Merkur, Nr. 312, Mai 1974

25 Jahre Bundesrepublik— Elemente einer Bilanz
Diese gelungene Republik

von Hans Schuster

 

Der Titel mag provokant erscheinen. Soll man, darf man wirklich von einer gelungenen Bundesrepublik sprechen? Das Jubiläumsjahr 1974 begann in einem Stimmungstief. Die Ausblicke vor dem fast idyllischen Hintergrund der autofreien Sonntage um die Jahreswende waren düster eingestimmt, einige fatalistisch bis apokalyptisch. Krisenfurcht, Unsicherheit, Ungewißheit, wie »alles weitergehen soll«, beherrschen seitdem die Szene. Politiker, Professoren, Publizisten verbreiten mit wahrer Lust am Untergang diese Stimmung, kokettieren mit einem Gespenst, das da im Westen umgehen soll: Krise der Demokratie, ja — so James Reston — Weltkrise der Demokratie. Mit der demokratischen Apparatur des vorigen Jahrhunderts ließen sich die Probleme der Gegenwart und Zukunft nicht mehr bewältigen, heißt es; der Staat werde zum Spielball »fremder Interessen« oder »aktiver Minderheiten«. Schwächen von Regierungen werden in Schwächen des Staates, ja des Systems umgedeutet.

Ein Gespenst geht um in Westeuropa — ein weniger auf Analysen als auf Stimmungen beruhender Verzagtheitskomplex, der, wenn er Schule machte, irrationale Strömungen und Sehnsüchte nach autoritärer Erlösung wecken und schließlich zum Beispiel für eine self-fulfilling-prophecy werden könnte.

 

Gespensterreigen

Die Gründe für das Tief sind bekannt. Erstens: In der Folge des Nahostkrieges ist die schon lange schwelende Energiekrise für jedermann sichtbar an den Tag gekommen. Zum ersten Mal haben Millionen Bürger erfahren, was eine Stagflation ist: minimales Wachstum bei maximalen Preisen. Viele Wirtschaftsfachleute diagnostizierten schon eine neue Weltwirtschaftskrise, die erste seit den fatalen dreißiger Jahren. In der Tat liegt das Bedrohliche der Situation in der Parallelität der Krisenerscheinungen bei den westlichen Industrieländern.

Zweitens: Die Parallelität der Nöte fördert eine Tendenz, die das Übel an der Wurzel nur verschlimmert: Flucht in die Abkapselung vor der Weltwirtschaft, Rückfall in einen Wirtschaftsnationalismus und -dirigismus, der im Alleingang statt in verstärkter Kooperation noch einmal davonzukommen sucht. Die Entscheidung Frankreichs, sich aus dem europäischen Währungsblock und aus der atlantischen Kooperation herauszulösen, wurde als Schock empfunden. Steckt die Europäische Gemeinschaft heute in der schwersten Krise ihrer wechselvollen Geschichte? Die Angstvorstellung wächst, es könnte sich das Jubiläumsjahr 1974 als das Ende einer Nachkriegsepoche erweisen, in der den Deutschen in der Bundesrepublik wie nie zuvor in unserer Geschichte Wohlstand und Freiheit und Stabilität beschieden war.

Drittens: Zu den üblichen Begleiterscheinungen westlicher Krisen gehört die von Alt- und Neu-Marxisten genährte Erwartung, es ziehe nun die große, immer wieder vertagte Krise des Kapitalismus mit seinen unaufhebbaren Widersprüchen herauf. Trotz der externen politischen Anlässe der Energiekrise verkünden auch diesmal wieder Gegner der parlamentarischen Demokratie den vermeintlichen Fäulnisprozeß des kapitalistischen Systems. Und mag auch die von Moskau betriebene langfristige Kooperationspolitik mit dieser Einschätzung des Kapitalismus nur schlecht vereinbar sein — der Anreiz für einzelne Gruppen am linken Rande des politischen Spektrums, bei dieser Gelegenheit einige Durchbrüche zur Überwindung des gesamten Systems zu erzielen, ist nicht zu verkennen. Wenn man die Sprecher der großen Fraktionen während der sogenannten Verfassungsdebatte im Bundestag hörte, konnte gar der Eindruck entstehen, als sei unsere Verfassung unmittelbar bedroht, das parlamentarische System in ähnlicher Gefahr wie in den dreißiger Jahren. Aber nicht nur die »Polarisierung«, die Eskalation der Extreme wird befürchtet; jede Straßenschlacht verstärkt die Resignation bei breiten Mittelschichten. Immer mehr Bürger sind enttäuscht, daß ihr Staat nicht mehr dafür tut, um seine Institutionen vor Mißbrauch zu schützen. Enttäuschung verstärkt die Ungewißheit.

Viertens: In einem Augenblick, da die Inflation durch die Energiekrise noch mehr Auftrieb erhält, verschärfen sich offensichtlich die Interessenkonflikte in einem ungeahnten Ausmaß. Ausgerechnet im Jubiläumsjahr mußte die Bundesrepublik die Erfahrung des ersten umfassenden Schwerpunktstreiks im öffentlichen Dienst machen. Es wächst die Furcht vor der teuflischen Spirale, daß jede Forderung zu einer Kettenreaktion weiterer Forderungen führt, mit der Folge einer fatalen Eskalation der Geldentwertung — bis zu zweistelligen Teuerungsraten. Weitere Folge: Autoritätsverlust des parlamentarischen Staates. Der Bürger wird Zeuge, wie die Regierung tatenlos, aber nicht folgenlos kapituliert vor den streikenden Dienern des öffentlichen Wohls.

 

Prognosen von gestern und vorgestern

Steht also die zweite Republik an einem Wendepunkt, hat sie den Kulminationspunkt ihres Selbstbewußtseins und ihrer Stabilität womöglich schon überschritten? Oder befinden sich ihre Bürger nur in einem Stimmungstief, lassen sie es an der Gelassenheit fehlen, mit der z. B. die Engländer kritische Situationen durchzustehen vermögen? Schon manches Mal waren der Bundesrepublik und ihrem Grundgesetz düstere Prognosen gestellt worden, mit höchst widerspruchsvoller Begründung. Fürchteten die einen die Entwicklung zum autoritären, ja faschistoiden Ein-Partei-Staat, beklagten die anderen die fortschreitende Aushöhlung des Staates im pluralistischen Getriebe und das Überhandnehmen anarchischer Tendenzen. Schlimme Gefahren von rechts und ernste Bedrohungen von links wurden im Wechsel beschworen.

Die Furcht vor innerer Auszehrung der parlamentarischen Demokratie durch einen öden Konformismus wurde abgelöst von der Angst vor systemsprengender Polarisierung. Frei nach Talleyrand: Wer lange genug gelebt hat, hat alle Ängste kennengelernt und auch alle Gegen-Ängste.

