. Alles hatte man vor ihm ans Licht gezogen, alles war beschrieben und besungen worden.

„Glücklich die Menschen, die vor tausend Jahren geboren wurden“, sagte er. „Sie konnten leicht unsterblich werden! Glücklich selbst, wer vor hundert Jahren geboren wurde, da gab es doch noch Stoff für den Dichter. Jetzt ist alles aus der Welt herausgedichtet, wie soll ich etwas in sie hineindichten?“

Er zerbrach sich darüber den Kopf, bis er krank und verrückt wurde, der elende Mensch. Kein Arzt konnte ihm helfen, doch vielleicht die weise Frau. Sie wohnte in dem kleinen Haus am Feldrain, sie war klüger als der Doktor, der im eigenen Wagen fährt.

„Ich will zu ihr hinaus“, sagte der junge Mann.

Das Haus, in dem sie wohnte, war klein und nett, aber langweilig anzusehn. Da war kein Baum, nicht eine Blume. Ein Bienenstock stand vor der Türe, sehr nützlich! es gab einen kleinen Kartoffelacker, sehr nützlich! und einen Graben mit Schlehdorn, der hatte ausgeblüht und trug Beeren, die sauer schmeckten, denn sie hatten Frost bekommen.

„Dies ist unsere poesielose Zeit, wie sie leibt und lebt“, dachte der junge Mann, und das war jedenfalls ein Gedanke, ein Goldkorn, das er an der Schwelle der weisen Frau fand.

„Schreib es auf“, sagte sie, „Krümel sind auch Brot. Warum du herkommst, weiß ich. Dir fällt nichts ein, und doch willst du dich Ostern als Dichter etablieren.“

„Alles steht schon schwarz auf weiß zu lesen“, sagte er. „Unsere Zeit ist nicht wie früher.“

„Nein“, sagte die Frau. „Früher wurden die weisen Frauen verbrannt, und die Poeten gingen mit schlotternden Därmen und durchgewetzten Ellenbogen umher. Unsere Zeit ist gut, aber du betrachtest die Welt nicht aufmerksam und mit geschärften Sinnen. Hier gibt es mehr als genug zu dichten und zu erzählen, wenn man erzählen kann. Du magst es den Pflanzen und Gewächsen der Erde ablauschen, es aus dem fließenden Wasser schöpfen, aber du mußt es verstehen, einen Sonnenstrahl zu fangen. Probiere nun einmal meine Brille, setze mein Hörrohr ans Ohr, sprich ein Gebet und hör auf, an dich selbst zu denken.“

Das Letzte war besonders schwer, fast mehr, als eine weise Frau verlangen durfte. Er bekam Brille und Hörrohr und wurde dann mitten in den Kartoffelacker hinaus geführt. Sie gab ihm eine große Kartoffel in die Hand. Es klang darin, ein Gesang mit Worten, die Geschichte der Kartoffeln, interessant — eine alltägliche Geschichte in zehn Teilen, zehn Linien würden dafür ausreichen.

Und was sang die Kartoffel?

Sie sang von sich und ihrer Familie: von der Ankunft der Kartoffel in Europa, von der Geringschätzung, die sie erfahren und erlitten hatten, ehe sie wie jetzt für einen größeren Segen erachtet wurden als ein Goldklumpen.

„Auf königlichen Befehl wurden wir in den Rathäusern der Städte ausgeteilt. Unsere große Bedeutung wurde bekanntgegeben, aber man glaubte nicht an sie, verstand sich nicht einmal darauf, uns zu pflanzen. Einer grub ein Loch und warf seinen ganzen Scheffel Kartoffeln hinein; ein anderer steckte bald hier, bald dort eine Kartoffel in die Erde und erwartete, daß sie emporschießen sollte wie ein ganzer Baum, von dem man Kartoffeln schütteln könne. Es bildeten sich auch Pflanzen, Blüten, wäßrige Früchte, aber das Ganze welkte. Keiner dachte an das, was in der Erde lag, den Segen: die Kartoffeln. Ja, wir sind schwergeprüft und erfahren, das heißt: unsere Ahnen, sie und wir, das kommt jetzt auf eins heraus, welche Geschichten!“

 

