MERKUR, Nr. 451, September 1986

Suche nach der »verlorenen Geschichte«? Bemerkungen zum historischen Selbstverständnis der Bundesrepublik

von Hans Mommsen

Jüngsthin hat Michael Stürmer in der Wochenzeitung Das Parlament (Nr. 20/21, 17./24. Mai 1986) das Trauma der sich konsolidierenden konservativen Rechten beredt zum Ausdruck gebracht, das in der Einsicht besteht, sich nicht länger auf ein hinreichend verbindliches nationales Geschichtsbild abstützen zu können. Er befürchtet von der »verlorenen Erinnerung« einen Mangel an Kontinuität und außenpolitischer Berechenbarkeit der Bundesrepublik. Ob ein geschlossenes Geschichtsbild unter den Bedingungen einer raschen Veränderungen unterworfenen Welt wirklich wünschenswert ist, mag dahingestellt bleiben, desgleichen die Hypothese, eine stärkere Bindung an historische Traditionen gewährleiste ein höheres Maß außenpolitischer Verläßlichkeit. Hingegen stellt sich die Frage, ob die hierzulande beinahe zum Stereotyp geratene Klage vom Verlust der historischen »Identität« berechtigt und ob sie nicht eine Widerspiegelung der von konservativer Seite bestrittenen Tatsache ist, daß sich in der Bundesrepublik ein neues politisches Selbstverständnis entfaltet hat, das von einem grundlegenden historischen Paradigmenwechsel begleitet ist.

Anders als im ökonomischen und politischen Bereich vollzieht sich die Umschichtung des historisch-politischen Denkens in einem langsameren Rhythmus. Daraus mag sich erklären, daß die Debatte über das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik zu einem Zeitpunkt aufbricht, der eher durch politische Stagnation als durch rasche Veränderung gekennzeichnet ist. Sie ist indessen der Ausdruck einer schleichenden Legitimitätskrise des politischen Systems der Bundesrepublik, die aus der Phase eines ungebrochenen und unhinterfragten Wirtschaftswachstums herausgetreten ist und aus den unbestreitbaren Wiederaufbauleistungen der frühen Nachkriegszeit keinen Vertrauensbonus mehr ableiten kann. Die sich verschärfende politische Polarisierung, die nicht zuletzt zentrale sozialpolitische Fragen betrifft, erfaßt in zunehmendem Umfang das Politikverständnis selbst, und es ist nicht verwunderlich, daß damit auch die geschichtliche Überlieferung zum Gegenstand grundsätzlicher Kontroversen wird.

Es mag überraschen, daß angesehene Historiker wie Michael Stürmer die Bundesrepublik als geschichtsloses Land apostrophieren, obwohl im Unterschied zu den fünfziger Jahren das geschichtliche Interesse an Breite und Intensität zugenommen hat und selbst die Tagespolitik immer häufiger auf historische Vorgänge Bezug nimmt. Für die frühen Nachkriegsjahre konnte von einer Auslöschung der historischen Erinnerung nicht die Rede sein; die Spuren der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs standen jederman deutlich vor Augen. Trotz des als tiefer Einschnitt empfundenen Verlustes der nationalen Einheit gab es keinen grundlegenden Bruch der historischen Kontinuität. Die von Helmuth James von Moltke erhoffte Stunde X, die eine Tabula rasa für einen epochalen Neuanfang schuf, gab es nicht. Die Hoffnungen, den Untergang des Dritten Reiches für eine grundlegende gesellschaftliche Umwälzung benützen zu können, erwiesen sich als verfehlt.

Die Rekonstruktionsperiode orientierte sich durchweg an politischen Normen, die auf die Weimarer Zeit zurückgingen, und nur in Einzelfällen setzte sich die alliierte Politik der Reeducation gegenüber den angestammten Strukturen in der öffentlichen Verwaltung, im Parteiensystem und im Wirtschaftsleben durch. Es fehlte ursprünglich auch nicht an ausgeprägt konservativ-nationalen Parteirichtungen, die jedoch ihr Wählerpotential zunehmend an die CDU/CSU abgaben, die sich als Auffangbecken für zur älteren konservativen Rechten gehörende Gruppierungen erwies. Das trug dazu bei, daß die politische Rechte keine klar abgrenzbare politische Gruppierung bildete, wenn man von den neofaschistischen Splitterparteien und Teilen der Vertriebenenverbände absieht. Innerhalb des Parteienfeldes übernahm die CSU diesen Part, ohne als konservative Partei definiert zu sein.

Im Unterschied zu der Gründungsphase der Weimarer Republik besaß die politische Rechte kein Reservoir überlieferter konservativer Werthaltungen, an das sie ungebrochen anknüpfen konnte. Die schwachen Versuche der Kanzlerdemokratie, das Erbe Bismarcks, so anläßlich von dessen 100. Todestag, neu zu beleben, verliefen im Sande. Desgleichen verlor die Beschwörung der christlichabendländischen Überlieferung in dem Maße an Überzeugungskraft, als die unterschiedlichen Strategien des Kalten Krieges den auf den alliierten Kriegsund Nachkriegskonferenzen vereinbarten Status quo in Mitteleuropa nicht zu ändern vermochten. Der von Konrad Adenauer innenpolitisch wirkungsvoll in Szene gesetzte Antibolschewismus konnte zwar nach wie vor mit Erfolg für die Einbindung rechtsstehender Wählergruppen instrumentalisiert werden.