Indessen nahm das einst so umstrittene Provisorium Bundesrepublik immer festere Formen an. Gezeugt von den westlichen Schutzmächten, geboren ohne direkte Beteiligung des Wählervolkes, aufgewachsen im Zeichen des Kalten Krieges, gewann es allmählich im Alltag eines täglich wiederholten Lernprozesses der Bürger eine Legitimationsgrundlage, die der ersten, der Weimarer Republik bekanntlich versagt geblieben war (obwohl sie das Werk einer vom Volke gewählten Nationalversammlung war, in einem zwar stark reduzierten, aber ungeteilten Reich). Fast möchte man von einer periodisch auftretenden Urangst sprechen, wenn 25 Jahre nach der Gründung dieses Staates sich von neuem die schon abgegriffene Frage stellt, ob Bonn am Ende doch noch »Weimar« werde (obwohl diese Republik schon fast so alt geworden ist, wie das Weimarer und das Hitler-Reich zusammen); ob der parlamentarische Parteienstaat wirklich sturmfest sei oder sich in ernster Krise der Überflußgesellschaft nur als »Schönwetterdemokratie« oder gar als »Wegwerfdemokratie« erweisen könnte.

Handelt es sich hier vielleicht um ein (psychologisch zu erklärendes) Kompensationsphänomen? Paradoxerweise kamen die Zweifel an der Krisenfestigkeit der zweiten Republik ja erst in den schon legendären Jahren des Wirtschaftswunders auf. Vorher lag der Gedanke an eine Schönwetterdemokratie schon deshalb fern, weil die politische Großwetterlage alles andere als freundlich war. Nicht nur, daß der dreifache politische Notstand des Kalten Krieges, der Teilung Deutschlands und der Blockade Berlins überhaupt erst zur Gründung des »Weststaates« Bundesrepublik führte. Diese Schöpfung wurde selbst von einigen ihrer Väter nur unter mancherlei Skrupeln als »Provisorium« akzeptiert oder, wie Theodor Heuss später formulierte, als Transitorium zu einem voll in sich ruhenden, normalen Staat. Jahre hindurch war das bundesrepublikanische Staatsbewußtsein gespalten: Die einen fürchteten die Verhärtung der deutschen Teilung durch das Definitivum einer Staatsgründung; sie sahen die Legitimitätsgrundlage des Staates gerade in seinem provisorischen, auf »freie Selbstbestimmung« aller Deutschen in allen Zonen angelegten Charakter. Die anderen warnten vor einem solchen Staatsverständnis und sahen das gesamtdeutsche Schicksal am besten in einem selbstbewußten, ein eigenes Staatsbewußtsein entwickelnden Kernstaat aufgehoben. Heuss sprach von der »Herberge des Volksschicksals«.

Im Unterschied zur Weimarer Republik war die zweite deutsche Republik auch durch die Souveränitätsbeschränkungen des Besatzungsstatuts gekennzeichnet. Dieser Souveränitätsverzicht (der sich heute noch auf Berlin erstreckt) war aber paradoxerweise nicht nur als Mangel, sondern auch als Vorzug erschienen. In ihm lag vor allem die Garantie für die äußere Sicherheit während des Kalten Krieges. So wurde die Glasglocke der westlichen Schutzmächte nicht so sehr als Einschränkung der Souveränität beklagt, sondern vielmehr als Treibhaus für das Wachstum freiheitlicher Institutionen hingenommen.

Die Furcht, was aus der Bundesrepublik ohne diese Glocke werden könnte (Stichwort: Neutralisierung), beherrschte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre die innenpolitische Diskussion. Sie verlor erst an Schärfe, als durch die politische und militärische Integration in das westliche Bündnissystem gleichsam nahtlos ein Ersatz für die Sicherheit gewährende Souveränitätseinschränkung gefunden war. Diese Bedeutung der West-Integration — auch als Ersatz für die verlorene Nation — macht erst die tiefreichende Angst verständlich, die infolge des Zerwürfnisses der atlantischen und der europäischen Gemeinschaft neuerdings wieder um sich griff.

 

Legitimation durch Integration

Inmitten der relativ bescheidenen Nöte der Gegenwart ist auch die Erinnerung an die innenpolitischen Notstände in den Anfangsjahren der Bundesrepublik abhandengekommen. Wohnungselend, Heimatverlust und Arbeitslosigkeit waren lange Jahre hindurch bedrückender als heute. Das eigentliche »Wunder« der Nachkriegsjahre war die Integration von zehn Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen. Ende der fünfziger Jahre schon sprach niemand mehr von drohender Proletarisierung der Flüchtlingsheere; an nachrückende Gastarbeiter-Heere dachte damals noch keiner. Weder antagonistische Konfliktideologien noch Harmonie-Utopien standen hoch im Kurs, weder Klassenkampf noch Volksgemeinschaft.

Gewiß warnten von Anfang an konservative Verfassungsjuristen vor dem Aushöhlen der demokratischen Staatsautorität durch den pluralistischen Interessenstaat: Die immer mächtiger hervortretenden Kollektivgebilde der Parteien schöben sich selbstherrlich zwischen Wähler und Gewählte und zerstörten die Legitimitätsgrundlage der parlamentarischen Demokratie. Diese Kritiker übersahen dabei den bis dahin in Deutschland nicht erfahrenen Integrationseffekt der neuentstehenden offenen Volksparteien. Im gleichen Maße, in dem das Parteiensystem sich in einem Konzentrationsprozeß ohnegleichen in der deutschen Geschichte stabilisierte, verlor sich auch traditionelles Ressentiment gegen »die Parteien«; an seine Stelle trat mehr und mehr die nüchtern abwägende Distanz, ja seit 1972 sogar eine überraschende Hinwendung zu den Parteien in Form eines Mitgliederstroms unter starker Beteiligung der jungen Generationen. Diese anhaltende Tendenz zu einem Fast-Zwei-Parteiensystem mit seinem Integrationseffekt sollte die wichtigste Grundlage für die vielzitierte, überraschende Stabilität der Bundesrepublik werden.

Erst diese Form von Parteienstaat hat die Bewältigung der Nachkriegsnöte möglich gemacht. Es wäre auch falsch, diesen Konzentrationsprozeß nur als eine Folge von Wahlrechtsmechanismen anzusehen: Hätte sich nicht nach der Erfahrung mit dem Weimarer Parteiensystem das Bewußtsein der Bürger verändert, hätten wir auch heute — trotz Fünf-Prozent-Klauseln — eine Vielzahl von Fraktionen nach Weimarer Art (mit Ausnahme der Splitterparteien) in den Parlamenten. (Mit bloßen Wahlrechts-Krücken wäre auch die Weimarer Demokratie nicht zu retten gewesen.) Trotz des Verhältniswahlrechts, das viele noch in den fünfziger Jahren als Grundübel mit desintegrierender Wirkung ansahen, hat sich dieses Parteiensystem konsolidiert. Es hat wesentlich dazu beigetragen, die nach dem Fraktionswechsel einiger Abgeordneter entstandene Patt-Situation im Bundestag von 1972 zu überwinden, während umgekehrt das oft gepriesene Personen- und Mehrheitswahlrecht im England dieses Winters nicht die Entstehung einer Situation verhindern konnte, in der nicht einmal der »dritten«, der liberalen Partei die Bolle des sogenannten »Züngleins an der Waage« zufiel, sondern einigen Splitterparteien.[1. Nicht nur, daß zum ersten Mal seit 1929 in England keine Partei eine, wenn auch noch so minimale absolute Mehrheit der Unterhaussitze erzielen konnte — zum ersten Male seit der Entstehung des modernen Parteiensystems konnte sich auch keine der beiden großen Parteien wenigstens mit Unterstützung der Liberalen (von einer Koalition ganz zu schweigen) eine parlamentarische Regierungsgrundlage verschaffen. Während in vergangenen Jahrzehnten hierzulande viele Bewunderer der britischen Verfassungskonventionen das dortige Wahlrecht als wirksamstes Mittel zum Zweiparteiensystem und damit zur Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie empfahlen, wuchs in England eine Bewegung zur Verfassungs- und Wahlrechtsreform.]