 

„Ja, nun mag es genug sein“, sagte die Frau. „Betrachte die Schlehen.“

„Auch wir haben“, sagten die Schlehen, „nahe Verwandte in der Heimat der Kartoffeln, noch höher im Norden. Einst steuerten Männer von Norwegen nach Westen, durch Nebel und Sturm einem unbekannten Lande zu, wo sie unter Eis und Schnee Wurzeln und Grünes entdeckten, Büsche mit schwarzblauen Weinbeeren: Schlehen, die zu reifen Trauben heranfroren, das tun auch wir. Und das Land erhielt den Namen: Weinland, Grönland, Schlehenland.“

„Das ist eine ganz romantische Erzählung“, fand der junge Mann.

„Ja, komm nun mit“, sagte die weise Frau und führte ihn an den Bienenstock heran. Er sah hinein. Welches Leben und Treiben! In allen Gängen schwirrten Bienen und bewegten die Flügel, damit ein gesunder Luftzug durch die ganze große Fabrik gehe, das war ihr Amt. Bienenkamen von außen, sie brachten Blütenstaub, er wurde abgestreift, abgesondert und zu Honig und Wachs verarbeitet. Sie kamen, sie flogen. Die Bienenkönigin wollte auch fliegen, aber dann wollten alle mit, dafür war jetzt nicht die Zeit! Fliegen wollte sie trotzdem, da bissen sie Ihrer Majestät die Flügel ab und nun mußte sie dableiben.

„Dreh dich um“, sagte die weise Frau. „Komm und schau hinaus auf

die Landstraße, wieviel Leute es zu sehn gibt!“

„Wahrhaftig ein Gewimmel“, staunte der junge Mann. „Geschichte um Geschichte, es surrt und schnurrt! Das wird mir fast zu bunt, ich kehre um.“

„Nein, geh geradeaus“, sagte die Frau, „geh gleichsam hinein in das Menschengewimmel, hab Augen für sie, Ohren für sie und ein Herz, dann wird dir bald etwas einfallen. Aber ehe du dich auf den Weg machst, gib mir meine Brille und mein Hörrohr“, und sie nahm ihm beides ab. „Nun sehe ich nicht das Mindeste“, sagte der junge Mann, „nun höre ich nichts mehr.“

„Ja, dann kannst du auf Ostern kein Dichter werden“, sagte die weise Frau.

„Aber wann dann?“ fragte er.

„Weder zu Ostern noch zu Pfingsten. Es fällt dir nichts ein.“

„Was soll ich dann tun, um mit der Poesie mein Brot zu verdienen?“

„Das kannst du schon zur Fastnacht haben! Ziehe den Poeten den Boden fort, schlage ihre Werke, dann triffst du sie. Laß dich nur nicht ins Bockshorn jagen, schlage rasch zu, dann erhältst du Semmeln, mit denen du dich und deine Frau ernähren kannst!“

„Was einem einfallen kann“, sagte der junge Mann, und von nun an verriß er jeden anderen Poeten, weil er nicht selbst hatte Poet werden können. Wir haben es von der weisen Frau, sie weiß, was einem alles einfallen kann.

 


 

Feder und Tintenfaß

 Man sah sich um in eines Dichters Stube und betrachtete sein Tintenfaß auf dem Tisch. Einer bemerkte: „Es ist seltsam, was alles aus einem Tintenfaß hervorkommen kann; was wird das Nächste sein? Ja, das ist merkwürdig!“

„Wahrhaftig“, sagte das Tintenfaß, „es ist rätselhaft, gerade das sage ich immer.“ Es sprach zur Feder und zu allem, was ihm auf dem Tisch zuhören konnte. „Es ist merkwürdig, was aus mir alles kommen kann, ja, fast unglaublich, und ich weiß wirklich selbst nicht, was als Nächstes folgt, wenn der Mensch anfängt, aus mir zu vergeuden. Ein Tropfen von mir, das reicht für eine halbe Seite Papier, und was kann nicht auf ihr stehen! Ich bin etwas sehr Merkwürdiges, von mir nehmen alle Werke der Dichter ihren Ausgang, diese innigen Empfindungen, Humor und reizende Schilderung der Natur; ich begreife es selbst nicht, denn ich kenne die Natur nicht, aber das steckt nun einmal in mir, ich weiß nicht, wie es sich emporarbeitet, ich versichere Ihnen, ich denke nicht daran.“