Außenpolitisch war er bereits 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer gescheitert; bezeichnenderweise war es Washington, das damals auf eine Detente drängte. Auf die Dauer ließ sich eine konservative Position mit Reminiszenzen an den Kalten Krieg nicht mehr wirkungsvoll begründen. Die in den Spätjahren Ludwig Erhards von Rüdiger Altmann geprägte Wendung von der »formierten Gesellschaft« stellte einen ersten Versuch dar, bestimmte Vorstellungen des Weimarer Neokonservativismus auf das parlamentarische System der Bundesrepublik zu übertragen und dem ordo-liberalen Schlagwort von der »sozialen Marktwirtschaft« gesellschaftspolitischen Rückhalt zu verleihen. Zu einer Wiederbelebung neokonservativer Ideengänge fehlten jedoch wichtige Voraussetzungen. Der offenkundige Erfolg des industriegesellschaftlichen Ausbaus widerlegte die im wesentlichen von vorindustriellen Strukturen ausgehenden Ideen der neokonservativen Ideologen der zwanziger Jahre.

Wenngleich unter dem Stichwort des Korporativismus berufsständische Ideen vereinzelt aufgegriffen wurden, schloß die betont antiparlamentarische Ausrichtung des Konservativismus der Weimarer Zeit direkte Anknüpfungen daran aus. Es kam hinzu, daß sich die politische Rechte, indem sie sich zum rückhaltlosen Fürsprecher des Atlantischen Bündnisses machte, in eine gleichsam seitenverkehrte politische Frontstellung geriet. Außenpolitische Rücksichten verschlossen ihr die Möglichkeit, sich zum Fürsprecher der nationalen Souveränität zu machen und eine größere außen-, wirtschaftsund militärpolitische Eigenständigkeit der Bundesrepublik im Rahmen der NATO zu fordern. Das Schreckgespenst der Neutralisierung Mitteleuropas nahm ihr die Möglichkeit, als Anwalt spezifischer nationaler Interessen gegenüber den westeuropäischen Partnern hervorzutreten; sie überließ dies notgedrungen der SPD und den neo- bzw. postfaschistischen Splittergruppen. Solange sich die Bundesrepublik gänzlich im außenpolitischen Windschatten der westlichen Alliierten befand, blieb dieses theoretische Dilemma des Konservativismus von untergeordneter Bedeutung. Angesichts des offenen Hervortretens einer spezifischen Interessenpolitik der USA unter der Prä-sidentschaft Ronald Reagans schlägt es in eine ungewöhnlich anmutende Rigidität um, mit der das Festhalten am westlichen Bündnis, das von der Opposition nicht ernsthaft bestritten ist, zum innenpolitischen Dogma stilisiert wird.

Der Fluchtweg konservativen Denkens in der Bundesrepublik war gleichzeitig dadurch verbaut, daß es sich allzu vorbehaltlos auf die Theorie der »totalitären Diktatur« eingelassen hatte. Die damit vollzogene prinzipielle Gleichsetzung von nationalsozialistischer Diktatur und kommunistischer Herrschaft kam während des Kalten Krieges dem Bedürfnis entgegen, eine handfeste ideologische Plattform zu besitzen, die sich sowohl mit dem Epitheton des Antifaschismus schmücken konnte als auch linksgerichtete Bestrebungen ausgrenzte und kriminalisierte. Die Abgrenzung von totalitären Diktaturen diente seitdem als Grundmuster zur Rechtfertigung einer »kämpferischen« Demokratie und zur Abstützung der unter dem Begriff der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« im formal rechtsstaatlichen Sinne umgedeuteten

demokratischen Idee. Die Berufung auf die Theorie der »totalitären Diktatur« diente zugleich als theoretische Abstützung der Ausklammerung der Periode des Dritten Reiches aus der Kontinuität der deutschen Geschichte, die bereits Friedrich Meinecke in seiner Deutschen Katastrophe 1946 postulierte und die sich in der Phase der Kanzlerdemokratie auf breiter Front durchsetzte. Die Interpretation des Dritten Reiches als ein dem deutschen Volk aufgezwungenes Willkürregime, das auf die dämonische Verführungskunst Hitlers und seine erfolgreiche Manipulation »atomisierter Massen« zurückgeführt wurde, enthielt eine indirekte Exkulpierung der vorwiegend konservativ eingestellten Funktionselite, deren maßgebende Mitverantwortung für die Entstehung und Stabilisierung der nationalsozialistischen Diktatur dadurch in den Hintergrund trat. Sie entsprach der von Hermann Lübbe als Mittel der psychologischen Selbstbehauptung gerechtfertigten Verdrängung der verbrecherischen Politik des Dritten Reiches.1

Diese schlug sich in der Unterlassung der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen durch die bundesrepublikanische Justiz nieder. Sie kam erst in Gang, als der Ulmer Einsatzgruppen- und der Eichmannprozeß einen verstärkten Druck der ausländischen Öffentlichkeit auf die Bundesregierung hervorriefen. Die Deutung des Nationalsozialismus als Resultat der »Stimmzetteldemokratie« hielt sich bis tief in die fünfziger Jahre hinein. Noch heute gehört die These, daß der Aufstieg der NSDAP in erster Linie der Massenarbeitslosigkeit der frühen dreißiger Jahre zuzuschreiben sei und die »Machtergreifung« ohne die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise undenkbar gewesen wäre, zum klassischen Repertoire konservativen Geschichtsdenkens.