Bis heute ist, trotz aller Reideologisierungserscheinungen in der Bundesrepublik, das politische Kapital des Zweieinhalb-Parteiensystems nicht angenagt. Es hat, wenn nicht zum reibungs- so doch zum krisenlosen Übergang vom Patriarchat Adenauer zur Regierung Erhard ebenso beigetragen wie zum ersten regulären »Machtwechsel« von Kiesinger zu Brandt. Viele, die während der großen Koalition 1966-69 schon die Demokratie in einem permanenten Machtkartell der Großen, ja in faschistoiden Strukturen erstarren sahen, mußten schon einige Jahre später wieder umlernen. Dafür wurde seit 1972 die entgegengesetzte Gefahr einer hoffnungslosen Polarisierung an die Wand gemalt, wobei manche Unheilspropheten nicht einmal den wesentlichen Unterschied bemerkten zwischen einer Polarisierung in einem alternierenden Zwei-Gruppensystem auf dem Boden einer gemeinsamen Verfassungsgrundlage und einer Polarisierung in antagonistische Extreme, die sich in ihren Totalitätsansprüchen ausschließen. Polarisierung im zuerst genannten Sinne hat sich bisher (auch im Vergleich mit anderen westlichen Staaten) als das wirksamste Mittel erwiesen, um mächtige Gruppeninteressen zu konkurrierenden Gemeinwohl-Konzepten der Hauptparteien zu integrieren.

Ob unser Parteiensystem diese Funktion auch in Zukunft erfüllen oder ob die Polarisierung im negativen Freund-Feind-Sinn allmählich die politische Kultur des parlamentarischen Systems aushöhlen wird, ist die entscheidende Frage der Zukunft. Noch hat der Wähler eine erstaunliche, keineswegs selbstverständliche Immunität bewiesen: in der Hamburger Bürgerschaftswahl, 15 Monate nach der Bundestagswahl von 1972, sowie in den darauf folgenden Kommunalwahlen gab er weder radikalen Splitterparteien der Rechten noch der Linken eine Chance; weder extremistische Protestwähler noch poujadistische Gruppen nach dem dänischen Modell Glystrup beeinträchtigen das Bild. Noch 1966, während der Großen Koalition, hatte die »Talfahrt« der Rezession der NPD zum Einzug in die Länderparlamente verholfen. 1974 dagegen zeigt der Wähler trotz der allgemeinen Ungewißheit, »wie alles weitergehen soll«, keine Neigung, seine Unzufriedenheit durch Partei-Experimente abzureagieren: Bevorzugt wird die legitime Auffangstellung der Opposition.

 

Vom Provisorium zum Staat in Verfassung

Es spricht für das Grundgesetz, für die geschriebene Verfassung der Bundesrepublik und ihre Institutionen, daß sich unter ihrem Schirm unser Parteiensystem in einer Richtung entfalten konnte, die nach wie vor in scharfem Kontrast zu den innenpolitischen Strukturen der Weimarer Zeit steht. Die besonderen Gefahren, die heute drohen — es wird von ihnen noch die Rede sein —, sind anderer Art. Sie liegen nicht darin, daß die Bundesrepublik sich zum hypertrophen Parteienstaat entwickelt hat, ihr Grund liegt vielmehr in der fehlenden Bereitschaft, auch in dem fehlenden Mut selbst der großen Parteien, die Integration der mächtigen Gruppeninteressen befriedigend zu bewältigen, obwohl die objektiven Voraussetzungen dafür nach wie vor gegeben sind.

Die Institutionen des Grundgesetzes haben sich in den 25 Jahren ihres Bestehens alles in allem bewährt. In den Gründerjahren oft vernommener Spott über den fatalen juristischen Perfektionismus dieser Verfassung ist allmählich abgeklungen. Es zeigte sich, daß das Werk so perfekt auch wieder nicht war, sondern Lücken aufwies, die mit der anfänglichen Souveränitätsbeschränkung zusammenhingen. Der Einbau der Wehrverfassung und der Notstandsverfassung in das Gefüge des Grundgesetzes ging nicht ohne leidenschaftlich geführte Verfassungsdebatten ab, die Polarisierung in Für und Wider erreichte beide Male Höhepunkte. Zugleich nahm die Erfahrung zu, wie sich solche Konflikte lösen lassen. Die Bundeswehr ist — nicht zuletzt dank der liberalen Regelung der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen — keineswegs ein Staat im Staate geworden, und für die Notstandsregelung spricht, daß niemand mehr von ihr redet, obwohl in den sechziger Jahren ihre Gegner befürchtet hatten, sie werde eine unwiderstehliche Versuchung zum Mißbrauch der Macht darstellen und dadurch den Weg in ein autoritäres Staatswesen markieren. Wie oft ist seitdem von Parlaments-, Staats- und Wirtschaftskrisen die Rede gewesen! Nach Notstandsmaßnahmen, wie sie in Großbritannien bei umfassenden Streiks die Regel sind, hat noch niemand gerufen.

Das dritte große Ergänzungswerk war die Finanzreform. Sie brachte nicht nur eine Korrektur des bundesstaatlichen Systems im Sinne eines kooperativen Föderalismus, sondern führte auch zur Bereitstellung eines Instrumentariums zum Management wirtschaftlicher Krisen. Heute zeigt sich, daß dieses Stabilisierungsinstrumentarium immer noch nicht ausreicht; wiederum stehen Ergänzungen und Anpassungen bevor. Das Grundgesetz als Ganzes, in seinem wesentlichen Gehalt, hat durch diese Erfahrungen seine Legitimationsgrundlage nur verbreitert. Es wird von keiner Seite mehr ernsthaft in Frage gestellt, extremistische Gruppen ausgenommen.

Der Konflikt, so heißt es, sei das Material, aus dem Politik gemacht wird. Die Lösung von Konflikten, so könnte man fortfahren, bietet das Material, aus dem Konventionen und Traditionen entstehen. Das Jahr 1969 war insofern ein entscheidendes Jahr für die Verfassungstradition, weil zum ersten Mal ein Machtwechsel gelang. Heute schon kann man sagen, daß die zunehmende Flexibilität des Wählers weitere Wechsel möglich machen wird. Der Wähler hat sich an die Trennung von Staat und Regierung gewöhnt; die Ablösung der Regierung durch die Opposition gehört zum Verfassungsalltag. Was dies bedeutet, macht ein Vergleich mit Italien deutlich. Dort hat es nach dem Sturz des Faschismus in 31 Jahren 36 Regierungen gegeben, fast alle unter der Führung der Christdemokraten. Frustration, Überdruß an Koalitionen, Gleichsetzung von Koalitionskrise und Verfall der Staatsautorität sind die Folge.