„Da haben Sie recht“, sagte der Federkiel, „Sie denken nicht, denn dächten Sie, wären Sie sich darüber klar, daß Sie nur Flüssigkeit hergeben! Sie spenden Tropfen, damit ich aussprechen und auf dem Papier sichtbar machen kann, was ich in mir habe, was ich niederschreibe. Es ist die Feder, die da schreibt! Daran zweifelt kein Mensch, und die meisten Menschen verstehen gerade so viel von Poesie wie ein altes Tintenfaß.“

„Wie unerfahren Sie sind“, erwiderte das Tintenfaß. „Sie sind ja kaum eine Woche in Dienst und schon halb verschlissen. Glauben Sie, der Dichter zu sein! Sie sind nur Gesinde, viel davon habe ich vor Ihnen gehabt, sowohl von der Sippe der Gänse wie von englischem Fabrikat! Ich kenne beides, Federkiel und Stahlfeder, viele sind in meinem Dienst gewesen und viele werden es noch sein, wenn der Mensch kommt und niederschreibt, was er meinem Inneren abgewinnt. Ich möchte nun wohl wissen, was er als Nächstes aus mir ans Licht bringt!“

„Tintenpott!“ sagte die Feder.

Spät abends kam der Dichter nach Hause, er war im Konzert gewesen, hatte einen ausgezeichneten Geiger gehört und war ganz bezaubert von seinem Spiel. Eine erstaunliche Flut von Tönen hatte der Meister seinem Instrument entlockt; bald klang es wie fallende Wassertropfen, Perle um Perle, bald wie ein Chor zwitschernder Vögel, bald, als brause der Sturm durch einen Tannenwald; er glaubte, sein eigenes Herz weinen zu hören. Nicht nur die Geigensaiten schienen zu tönen, sondern auch der Geigensteg, ja, Schrauben und Schallboden; es war außerordentlich! und schwer!, doch sah es aus wie ein Spiel, als glitte der Bogen nur über die Saiten; man sollte glauben, jedermann könne es nachmachen. Die Geige tönte von selbst, der Bogen spielte von selbst, die zwei vollbrachten das Ganze, man vergaß den Meister, der sie führte, ihnen Leben und Seele gab; doch an ihn dachte der Dichter, er nannte ihn beim Namen und schrieb seine Gedanken darüber auf:

„Wie abgeschmackt, wollten Bogen und Geige sich mit ihrem Tun brüsten! Und das tun doch so oft wir Menschen, Dichter, Künstler, Entdecker, Feldherren! Wir brüsten uns — und sind doch alle nur Instrumente, auf denen Unser Herr spielt. Ihm gebührt die Ehre!“

Ja, das schrieb der Dichter nieder, schrieb es als eine Parabel und nannte sie „Der Meister und die Instrumente“.

„Da bekamen Sie es, Madame!“ sagte die Feder zum Tintenfaß, als die zwei wieder allein waren. „Sie hörten ihn wohl vorlesen, was ich zu Papier brachte?“

„Ja, was Sie von mir bezogen“, sagte das Tintenfaß. „Da haben Sie einen Hieb für Ihren Hochmut! Daß Sie nicht einmal begreifen, wenn man sich über Sie lustig macht! Ich versetzte Ihnen gewissermaßen einen Hieb aus meinem Innern! Ich werde wohl meine eigene Malice kennen.“

„Tintenhälterin!“ sprach die Feder.

„Schreiberkiel!“ erwiderte das Tintenfaß.

Beide hatten das Bewußtsein, gut geantwortet zu haben, und das ist ein angenehmes Bewußtsein, damit kann man schlafen, und sie schliefen damit. Aber der Dichter schlief nicht. Die Gedanken strömten hervor wie die Töne aus der Geige, rollten wie Perlen, brausten wie der Sturm durch den Wald, er erkannte sein eigenes Herz in ihnen, ihn traf ein Blitz des ewigen Meisters. Ihm gebührt die Ehre!

 


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