Es ist bezeichnend, daß die Weimarer Republik in den unmittelbaren Nachkriegsjahren als von vornherein gescheitertes Experiment betrachtet wurde; erst mit dem Erfolg der Kanzlerdemokratie hellte sich dieses Bild auf und wurde die Weimarer Erfahrung zur zusätzlichen Legitimierung der Bundesrepublik herangezogen, wobei freilich die prinzipielle Überlegenheit der Bonner Republik stets herausgestellt wurde. Dabei muß nachdenklich stimmen, daß von der politischen Rechten die Bundesrepublik herablassend als »demokratischste« und »freiheitlichste« Verfassungsordnung attributiert zu werden pflegt, gegen die Kritik von links allemal unstatthaft sei.

Für die innenpolitische Profilierung konservativer Positionen gewann die im Alleinvertretungsanspruch kulminierende Pauschalablehnung der DDR eine zentrale Bedeutung. Der Wiedervereinigungsanspruch wurde überwiegend innenpolitischen Zwecken dienstbar gemacht, bis sich herausstellte, daß dies bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Widerspruch stieß, die die durch Brandt eingeleitete Ostpolitik mit Erleichterung aufnahm. Die Nichtanerkennung der DDR und deren Funktion als Gegenklischee zur »freiheitlich-demokratischen Grundordnung« hatten zur Folge, dass die als Konstante betrachtete nationale Solidarität der Westdeutschen mit der Bevölkerung der DDR zunehmend ausgehöhlt wurde. In gleichem Maße verlor die nationalstaatliche Tradition des Kaiserreiches an psychologischer Bindekraft. Für große Teile der westdeutschen Bevölkerung, insbesondere die nachwachsenden Generationen, erwies sich die Berufung auf die Bismarcksche Reichsgründung als historisch blind und versiegte als Legitimationsquelle des gesamtdeutschen Anspruchs.

Das Dilemma konservativer Politik besteht nicht zuletzt darin, durch die Fixierung auf den Wiedervereinigungsanspruch an der Artikulierung spezifisch nationaler Interessen der Bundesrepublik gehindert zu sein. Die Reservierung des Begriffs der Nation für beide deutschen Staatsvölker verleiht jedem Versuch, an nationale Gesinnung zu appellieren, eine Ambivalenz und wirft die Frage der Abgrenzung gegenüber rechtsnationalistischen und neofaschistischen Tendenzen auf. Die in den letzten zwei Jahrzehnten anwachsende neokonservative Publizistik vermischte den Anspruch auf die Rückkehr zur »deutschen Nation« vielfach mit schwerlich einlösbaren Revisionsforderungen. Die Abgrenzung zu eindeutig neofaschistischen Positionen erwies sich als fließend. Ein Vergleich der Veröffentlichungen des von Ministerpräsident a.D. Hans Filbinger gleichsam als Alterssitz geleiteten Studienzentrums Weikersheim e.V. mit den Beiträgen der Deutschen Nationalzeitung macht dies allzu deutlich.

Die von der neuen Rechten propagierte Revisionspolitik war schwerlich mit der Festschreibung des deutschlandpolitischen Status quo zur Deckung zu bringen, die die Bundesregierung als Satellit im Atlantischen Bündnis, aber auch mangels konkreter Alternativen zu treiben gezwungen war. Desgleichen wagten sich neokonservative Autoren mit der Kritik an der alliierten Umerziehung in den Jahren nach 1945 zu weit vor, als daß dies mit dem Fortbestand des einvernehmlichen politischen Verhältnisses mit den Vereinigten Staaten verträglich erschien.

Abgesehen von den mit schöner Regelmäßigkeit stattfindenden Beschwörungen gesamtdeutscher Visionen, die ihren peinlichsten Höhepunkt mit dem Besuch des Schlesiertreffens durch Bundeskanzler Helmut Kohl fanden, blieb der konservativen Politik die Zuflucht zu betont nationalen Positionen versperrt. Die weitgehend politisch steril gewordene Debatte über die deutsche Frage verlagerte sich daher nicht zufällig auf die Ebene konfligierender Geschichtsbilder. Für das Selbstverständnis der überwiegend auf Wirtschaftswachstum ausgerichteten Bundesrepublik blieb bis zum Ende der sechziger Jahre kennzeichnend, daß der historischen Legitimitätsfrage zunächst untergeordnetes Gewicht beigelegt wurde. Die Auseinandersetzung mit der kritischen Linken veränderte dies und führte nun zu dem Ruf nach einer Intensivierung der historischen Bildung, von der sich die CDU/CSU eine Abstützung des gefährdeten innenpolitischen Konsenses erhoffte. Größere Bedeutung erhielt die Legitimationsdebatte jedoch erst seit der Proklamation der Politik der »Wende«. Es erwies sich rasch, daß die Wiederanknüpfung an Auffassungen der fünfziger Jahre keine hinreichende Resonanz in der öffentlichen Meinung besaß.

Nachdem die Schonfrist beendet war, die der Regierung Kohl/Genscher erlaubte, sich auf Kosten des in den letzten Amtsjahren Bundeskanzler Helmut Schmidts innerlich zerstrittenen sozial-liberalen Kabinetts zu profilieren, trat der Mangel eines integrativen politischen Konzepts offen zutage, das der »Wende«-Politik den Makel bloßer Restauration nahm. Gegenüber der sozialliberalen Reformpolitik und dem Programm, »mehr Demokratie zu wagen«, vermochte die neue Regierung sich nur auf ein höheres Maß wirtschaftspolitischer Verläßlichkeit zu berufen. Zwar fehlte es nicht an Anstrengungen rechtsstehender oder zur Rechten übertretender Intellektueller, dieses ideologische Vakuum zu füllen, und sie scheuten nicht vor Anleihen bei den amerikanischen Neokonservativen zurück. Aber letztlich vermochten diese von einer betont konservativen Kulturpolitik begleiteten Bemühungen keine langfristige Perspektive zu zeichnen, die geeignet war, der vordringenden nackten Interessenpolitik einen ideologischen Deckmantel zu verschaffen.