In den Jahren zwischen 1969 und 1972, den ersten drei Jahren der sozialliberalen Koalition, wurden fast alle Vorkehrungen der Verfassung für Regierungs- und Parlamentskrisen einmal in Anspruch genommen. Das Kriseninstrumentarium bestand, alles in allem, die Probe.[1. Hierzu Robert Leicht, Grundgesetz und politische Praxis, Hanser Verlag 1974.]

Während der Patt-Situation im Bundestag 1972 kam abgrundtiefer Zweifel an der Lebensfähigkeit des Parlamentarismus auf. Der Fraktionswechsel verschiedener Abgeordneter provozierte eine heftige Diskussion über das Verhältnis von freiem und imperativem Mandat. Am Ende siegte die Einsicht, daß die geltende Regelung des Grundgesetzes — das Spannungsverhältnis von Abgeordnetenfreiheit und »Mitwirkung« der Parteien bei der Willensbildung — immer noch den Prinzipien der Repräsentation und der Integration am ehesten gerecht wird. Die parlamentarische Krise führte zum ersten Mal seit Entstehung der Bundesrepublik zur Erprobung des konstruktiven Mißtrauensvotums, dann der Vertrauensfrage und schließlich der Parlamentsauflösung noch vor Abschluß der regulären Legislaturperiode. Das Ergebnis war die Rückkehr zu klaren Mehrheitsverhältnissen: Bestätigt wurde die Regierung, die trotz der siebenmonatigen parlamentarischen Patt-Krise imstande gewesen war, weiterzuregieren und sogar den Abschluß des umstrittenen ostpolitischen Vertragswerkes zu forcieren — was ihr von der Opposition schwer verübelt wurde.

Schließlich wurden in den vergangenen Jahren noch zwei andere Teilsysteme des Grundgesetzes, die dem idealtypischen parlamentarischen System Grenzen setzen, auf eine schwere Probe gestellt: das bundesstaatliche, aus dem sich zum ersten Mal in der Bundesrepublik unterschiedliche Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ergaben; und das verfassungsgerichtliche, das schließlich zu einer politisch hochbrisanten Klage gegen den Grundvertrag vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht führte: Die Juridifizierung der Politik stieß an eine kritische Grenze. So ist fast das gesamte System von checks and balances einmal durchgespielt worden, ohne daß es dabei zu unheilbaren Blockierungen der Politik kam.

 

Regierungspartei in der Identitätskrise

In der parlamentarischen Verfassungsdebatte zu Beginn des Jahres hat kein Abgeordneter behauptet, das Grundgesetz sei antiquiert oder von Grund auf reparaturbedürftig; niemand trat für die »Totalrevision« der Verfassung ein. Man wetteiferte nicht in der Kritik an der Verfassung, sondern in der Beschützer- Rolle. Wenn es zu leidenschaftlichen Kontroversen und Ausfällen im Verfassungsjahr kam, dann deshalb, weil die Hauptparteien der gefährlichen Versuchung nicht widerstanden haben, sich selbst als die wahren Hüter der Verfassung darzustellen, um auf diese Weise den innenpolitischen Gegner in die politische Randzone zu drängen.

Anlaß zu dieser Debatte gaben die anhaltenden Integrationsnöte der SPD. Ausgerechnet nach dem größten Wahlerfolg der SPD in der deutschen Geschichte (Herbst 1972) verschärften sich diese Schwierigkeiten zur Identitätskrise: Die extreme Linke fühlte sich nicht mehr zur Rücksichtnahme auf Brandts »Neue Mitte« und den liberalen Koalitionspartner genötigt. Die tiefe innere Zerrissenheit der Partei veranlaßte den britischen Economist zu der staunenden Bemerkung, es sei seit der Selbstverstümmelung der britischen Tories in den 1840er Jahren zum ersten Mal der Fall, daß eine große Regierungspartei des Westens zum ideologischen Schlachtfeld geworden ist.

Zumindest seit Bestehen der Bundesrepublik hat es ein so schwerwiegendes Integrationsproblem in keiner großen Partei gegeben. Gerade auf dem linken Flügel des Parteienspektrums war in den fünfziger Jahren, im Unterschied zu den verschwommenen Übergängen auf dem rechten, die Grenze zum Extremismus scharf gezogen. Erst mit dem Aufkommen der sogenannten APO Mitte der sechziger Jahre, während der Großen Koalition, entstand auch für die Sozialdemokratie ein Integrationsproblem. Die extreme Parteibildung der NPD dagegen fiel nach einer kurzen Zeit des Aufstiegs in einigen Landesparlamenten — durch den Zustrom von Protestwählern — wieder in die Bedeutungslosigkeit zurück. Selbst der auch vor Gewalttätigkeit nicht zurückschreckende Extremismus der äußersten Linken führte nicht zu einem reaktionären Pendelschwung zugunsten eines neuen Rechtsradikalismus, wie er vielfach befürchtet worden war. Es sei noch gar nicht so lange her, schrieb der britische Labour-Politiker Gordon Walker während des Bergarbeiterstreiks in seinem Lande, »als der scheinbare Aufstieg einer neonazistischen NPD die britische Presse in hellste Aufregung versetzte. Heute weiß hier kaum noch jemand, wie diese Partei überhaupt hieß«. Ebenso wagte Gordon Walker die Voraussage, daß sich in einem Jahr niemand mehr in Deutschland an die gegenwärtig gängigen Prophezeiungen eines unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruchs Großbritanniens vor der düsteren Kulisse von Streiks, kommunistischer Bedrohung, Entbehrungen und Inflation erinnern werde …

Wie steht es mit der sozialdemokratischen Identität? In der vorherrschenden politischen Sprachverwirrung hat die Verfassungsdebatte auch klärend gewirkt. Wie kann Sozialismus im Rahmen des Grundgesetzes und einer offenen parlamentarischen Demokratie verwirklicht werden? Jedenfalls nicht so, daß die »bloß formale« Demokratie (Demokratie — das ist nicht viel, Sozialismus ist das Ziel) durch Ausfüllung mit einem bestimmten, nicht mehr revidierbaren Inhalt aufgehoben werden kann. In dem Augenblick, da das geschähe, wäre man nämlich nahe an das Verfassungsverständnis der DDR herangerückt, wo die Verfassung mit Vorrang dem politisch festumrissenen Ziel des Sozialismus zu dienen hat; dieses Ziel ist ebenso vor- und festgeschrieben wie die Führungsrolle der marxistisch-leninistischen Partei (so will es Artikel 1 der zweiten DDR-Verfassung von 1968, während nach Artikel 18 der gleichen Verfassung die »sozialistische Nationalkultur zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft gehört …«). Demgegenüber ist das Grundgesetz, nicht nur nach dem Willen seiner Schöpfer, keine Einbahnstraße, auch kein Eisenbahnfahrplan, in dem alle Anschlüsse und alle Stationen schon im Vorhinein festgelegt sind; vor allem keine Endstation, die das Ende freier Integrationsprozesse bedeuten würde. Auch ist das Grundgesetz gewiß kein »Versprechen, einzulösen durch Revolution« (Hans Magnus Enzensberger); es ist kein »säkularisierter Heilsplan«, sondern vorwiegend eine politische Prozeßordnung. Gerade weil es mit inhaltlichen Verheißungen (zum Beispiel: Sozialstaat) so sparsam ist und die Integration nicht durch einen verordneten Bekenntnisstaat dieser oder jener Couleur vorwegnimmt, läßt es der freien Integration ein weites Feld zur Entfaltung.