Exakt in dieser Konstellation verschärfte sich der bis dahin eher schwelende Streit um die Konturen des westdeutschen Geschichtsbilds. Während dieser sich zuvor im wesentlichen in der Klage über die angeblich weit verbreitete Geschichtsverdrossenheit der westdeutschen Bevölkerung niederschlug, füllte er sich nunmehr inhaltlich auf. Im Mittelpunkt stand die Bewertung der Geschichte des Dritten Reiches, für die die Gedenkfeiern zu dem von außen aufgedrängten und von der Bundesregierung zunächst nur widerwillig akzeptierten 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation den äußeren Anlaß gaben. Die Ungeschicklichkeiten der Bundesregierung anläßlich des Besuchs von Präsident Reagan in Bitburg machten überraschend klar, daß die Belastungen des Zweiten Weltkrieges nach wie vor traumatische Bedeutung besaßen. Sie störten die Dramaturgie des Bitburg-Spektakels, das unter der Fiktion der endgültigen Versöhnung zwischen Bundesgenossen den Kreuzzugsgedanken der Alliierten gegen die Hitler-Diktatur durch den Kreuzzugsgedanken gegen die kommunistische Weltherrschaft ersetzen sollte. Folgerichtig wurde in den offiziellen Reden der Zweite Weltkrieg in die Reihe der Normalkriege zurückgedrängt und erschien das Dritte Reich als eine tragische, aber angesichts der Bedrohung durch die bolschewistische Aggression begreifliche Verstrickung.

 

Die an die Bitburg-Episode anschließenden innerpolitischen Auseinandersetzungen machten deutlich, daß die bis dahin in der Politischen Bildung und den Geschichtslehrbüchern tonangebende Sicht der nationalsozialistischen Periode keine hinreichende Verbindlichkeit mehr besaß. Letztere war von der problematischen Annahme der inneren programmatischen Konsequenz der Herrschaftsideologie Hitlers geprägt, die mit dem ursprünglich gerade nicht personalistisch gewendeten Totalitarismus-Theorem kombiniert worden war. Die Hervorhebung Hitlers als maßgeblichem Initiator der verbrecherischen Politik des NS-Regimes entsprang einerseits dem Reflex auf die schon vor der Machteroberung in den herrschenden Eliten prädominierende, 1945 bitter enttäuschte Annahme, dass Hitlers gutwillige Absichten von seinen Unterführern in das Gegenteil verkehrt worden seien – eine Sehweise, die in dem Maße zur nationalen Notlüge wurde, in dem der Diktator das Monopol nationaler Identifikation usurpierte, wodurch jede Abkehr vom »Hitler-Kult« als antinational gebrandmarkt war; andererseits zielte der Hitlerismus darauf ab, die konservativen Führungsgruppen moralisch zu entlasten, indem die Komplexität des innen- und außenpolitischen Entscheidungsprozesses als bloßes Derivat des omnipotenten Führerwillens hingestellt wurde. Das ermöglichte die für die ersten Nachkriegsjahrzehnte bestimmende pauschale Ablehnung des Dritten Reiches als einer Art geschichtlichem Fremdkörper.

Die Ursachenanalyse verlagerte sich demzufolge auf die Fehleinschätzungen des Nationalsozialismus durch Parteien und Interessengruppen vor 1933. Hingegen verzichtete man auf die Aufschlüsselung der unterschiedlichen und häufig inhomogenen Motivationen, die insbesondere die Vertreter der oberen Mittelschicht zur Loyalität gegenüber Hitler auch dann bewogen, wenn sie der NSDAP und SS, insbesondere, wie es charakteristischerweise hieß, den »Methoden« Himmlers, Heydrichs und Goebbels innerlich ablehnend gegenüberstanden. Daß auch das Dritte Reich unter der Decke der monolithischen Stilisierung durch einen offenen politischen Prozeß geprägt war, trat darüber zurück.

Hingegen suchte man die »Schuld« für die Katastrophe der Weimarer Demokratie bei der extremen Opposition von »links« und »rechts«, die die politische Mitte von Weimar erdrosselt hätte. Das außenpolitische Pendant für diese bequeme und didaktisch allzu leicht zu handhabende Modellerklärung bestand in der grotesken Schlußfolgerung, der britischen Appeasement-Politik, insbesondere den englischen Pazifisten der dreißiger Jahre, die Verantwortung für die verhängnisvolle Eskalation der nationalsozialistischen Gewaltpolitik anzulasten. Die Bewertung des Dritten Reiches als in sich kontingentes, mit der Weimarer Republik nur bedingt in Verbindung stehendes Geschehen spiegelte sich auch in der von konservativen Historikern vollzogenen Gleichsetzung der Oktoberrevolution mit der in Übernahme des nationalsozialistischen Vokabulars als »revolutionäre« Erhebung apostrophierten Machteroberung. Tendenziell wurde die Geschichte des Dritten Reiches zum schicksalhaften Verhängnis stilisiert, aus dem es kein Entrinnen gab, von dem aber auch konkrete politische Impulse auf die Gegenwart nicht ausgehen. Ebenso reagierte man auf Judenverfolgung und Holocaust primär mit moralischer Betroffenheit und beließ die damit verknüpften, von der westdeutschen Forschung nur unzulänglich aufgearbeiteten Vorgänge auf der Ebene einer bloß traumatischen Erfahrung. Bundeskanzler Kohl faßte die darin sichtbar werdende politische Folgenlosigkeit der nationalsozialistischen Erfahrung in die Formel von der »Gnade der späten Geburt«.