 

 

In diesem Sinn haben Sozialdemokraten, von Unionsgegnern in die Defensive gedrängt, immer wieder betont, daß die bekannte Formel des Godesberger Programms zwar laute: »Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht …«, der Folgesatz jedoch: »… die Demokratie wird durch den Sozialismus erfüllt.« Es fehlt das entscheidende Wörtchen »nur«, das den zweiten Satz in seiner Bedeutung grundlegend ändern würde: Der formale Demokratiebegriff wäre zum inhaltlichen, aus dem Pluralismus wäre Monismus geworden — es sei denn, es bestünden reale Chancen für die Vielfalt in der geforderten Einheit. Je mehr das gesellschaftliche Ziel und der Staat unauflöslich verschmelzen, desto geringer muß diese Chance werden. Daraus erklären sich verschiedene beschwörende Appelle des Bundeskanzlers Brandt, die notwendig bleibende Trennung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

Die Sozialdemokratische Führungsspitze ist alarmiert, daß es auf dem äußersten linken Flügel der Partei Strömungen gibt, die eine mit parlamentarischer Demokratie nicht mehr vereinbare Auffassung vom Weg zum Sozialismus haben. Das Zerschlagen des Staates wird dort als Voraussetzung angesehen, um das Klassenziel zu erreichen; eine Politik des Klassenkampfes und der ständigen Konfliktverschärfung markiert den Weg. Dieser neue Staat der Arbeiterklasse, heißt es, könne »nicht die alte parlamentarische Struktur des bürgerlichen Staates haben«. Den Parlamenten wird nur noch die Aufgabe zugestanden, das, was die Parteibasis beschlossen hat, in Gesetzesform zu gießen. Viele Anhänger dieser Strategie, die nach dem Zeugnis eines sozialdemokratischen Regierungsmitgliedes in den Gedankengängen von André Gorz, Lelio Basso und Ernest Mandel wurzelt, fordern zumeist auch die Vollsozialisierung. Aber nicht dieses Ziel als solches, sondern die Strategie, die zu seiner Erreichung führen soll, ist entscheidend für die Beurteilung. Wenn der bestehende Staat seiner Legitimität entkleidet wird; wenn notwendige Funktionen seiner Organe als unrechtmäßige Gewaltausübung bezeichnet werden, erhält die revolutionäre Gewalt der Straße die Weihe des Legitimen (so geschehen nach den Straßenkämpfen von Frankfurt).

 

Erfahrungen und Konsequenzen

Hier stoßen unvereinbare Welten am Rande einer großen, staatstragenden Regierungspartei zusammen. Die SPD ist dadurch nicht nur an die Grenzen ihres natürlichen Wachstums bei den Wählern, sondern auch an die Grenzen ihrer inneren Integrationsfähigkeit gelangt. Sie steht vor der Existenzfrage, ob sie weiterhin Volkspartei bleiben und, im Sinne Brandts, um die politische Mitte kämpfen kann. Als einer Partei, die regieren will, drängen sich ihr Konsequenzen aus den bisherigen Erfahrungen auf:

Erstens: Unumgänglich ist ein Trennungsstrich gegenüber Kräften, die das parlamentarische Regelsystem nur als Mittel zum Zweck der Beseitigung dieses Systems gebrauchen wollen. Die SPD hat sich seit sieben Jahren — zum Teil mit, zum Teil ohne Erfolg — im Interesse des Staates, im Interesse aller parlamentarischen Parteien um Integration bemüht. Wo dennoch aggressives Freund-Feind-Denken innerhalb der Partei überhandnimmt, wird Integration unmöglich.

Zweitens: Es war richtig, daß die Regierungsparteien bisher bei der Anwendung der verfassungsrechtlich vorgesehenen Defensivvorkehrungen zum Schutz der Verfassung zurückhaltend waren. In der äußersten Nutzung des politischen Integrations- und Überzeugungsraumes liegt nicht eine Schwäche, sondern eine Stärke.

Drittens: Auf keinen Fall darf freilich durch Gewöhnung der Eindruck entstehen, es gebe rechtsfreie Räume, in denen die Grenze der Gewaltanwendung nicht mehr ernst genommen wird. Die Anerkennung solcher Freiräume bedeutet freiwilligen Verzicht auf rechtsstaatliche Legitimität, unter Umständen sogar die Preisgabe des Legitimitätsanspruches an politisch motivierte (oder auch nicht motivierte) Rechtsbrecher. Beschwichtigung ist hier der falsche Weg.

Viertens: In Zeiten der Ungewißheit wächst die Zahl derer, die nicht mehr bereit sind, sich mit dem Staat, dessen Bürger sie sind, und mit dem politischen System, in dem sie leben, zu identifizieren. Man sollte mit diesem Begriff, der leicht einen totalitären, der offenen Gesellschaft unangemessenen Beigeschmack annehmen kann, allerdings vorsichtig umgehen. Verweigerung kann Reaktion auf verweigerte Autorität, auf ein »Fehlen an Vorbildern der Lebensgestaltung« sein. Vom Zustand des Unbehagens bis zur ressentimenterfüllten Verachtung freiheitlicher Spielregeln ist ein weiter Weg. Solange die Auffangstellung der Opposition noch in Anspruch genommen wird (was nicht schon heißen muß, daß die Opposition personell und sachlich ausreichend ausgerüstet ist), und solange der irritierte Wähler trotz Identifizierungsschwierigkeiten extreme Parteigruppen zurückweist, droht noch keine prinzipielle Abwendung von der parlamentarischen Demokratie. Es stimmt einfach nicht, wenn gesagt wird, überall seien die Wähler von Mißtrauen gegen das herrschende Parteiensystem erfüllt; sie neigten zu Reaktionen, die nicht nur die alten Parteien, sondern »das ganze System der klassischen westlichen Demokratie erschüttern«. Ein Palmer aus der Gemeinde Schwäbisch Hall macht noch keinen Winter im System. Das Parteiensystem erst idealistisch überfordern und dann aus Enttäuschung abwerten, das entspricht zwar einem althergebrachten deutschen Unbehagen an den Parteien. Es aber heute wieder zu schützen, anstatt es mit rationalen Argumenten in Schranken zu weisen, ist die schlechteste aller Therapien in Zeiten der Ungewißheit.

Fünftens: Solange keine Einbrüche in dieses Parteiensystem zu verzeichnen sind, sollte man die Identitätskrise der SPD nicht zu einer Legitimitätskrise des Staates erhöhen. Im übrigen gilt für Zwei-Parteien-Systeme die Regel von der Internalisierung vieler Konflikte. Nehmen wir als (deutsches) Beispiel die Mitbestimmungsmodelle von Regierung und Opposition: Streitgegenstände, die innerhalb der großen Parteien noch heißer umkämpft werden als zwischen ihnen, aber keine sich ausschließenden Entwürfe, sondern vielmehr beide auf den gleichen Grundsätzen beruhend und doch wieder nicht so konform, daß der Wähler das Gefühl hätte, es gebe keine Alternative. Bei aller behaupteten Polarisierung zeigt gerade das Beispiel der Mitbestimmung, wie stark nach wie vor die Integrationskraft des Zweigruppen-Systems ist: Beide Modelle — so sehr sie sich von den gesellschaftspolitischen Vorstellungen in anderen westlichen Ländern abheben — beruhen auf der grundsätzlichen Anerkennung der Parität und Gleidigewiditigkeit von »Arbeit« und »Kapital«.

Sechstens: Die Schwierigkeiten der Bürger, sich mit dem pluralistischen Staat zu »identifizieren«, sind oft Identifikationsschwierigkeiten beim Gebrauch der Sprache, bei der Verwendung von Begriffen. Sprachliche Mehrdeutigkeit ist zur Waffe der Umfunktionierung im politischen Kampf geworden. Wer politische Begriffe in Besitz nimmt, übt politische Kontrolle aus. »Demokratisierung« bedeutet für die einen Integration durch Partizipation, für die anderen einen entscheidenden Schritt im Klassenkampf auf dem Wege zur Übernahme der Macht. Moderne Theoretiker der evolutionären Systemüberwindung sehen in der Veränderung der Wortbedeutungen die legalen Chancen, stillschweigend die Rechts- und Verfassungsordnung zu ändern.

Mit der Einübung in die Sprache der Umfunktionierung ist eine Denkweise, genauer: eine Ideologie verbunden, die man nicht mit der Konflikttheorie in Verbindung bringen sollte (Strauß sprach von »konflikttheoretischer Verseuchung«). Konflikttheorie — das kann heißen: Offene Anerkennung und offenes Austragen der unvermeidlichen Konflikte, ihre Lösung im Rahmen der »Spielregeln«. Die Theoretiker der Systemsprengung dagegen meinen den Antagonismus der »dualistischen Gesellschaft«, bei dem es nur Sieger und Besiegte geben soll. Am Ziel zeichnet sich die Herrschaft eines monistischen Systems ab, das Konflikte nicht austragen läßt, sondern unterdrückt. Auf dem Felde der politischen Agitationssprache ist eine hintergründige geistig-politische Auseinandersetzung im Gange, die in öffentlichen Medien, in Universitäten und Schulen ihre Spuren hinterlassen und den Stil von Demonstrationen und Streiks, von partei- und verbandsinternen Kämpfen geprägt hat. Für die Zukunft der Bundesrepublik hat der Ausgang dieser geistigen Auseinandersetzung weit mehr zu bedeuten als das (mit Recht ernstgenommene) rechtsstaatliche Problem der »Radikalen« im öffentlichen Dienst.

An der öffentlichen Diskussion der ministeriellen Rahmenrichtlinien für den Unterricht (in Hessen, Nordrhein-Westfalen) läßt sich das erhöhte Interesse und die gesteigerte Aufmerksamkeit breiter Kreise für die Vorgänge im geistigen Vorfeld der Politik ablesen. Nicht nur in den Massenmedien, in den Parlamenten und Parteien, auch in Eltern- und Lehrerverbänden wird die Auseinandersetzung ernst genommen. Die Übung ist nicht umsonst: ein Stück Therapie gegen subtile Indoktrination und gegen Manipulationen mit der Sprache — ein »Lernprozeß« für alle Beteiligten.

 

Die eigentliche Legitimitätskrise

Und dennoch als Kennzeichen dieses Jubiläumsjahrs der Bundesrepublik die Sorge, das parlamentarische System sei krank, ja, ohne wirkungsvolle Therapie drohe Kommunismus oder Faschismus? Der Bundeskanzler selbst scheint von tiefem Pessimismus erfüllt. (»Wer heute Regierungsverantwortung trägt, muß sich gegen alle Kritik damit bescheiden können, daß er meist nur kleine, mühselige Schritte tun kann«, Regierungserklärung vom 24. Januar.) ökonomisch, technologisch, gesellschaftspolitisch und auch, was die Effektivität und Beweglichkeit der staatlichen Organisation angeht, würden uns neue Einsichten aufgezwungen, veränderte Verhaltensweisen abverlangt werden. Und: Das freie Spiel der Kräfte, bislang immer noch Grunddoktrin der westlichen Gesellschaften, wirke unter dem zunehmenden Problemdruck nicht mehr bewahrend, sondern zerstörend.

Zum freien Spiel der Kräfte: Sicher gibt es multinationale Konzerne, die sich der vollen einzelstaatlichen Kontrolle entziehen; es gibt die europäischen Institutionen technokratischer oder wirtschaftlicher Art, die niemals eine volle parlamentarische Kontrolle erfahren haben und daher auch nicht den Parteien »entglitten« sein können. Hier trifft die Diagnose freilich nicht zu, der Parlamentarismus sei krank; hier käme es darauf an, erst einmal parlamentarische Kontrolle auf größere Staatengemeinschaften zu übertragen, anstatt ihr Sterbelied zu singen.

Und was bedeutet »das freie Spiel der Kräfte« in der Innenpolitik? Zunächst hat es sich gerade in der Energiekrise bewährt, daß dieses Spiel dank liberaler Beharrlichkeit so weit wie möglich erhalten wurde. Hätte die Regierung den Einflüsterungen derer nachgegeben, die Preis- und Lohnkontrollen, Bezugsscheine und Bewirtschaftung gefordert hatten, wäre die Mangellage in der Bundesrepublik nicht so schnell behoben, die Teuerung dagegen noch drückender geworden — von den politisch-psychologischen Folgen der Planwirtschaft einmal abgesehen.

Auf einem anderen Gebiet dagegen hat die Regierung selbst es zugelassen, daß das »Spiel der Kräfte« nicht bewahrend, sondern — im negativen Sinn — verändernd wirkte, und zwar in dem Bereich, wo sie die volle Verantwortung trägt: im öffentlichen Dienst und im öffentlichen Haushalt. Was sich hier an Präzedenzfällen abgespielt hat, gibt in der Tat Anlaß zur Sorge, der Staat könnte mehr und mehr durch Duldung oder Gewohnheit zum Spielball mächtiger Gruppeninteressen werden. Hier wäre von der eigentlichen Verfassungsfrage zu sprechen; hier zeigt sich, wenn überhaupt, eine Legitimationskrise dieser Republik an.