Exakt gegen die allenthalben hervortretende Tendenz, »die Hypotheken einer glücklich entmoralisierten Vergangenheit abzuschütteln« (Jürgen Habermas), richtet sich Martin Broszats Plädoyer für eine »Historisierung« des Nationalsozialismus.2 In der internationalen wie in der westdeutschen Zeitgeschichtsschreibung hat sich eine weit offenere Sicht des Dritten Reiches seit längerem durchgesetzt, die sich vor allem von der ursprünglich vorherrschenden dualistischen Interpretation freimachte, welche dem Terrorzentrum des SS-Staates die Traditionen des »anderen Deutschland« gegenüberstellte und sich im übrigen einem ideologiegeschichtlichen Determinismus verschrieb. Bezeichnenderweise waren es gerade außenpolitische Forschungen, insbesondere die grundlegenden Arbeiten Andreas Hillgrubers, die den Blick für die Kontinuitäten der deutschen Politik vom Spätwilhelminismus bis zur Kapitulation öffneten. Zugleich trat immer deutlicher hervor, daß die Verfügbarkeit weiter Teile der überwiegend konservativ orientierten Funktionseliten für die Politik des NS-Regimes weniger auf ideologischer Indoktrination als vielmehr auf den dann von diesem nur unzureichend eingelösten Versprechen beruhte, die im Zuge der vorschreitenden gesellschaftlichen Nivellierung eingetretenen Statuseinbußen wieder rückgängig zu machen.

Es ist kennzeichnend, daß diese von der konkreten Forschung längst aufgegriffene Linie in der Bundesrepublik weniger mit fachwissenschaftlichen als mit ordnungspolitischen Argumenten bekämpft wird. Die hochemotionalisierte Debatte über die Frage, ob es eines förmlichen Befehls Hitlers zur Implementierung der Genozidpolitik bedurfte, beleuchtet diese bis an die Schwelle des Agnostizismus reichende Tendenz zur Verweigerung unbequemer, weil nicht einfach ideologisch kompensierbarer Tatsachen. Dies ließe sich analog mit der Erforschung des Widerstands gegen Hitler belegen, die bei abflauendem inhaltlichen Interesse der Entmythologisierung geziehen wird, wofür keinerlei Berechtigung besteht. Gleichwohl zeichnet sich nicht zuletzt angesichts der Einstellung der jüngeren Generation, welche sich schwerlich mit einer Deutung der nationalsozialistischen Periode abspeisen läßt, die diese primär auf eine schicksalhafte Verstrickung zurückführt, eine zunehmende Aufweichung des erstarrten NS-Bildes ab.

Folgerichtig tendieren konservative Fachvertreter dazu, an die Stelle der Ausklammerung des Dritten Reiches aus der geschichtlichen Kontinuität dessen geschichtliche Relativierung treten zu lassen. Mit der Forderung, den Nationalsozialismus in größere geschichtliche Zusammenhänge einzuordnen, stimmt Ernst Nolte mit stärker progressiv eingestellten Historikern überein, ebenso in der Warnung vor »volkspädagogisch« motivierten Tabus. Wenn er indessen den Genozid als bloße psychologische Gegenreaktion auf den als »asiatische Tat« hingestellten »weißen Terror« Lenins begreift und in die Tradition der »Tyrannei kollektivistischen Denkens« einreiht, die er mit der »entschiedenen Hinwendung zu allen Regeln einer freiheitlichen Ordnung« beantwortet sehen will,3 bewegt er sich jedoch in ein Feld, in dem alle irgendwie gegen den Bolschewismus gerichteten Handlungen als solche gerechtfertigt erscheinen und jede konkrete politische Verantwortung hinter epochenspezifisch bedingten Dispositionen verschwindet.

Mag man diese Argumentation als inakzeptable ideengeschichtliche Konstruktion ohne eigentliche politische Absicht begreifen, die ihm wegen seiner relativen Rechtfertigung der Deportation der Juden und der Betrachtung von Auschwitz als bloßem Auswuchs einer anomalen politischen Konstellation schon vor Jahren den Vorwurf eines »gewöhnlichen deutschen Nationalisten« (Felix Gilbert) eintrug, so gilt dies nicht für die Schützenhilfe, die er von seiten konservativer Fachvertreter in dieser Frage erhält. Klaus Hildebrand ist Nolte in dieser Sehweise ausdrücklich zur Seite getreten, indem er die vorher zäh behauptete Singularität des Nationalsozialismus (diese zu mißachten war bekanntlich der Standardvorwurf gegen die Verfechter der vergleichenden Faschismus-Theorie) preisgab.4