Es begann mit der opportunistischen, widerspruchsvollen und am Ende erfolglosen Taktik gegenüber den Aktionen der beamteten Fluglotsen, Dienst nach Vorschrift genannt. Schon jetzt zeigt sich die Neigung anderer Beamtengruppen, das rechts- und verfassungswidrige Verhalten zu imitieren — etwa durch den Streik von Lehrern gegen eine bestimmte Gesetzgebung, der nicht mehr als juristische, sondern als »reine Machtfrage« angesehen wird. Der unverhüllte Polit-Streik wird Schule machen, wenn nicht rechtzeitig vorgebeugt wird. Auch im Verständnis des Deutschen Beamtenbundes verstößt ein »Dienst nach Vorschrift« wie ein Bummelstreik gegen Recht und Verfassung; darüber hinaus haftet dem getarnten Arbeitskampf zusätzlicher Makel an: Scheu vor persönlichem Kampfrisiko, Flucht vor der demokratischen Öffentlichkeit, Korrumpierung der rechtsstaatlichen Verwaltung durch geheuchelte Pflichterfüllung, planmäßige Desintegration.

Die entscheidende Niederlage mußte die Regierung — und in diesem Falle auch der Staat — nach dem ominösen Vorspiel hinnehmen, als sie sich den Lohnforderungen der Gewerkschaften im ersten umfassenden Streik des öffentlichen Dienstes beugte. Es mußte jedem Bürger klar sein, was auf dem Spiel stand: Die wirksame Bekämpfung der Inflation unter den erschwerten Bedingungen der Energiekrise, die parlamentarisch legitimierte Ausführung der für notwendig befundenen Konjunktur-, Haushalts- und Reformpolitik. Daß nicht irgendeine radikale Gruppe den Staat an der Erfüllung dieser Aufgabe behinderte, sondern der zur Loyalität verpflichtete öffentliche Dienst, ist eine folgenreiche Anomalie.

Die Versuchung, von der Waffe des Streikrechtes im öffentlichen Dienst Gebrauch zu machen, ist umso größer, als damit kein Risiko verbunden ist: Es gibt keine Waffengleichheit. Der Staat des 20. Jahrhunderts ist ein Staat, der nicht mehr nur gebietet, verbietet oder erlaubt, sondern immer mehr Aufgaben der elementaren Daseinsvorsorge übernommen hat. Weil er seine Dienste — ob es sich um Erziehung oder Krankenpflege, um öffentliche Sicherheit oder Energieversorgung handelt — gar nicht verweigern darf, muß auch die Streikstrategie im öffentlichen Dienst ihre Grenzen haben. Es gibt auch eine Sozialpflichtigkeit der Organisationen des öffentlichen Dienstes; eine Tarifautonomie, die ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung leugnet, verliert ihre Geschäftsgrundlage. Ein risikoloser Streik im öffentlichen Dienst, der die Entscheidungsfreiheit von Staat und Parlament in einer Krisensituation einengt, provoziert unweigerlich die Frage nach der Legitimation dieser mißbrauchten Autonomie. Hinzu kommt eine zum Teil unglaubliche Verfilzung von Funktionen: Bürgermeister, die zugleich ein öffentliches Amt verwalten, Arbeitgeber und Vertreter der Arbeitnehmer sein wollen — öffentlicher Dienst als Selbstbedienungsladen. Mit dem Dualismus von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wie er in der Wirtschaft gegeben ist, hat dieses Selbstkontrahieren nichts mehr zu tun.

Die Signalwirkung des Streiks war von vornherein klar: Diesmal hatte der öffentliche Dienst nicht die Nachhut, sondern den Vortrupp gebildet. Die Beamten (ohne Streik) folgten automatisch in die eroberten Besoldungspositionen nach; eine Streikbewegung in der privaten Wirtschaft schloß sich an. Eine derartige Kettenreaktion muß sich verhängnisvoll auf Haushalts- und Konjunkturpolitik auswirken. Denn man kann den Staat nicht beliebig in einen öffentlichen Diener und in einen (gleichsam privaten) Arbeitgeber auseinanderdividieren.

Es liegt eine Schizophrenie darin, immer mehr an Lebensqualität vom Staat zu verlangen — möglichst zum Nulltarif —, ihm zugleich aber die Mittel für Reformen und öffentliche Investitionen durch überproportional ansteigende Personalkosten zu kürzen. Der sogenannte »öffentliche Korridor« wird dabei immer enger, der inflatorische Effekt immer größer. So gerät der Staat in die Rolle des Schlichters in einen Verteilungskampf, wo nichts mehr zu verteilen ist. Die Konflikte aber werden mit jeder Windung der Inflationsspirale härter. Bei zweistelligen Inflationsraten ändert das gegenwärtige Wirtschaftssystem seinen Charakter; zehn Prozent sind, so Bundesbankpräsident Klasen, eine magische Zahl, die höchste Alarmstufe bedeutet. Kein Land, das jemals längere Zeit eine Inflationsrate von über 20 Prozent ertragen mußte, ist eine Demokratie gewesen oder geblieben.

Von hier drohen der parlamentarischen Demokratie weit mehr Gefahren als von irgend einer Ideologisierung oder dem Eindringen Radikaler in den öffentlichen Dienst. Wie aber, wenn sich der Staat für unfähig erklärt, diesen Kreislauf zu unterbrechen? Im gegenwärtigen Zustand der Gesellschaft, so heißt es schon in der Enzyklika »Pacem in terris« von 1963, gestatte es die allen Regierungen übertragene Autorität nicht mehr, das allgemeine Beste so zu fordern, wie es notwendig wäre. Der Glaube an die »Machbarkeit« aller Dinge ist geschwunden; verdächtig oft ist die Klage zu hören, die Völker seien nicht mehr regierbar. Sind sie es wirklich? Oder fehlt es nur am Willen und am Mut?

Nehmen wir den Streik im öffentlichen Dienst mit den beschriebenen Folgen: Machbar wäre, wenn auch nicht von heute auf morgen, mehrerlei. Zunächst müßte, in Fortsetzung der Finanzreform, ein Regierungsinstrument geschaffen werden, mit dem während des Arbeitskampfes ein Ausscheren einzelner öffentlicher Arbeitgeber und damit ein Aufweichen der einheitlichen Tarifpolitik verhindert werden können. Dann könnte eine dem öffentlichen Dienst angemessene Schlichtungsordnung mit Abkühlungsperioden eingeführt werden. Auf lange Sicht noch wichtiger für die Bewahrung der parlamentarischen Substanz wäre eine Neuabgrenzung des Bereichs, in dem Tarifautonomie notwendig und sinnvoll ist, von jenem inneren Bereich des öffentlichen Dienstes, der nicht den Tarifpartnern ausgeliefert werden darf, sondern unter parlamentarische Obhut gehört. Es geht, um bei dem Beispiel zu bleiben, nicht um eine isolierte Abschaffung der Tarifautonomie im öffentlichen Dienst, sondern um eine Neuordnung des gesamten öffentlichen Dienstes und seiner teils überholten, teils zufälligen und wenig funktionsgerechten Abgrenzung zwischen Beamten, Angestellten und Arbeitern. Das sind keineswegs revolutionäre Gedanken, wie die Empfehlungen im Mehrheitsbericht der Studienkommission für die Reform des öffentlichen Dienstes zeigen: Nur die Alleinzuständigkeit des Gesetzgebers könne den öffentlichen Dienst vom Machtbereich gesellschaftlicher Gruppen fernhalten und eine unparteiische Verwaltung sichern. »Diese Sicherheit ist gefährdet, wenn die Bediensteten mit ihren Organisationen durch tarifvertragliche Auseinandersetzungen unmittelbar in den Interessenkampf verstrickt werden . . . Die Aufteilung der Regelungskompetenz auf Gesetzgeber und Tarifpartner muß letztlich dazu führen, daß die Gewerkschaften bestimmenden Einfluß auf das ganze Dienstrecht gewinnen.«

Mit anderen Worten: Streik in den Kernbereichen des öffentlichen Dienstes kann für sich nicht die Legitimation eines Stückes »unmittelbarer Demokratie« in Anspruch nehmen; nur dort ist der Arbeitskampf wirklich ein Ausdruck des »kollektiven Liberalismus«, wo der Markt als Regulativ und Kontrollinstanz wirksam wird, nicht aber dort, wo die »Aufgaben der öffentlichen Verwaltung durch gemeinwohlbezogene Fremdbestimmtheit gekennzeichnet sind«. Diese sozialstaatlichen Einsichten, die dem Wesen der parlamentarischen Demokratie entsprechen und die notwendigen Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft berücksichtigen, liegen längst in den Schubläden der Ministerien und Fraktionen — aber noch hat keine Regierung und keine Opposition gewagt, mit diesen Reformen ernst zu machen. Die regierende SPD hat immer noch Schwierigkeiten, sich von der traditionell engen Bindung an die Gewerkschaften zu lösen und sich an die Rolle des Arbeitgebers im öffentlichen Dienst zu gewöhnen. Es gibt hier in der Tat so etwas wie Nachgiebigkeit aus schlechtem Gewissen.[1. Verglichen mit der Labour Party ist eine sozialdemokratische Regierung allerdings noch relativ unabhängig: Die kollektive Parteimitgliedschaft der Gewerkschaften in der Arbeiterpartei ist hierzulande unbekannt.]

Aber auch die Opposition läßt den Mut vermissen, die Reform des öffentlichen Dienstes mit allen Konsequenzen anzupacken. Fast könnte man von einer »Verschwörung des Schweigens« sprechen, an der sich alle beteiligen, die nur an den nächsten Wahlkampf denken, obwohl die Rechnungen des Opportunismus schon manches Mal nicht aufgegangen sind.

Gleichwohl haben die Unionsparteien in jüngster Zeit immer wieder das Gespenst eines aufziehenden Syndikalismus beschworen: ein Unterlaufen der an der Willensbildung mitwirkenden Parteien und eine Aushöhlung parlamentarischer Kompetenzen. Der historisch schillernde Begriff des Syndikalismus ist freilich denkbar ungeeignet, die aktuelle Gefahr zu kennzeichnen, die besonders in der Bundesrepublik durch die angestrebte Erweiterung des Streikrechts und der gewerkschaftlichen Mitbestimmungsfunktionen auf den öffentlichen Dienst entstehen könnte. Man stelle sich vor: Das Streikrecht wird im öffentlichen Dienst noch auf die Beamten ausgedehnt und in eins damit, durch Ausweitung der erlaubten Streikziele, politisiert; zugleich wird neben der Unternehmensmitbestimmung (mit der beabsichtigten »Fremdbestimmung« durch Gewerkschaftsvertreter) auch die Mitbestimmung im öffentlichen Dienst eingeführt; schließlich würde der zur Sicherung der Pressefreiheit unentbehrliche Tendenzschutz in mitbestimmten Betrieben abgeschafft. Was sich hieraus ergeben könnte, wäre eine Bündelung von höchst widerspruchsvollen Kompetenzen und Eingriffsmöglichkeiten, die ohne Beispiel in Staat und Gesellschaft ist. Die Gewerkschaften würden nicht nur bestimmenden Einfluß auf das öffentliche Dienstrecht gewinnen, sie würden zugleich auch die von Grund auf verschiedenen Rollen des Unternehmers, des Interessenvertreters der Arbeitnehmer und des Allgemeinwohl-Hüters (mit umstrittenem Mandat) spielen. Gerade eine solche Entwicklung müßte zwangsläufig mit dem Bedürfnis des Sozialstaates kollidieren, den nötigen Spielraum zur Gestaltung der Haushalts-, Finanz- und Konjunkturpolitik zu gewinnen, insbesondere bei der Bewältigung von Krisen, aber auch als Voraussetzung für eine Politik sozialer Investitionen und Reformen.

Wenn das Verhältnis zwischen Wählern, Parteien und Verbänden sich in der beschriebenen Weise von Grund auf veränderte, dann und nur dann geriete die Substanz des Parlamentarismus, der in den vergangenen 25 Jahren eine so unerwartete Renaissance durch Modernisierung erlebte, wirklich in Gefahr. Die parlamentarische Demokratie ist gekennzeichnet durch ein System von checks and balances zwischen ihren Institutionen. Diese Balance wird gestört, wenn mächtige gesellschaftliche Kräfte Teilbereiche des Staates wie den öffentlichen Dienst im Namen der Demokratisierung gleichsam vergesellschaften — und das heißt im Ergebnis: ent-demokratisieren, nämlich dem Kontrollbereich des gewählten Parlaments entziehen. Eine neue Balance ließe sich nur erreichen, wenn auch jene sich dynamisch verändernden gesellschaftlichen Kräfte miteinbezogen werden, von denen die Verfassungen bisher ebensowenig Notiz genommen haben wie einst von den politischen Parteien. Anderenfalls könnte sich außerhalb der demokratisch legitimierten Regierungsautorität eine neuartige Gewaltenvereinigung im Hintergrund etablieren, welche die gewohnten parlamentarischen Institutionen aus dem Gleichgewicht bringen würde.

Die Parteiendemokratie würde unglaubwürdig und unrepräsentativ, wenn sie vor diesem Problem auswiche. Im Zeitalter der multinationalen Verflechtung und der zwischenstaatlichen Interdependenz müßte sie darin auch ein über die Staatsgrenzen hinausreichendes Problem erkennen. Es geht darum, die Konsequenzen aus der immer weitergehenden Verquickung der staatlichen und der gesellschaftlichen Sphäre — der Verstaatlichung der Gesellschaft und der Vergesellschaftung des Staates — zu ziehen und die unentbehrlichen Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft neu zu definieren. Das sind die neuen Einsichten, die uns aufgezwungen werden; das sind die veränderten Verhaltensweisen, die verlangt werden. Stattdessen die fatalistische Legende vom schwachen Staat zu nähren, heißt nur die Flucht aus der Verantwortung fördern.