Ähnlich plädierte Michael Stürmer, der sich hierbei auf Franz Oppenheimer als unverdächtigen Zeugen bezog, welcher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die Deutschen dazu aufrief, sich endlich vom traumatischen Ballast dieses Teils ihrer Vergangenheit zu lösen, gegen das Festhalten an der »kollektiven deutschen >Schuldbesessenheit<«.5 Es verwundert nicht, daß diese neue Sicht der Dinge wohlmeinenden Applaus aus Washington findet. In einem Jenseits der Stunde Null: Die Schaffung einer staatsbürgerlichen Kultur im Nachkriegsdeutschland betitelten, anläßlich eines Nürnberger Symposiums gehaltenen Vortrag beschwor am 23. Mai 1986 der US-Botschafter in Bonn, Richard Burt, die Deutschen, ein größeres Selbstbewußtsein und höheren Nationalstolz im Hinblick auf ihre Leistungen seit 1945, die ihre Wurzeln in der nationalen Geschichte hätten, zu entfalten. Für ihn, betonte Burt, gebe es eine »Stunde Null« nicht: der Mai 1945 bedeute vielmehr nur »die Wiederbelebung und Konsolidierung der deutschen Demokratie«, die in Weimar vor allem infolge widriger ökonomischer Verhältnisse und ohne innere Notwendigkeit gescheitert sei. Die Deutschen müßten sich von »der Tragödie der Zeit von 1933-1945« freimachen und sich auf die positiven Elemente der deutschen Geschichte besinnen, die seit jeher demokratische Züge getragen habe.

Die Washingtoner Ermahnungen, endlich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte, wie bei anderen Nationen auch, ins reine zu bringen, lassen aufhorchen. Sie berühren sich mit der Besorgnis des von Burt ausdrücklich angeführten Michael Stürmer, daß ohne eine Konsolidierung des deutschen Geschichtsbilds die außenpolitische Bindung der Bundesrepublik an den Westen in Frage gestellt sei. Sie stehen zugleich im Zusammenhang mit seiner Klage über die angebliche »Geschichtslosigkeit« der Bundesrepublik und seiner Forderung, das verlorene Terrain aufzufüllen. Nur durch die vermittels der Historiographie bewirkte kollektive Sinnstiftung könne der gefährdete innenpolitische Konsensus langfristig gesichert werden. Die Alternative sei, betont Stürmer, daß der Konflikt zwischen gegensätzlichen Interessen und Werthaltungen, »wenn er keinen gemeinsamen Boden mehr finde«, notwendigerweise »früher oder später zum sozialen Bürgerkrieg« führen müsse.6

Damit wird der instrumentale Charakter der von den Regierungsparteien geforderten Restituierung »der tausend Jahre heiler Geschichte jenseits des Nationalsozialismus« (so eine CDU-Äußerung von 1978 zur Reform des Geschichtsunterrichts) offen aufgedeckt. Man wird der westdeutschen Geschichtswissenschaft als ganzer schwerlich unterstellen können, sich dieser politisch motivierten Tendenz zu verschreiben. Dazu ist sie trotz starker konservativer Prägung zu apolitisch eingestellt. Wohl aber kommt sie einer breiten Strömung innerhalb des Faches entgegen, die dem Trend zur Sozial- und Regionalgeschichte und der Alltagsforschung skeptisch gegenübersteht und zur klassischen Politik- und Ideengeschichte zurücktendiert.

Es ist schwer abzuschätzen, inwieweit die vor allem von Stürmer und Hildebrand verfochtene neorevisionistische Tendenz Zustimmung finden wird. Jedenfalls dürfte deren technokratische Instrumentalisierung auch bei konservativ eingestellten Fachvertretern auf Ablehnung stoßen, wenngleich bei ihnen, wie im Falle Hillgrubers, eine gewisse Affinität zu einer stärkeren Betonung nationaler Faktoren anzutreffen ist. Dessen historiographische Zuordnung von Vertreibung und Holocaust unterstützt indirekt die von den erstgenannten offensiv beschrittene Ebene der Relativierung der Verbrechen des Dritten Reiches und läßt mit der Forderung »einer Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte« revisionistische Mißverständnisse zu.7 Siehe Andreas Hillgruber, Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums. Berlin: Siedler 1986: »Ob über regionale Ansätze im Westen Europas hinaus jemals eine Rekonstruktion der zerstörten europäischen Mitte – als Voraussetzung für eine Rekonstruktion ganz Europas oder aber als Konsequenz einer in Gang kommenden Rekonstruktion des ganzen Europa – möglich sein wird«, sei auch heute offen. Habermas‘ Kritik Eine Art Schadensabwicklung in: Die Zeit vom 11. Juli 1986 schießt bezüglich Hillgruber über das Ziel hinaus.

Indem die Vertreter des Neorevisionismus die Erfahrungen des Dritten Reiches ausschließlich als nationale Bürde betrachten und die Betroffenheit über die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft überwiegend der Kategorie der »Schuld« zuordnen, verstellen sie in der Tat einer angemessenen Verarbeitung dieser Epoche den Weg. Das Schlagwort von der »kollektiven Schuldbesessenheit« lenkt, abgesehen von seiner apologetischen Tendenz, von den tatsächlichen Konsequenzen ab, die nicht primär moralischer, sondern politischer Natur sind.

Wenn es 1986 in einer Denkschrift des Bundesbauministers zur Errichtung des Hauses der Geschichte in Bonn heißt, der »Hypothek des Dritten Reiches« müsse das »Kapital weit zurückreichender parlamentarischer und demokratischer wie insbesondere auch föderalistischer Traditionen« der deutschen Geschichte gegenübergestellt werden, als ließe sich die jüngste Vergangenheit mit einfachen Aufrechnungsschritten neutralisieren, belegt dies nur, daß die konstitutive Bedeutung der Erfahrungen der nationalsozialistischen Epoche für das historischpolitische Selbstverständnis der westdeutschen Gesellschaft schlicht geleugnet wird.

Tatsächlich aber entspringt dieser Erfahrung die Einsicht, am parlamentarisch-demokratischen Prinzip festzuhalten und rechtsstaatliche Grundsätze selbst um den Preis verringerter staatlicher Effizienz zu verteidigen. Denn nur vor dem Hintergrund der Auflösung des staatlichen Normen- und Institutionengefüges war der Absturz in eine durch zynische Menschenverachtung und Gewaltanwendung ohne Grenzen geprägte politische Struktur denkbar, die durch die bis in die spätimperialistische Phase zurückreichende Einübung der deutschen Eliten in eine zunehmende moralische Indifferenz zusätzlich begünstigt wurde. Die eben nicht erst im Nationalsozialismus vollzogene Wendung gegen westliche Verfassungstraditionen, die unter Beschwörung des nationalen Machtstaatsgedankens und antikommunistischer Ressentiments erfolgte, hat Hitler den Weg frei gemacht; eben nicht so sehr die Fortwirkung älterer demokratischer Traditionen begründet den demokratischen Konsensus in der Bundesrepublik.

Das in der Bundesrepublik unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit anzutreffende Mißtrauen gegen jedweden staatlich verordneten Gemeinschaftskult, gegen Appelle an die nationale Opferbereitschaft, gegen nationales Pathos und nationale Embleme wurzelt in der politischen Ernüchterung, die unweigerlich der Bilanzierung der Erfahrungen im Dritten Reich entsprang. Wer immer darin einen Mangel vaterländischer Gesinnung erblicken will, sollte sich darüber klar sein, daß es gleichwohl nicht an einer bemerkenswerten Bereitschaft zu demokratischer Partizipation fehlt, obwohl diese vielfach außerhalb der personell verfilzten Bahnen der großen Parteien tätig wird. Wenn Theodor Mommsen in seinem Politischen Testament den Deutschen verbittert vorwarf, über den »Dienst im Gliede« nicht hinauszugelangen, hat sich dies, trotz einer wachsenden Neigung zu äußerer Anpassung, in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend geändert. Dies spiegelt sich auch im Mißtrauen gegen die Ausweitung staatlicher Kontrollapparate, des Datenaustausches und der polizeilichen Überwachung, wenngleich Anzeichen der Resignation unübersehbar sind.

Es ist daher absurd, durch die historische Relativierung des Nationalsozialismus ältere obrigkeitsstaatliche Einstellungen wieder hoffähig machen zu wollen und die an den Fehlentwicklungen der Zwischenkriegszeit, die ja keineswegs die deutsche Nation allein betreffen, abgelesenen Handlungskonsequenzen als Irrweg hinzustellen. Die pazifistische Grundströmung, die sich jüngst in der allgemeinen Kritik an dem libyschen Kommandounternehmen der Vereinigten Staaten geltend machte, mag zwar der Regierung unbequem sein, ist aber die notwendige Konsequenz aus den Erfahrungen zweier Weltkriege, denen aus heutiger Perspektive jede innere Rechtfertigung mangelt. Der Rüstungswettlauf der Weltmächte begegnet daher in beiden Teilen Deutschlands unverhülltem Mißtrauen.

Dies hat nicht das geringste mit der Annahme zu tun, daß die Deutschen durch die »Erinnerung an vergangenes Unrecht« daran gehindert seien, ihre wahren Interessen zu vertreten. Umgekehrt sind sie dadurch erst in die Lage versetzt, diese zu erkennen und indoktrinären Einflüsterungen, von welcher Seite sie immer kommen, mit Skepsis zu begegnen. Die weitgehende Zurückdrängung nationalistischer Ressentiments, die zu einer Normalisierung des Verhältnisses zu den Nachbarvölkern geführt hat und selbst die Ausländerfeindschaft eng begrenzt, wird von konservativer Seite als potentielle Gefahr politischer Stabilität und als angeblicher »Identitätsverlust« qualifiziert. Indessen sind es nicht primär nationale Gefühle, sondern interessenpolitische Motive, die Neokonservative wie Michael Stürmer zu erwägen geben, dass mit dem Verlust der religiösen Bindungen allein »von Nation und Patriotismus« (Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage) klassenübergreifende Konsensstiftung ausgehen könne. Die Hilflosigkeit des Neorevisionismus wird an diesem Punkt deutlich. Denn beide Größen sind nur um den Preis, die Kontrolle darüber zu verlieren, manipulierbar, wie die Geschichte der Weimarer Republik eindrücklich zeigt. Zudem ist die Ausfüllung des von neorevisionistischer Seite erhobenen nationalen Anspruchs notwendig diffus und politisch irreal.

Kennzeichnend für dieses Dilemma ist, daß die angestrebte Konsolidierung des Nationalgefühls auf dem Umweg über die Stärkung des Geschichtsbewußtseins vorgenommen werden soll. Dies ist der tiefere Sinn der Pläne der Bundesregierung, in Bonn und Berlin historische Museen einzurichten. Ginge es ihr darum, den demokratischen Konsensus durch die kritische Aufarbeitung der nationalen Geschichte zu verstärken, hätte sie schwerlich gezögert, in die von der Opposition angebotene Kooperation einzuwilligen.7

Wie selbstherrlich der Bundeskanzler in diesem Bereich vorgeht, beweist die ohne Rücksichtnahme auf die bereits konkretisierten Berliner Planungen zur Errichtung eines Forums für Geschichte und Gegenwart im Martin-Gropius-Bau beschlossene Gründung eines Deutschen Historischen Museums,8 das dem Land Berlin aus Anlaß des 750. Stadtjubiläums als »Geburtstagsgeschenk« eingerichtet und gebaut werden soll. Der in der Nähe des Reichstagsgebäudes geplante Museumsneubau soll, den Vorschlägen des vom zuständigen Bundesbauminister eingesetzten Sachverständigengremiums zufolge, die ganze deutsche Geschichte vom 9. Jahrhundert bis zur Gegenwart zur Anschauung bringen.

Wie stark äußerer Repräsentationswille und neokonservative Interessen an einer Revitalisierung der deutschen Nationalgeschichte ineinanderfließen, erhellt aus den Vorbildern, die vom mexikanischen Nationalmuseum in Mexico City, dem Diaspora-Museum in Tel-Aviv, dem Air-and-Space-Museum in Washington bis zum Centre Pompidou in Paris reichen. Der Plan für ein historisches Mammutmuseum in West-Berlin, das im Unterschied vom räumlich nur wenig entfernten Ostberliner Museum für deutsche Geschichte über keinerlei authentische Exponate verfügt, stellt trotz aller Sachkunde der daran bereitwillig mitarbeitenden Fachhistoriker letztlich ein künstliches Fossil des nationalstaatlichen 19. Jahrhunderts dar und soll das verwirklichen, was der deutschen Einheitsbewegung seit den Freiheitskriegen mißlang: die Stiftung eines repräsentativen nationalen Geschichtsbilds. Zwar hat sich die Sachverständigenkommission bei der Vorlage ihres ersten Konzepts darauf verständigt, keine »nationale Weihestätte« schaffen zu wollen und pluralistischen Geschichtsansichten Rechnung zu tragen, desgleichen keine Geschichte des deutschen Nationalstaats, sondern diejenige der Deutschen in Europa in wechselnden Grenzen auszuleuchten.

Was immer man angesichts der objektiven Zwänge des gewählten Mediums von derlei Versicherungen halten mag, jedenfalls wird von den Verantwortlichen der Bundesregierung ähnlich wie beim Bonner Haus der Geschichte die Absicht verfolgt, den Deutschen ihre nationale »Identität« gleichsam nachzuliefern. Während der Forums-Gedanke unterschiedlichen Sehweisen und Interpretationen offen war, wird das Deutsche Historische Museum unweigerlich zu einer bildungsbürgerlichen Veranstaltung und zugleich zu einer Selbstdarstellung des fachhistorischen Metiers geraten. Die Zuflucht zum Museum, zur abgeschlossenen Präsentation der nationalen Überlieferung, ist in doppelter Weise für die Absichten der Bundesregierung und der ihr nahestehenden beratenden Fachhistoriker kennzeichnend. Nicht Problematisierung durch Forschung, sondern Bilanzierung ist gefragt. Zugleich geht es darum, die Geschichte der Zwischenkriegszeit auszudünnen. In Bonn fungiert sie als schmal geratener Vorspann, in Berlin umfaßt sie weniger als ein Zehntel der Ausstellungsfläche. Beide Vorhaben zielen auf Flucht in vergangene Normalität.

In beiden Fällen soll ein historisch gegründetes Wertbewußtsein vermittelt werden, das die Bundesrepublik wieder in die Lage versetzt, sich den Wegen nationaler Machtpolitik zu nähern, zwar nicht, wie seit den Tagen Bismarcks, als stärkste Führungsmacht in Europa, wohl aber als »Mittelstück im europäischen Verteidigungsbogen des atlantischen Systems« (Michael Stürmer). Dazu bedarf es in der Tat eines neuen Geschichtsbilds, das das Menetekel der nationalsozialistischen Epoche in den Wind schlägt und die Erfahrungen des Holocaust und des Unternehmens Barbarossa unter dem Stichwort der »Normalisierung« vergessen machen will. Mit dem im Nachkriegsdeutschland schrittweise herangewachsenen Geschichtsverständnis, das abseits von der klassischen Monumentalhistorie und vielfach unabhängig von der Fachwissenschaft entstanden ist, hat dieses Vorhaben nichts zu tun.



Weitere Beiträge der Reihe Zweite Lesung.


FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Vergleiche Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein. In: Historische Zeitschrift, Nr. 236,1983.
  2. Martin Broszat, Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus. In: Merkur; Nr. 435, Mai 1985.
  3. Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. In: FAZ vom 6. Juni 1986; außerdem: Between Myth and Revisionism. The Third Reich in the Perspective of the 1980s. In: Hans W. Koch (Hrsg.), Aspects of the Third Reich. London: Macmillan 1985.
  4. Siehe die Besprechung von Noltes Beitrag in der Historischen Zeitschrift, Nr. 242,1986.
  5. Siehe den Leserbrief Stürmers in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Juni 1986.
  6. Michael Stürmer, Kein Eigentum der Deutschen: die deutsche Frage. In: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Die Identität der Deutschen. München: Hanser 1983.
  7. Vergleiche Hans Mommsen, Verordnete Geschichtsbilder? Historische Museumspläne der Bundesregierung. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 1, Januar 1986.
  8. Vergleiche Dieter Hoffmann-Axthelm, Geschichte ohne Ort und Schatten. Deutsches historisches Museum in Berlin. In: Die Neue Gesellschaft, Nr. 7, Juli 1986.

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