Merkur, Nr. 766, März 2013

Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik

von Ingo Meyer

Für Wolfram Hogrebe

Rüdiger Bubner hat vor vierzig Jahren einen vielbeachteten Aufsatz mit dem lapidaren Titel Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik publiziert, der auch heute noch die Lektüre verlohnt, [1. Rüdiger Bubner, Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. Zuerst in: Neue Hefte für Philosophie, Nr. 5, 1973; auch in: Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung. Frankfurt: Suhrkamp 1989.] da hier Kardinalprobleme des eigentümlichbegriffslosen ästhetischen Gegenstands, von Schein und Wahrheit, Werkbegriff und Wirkung, klar und angenehm kompakt benannt, aber natürlich nicht letztverbindlich gelöst werden. Selbst wenn man so apodiktisch wie Bubner heute nicht mehr wird auftreten können, ist es doch an der Zeit, zu sehen, was sich inzwischen getan hat, da sich seit der Postmoderne die Schwierigkeiten, doch auch die Chancen von Theoriebildung vervielfältigt haben: Repräsentation, Performanz, entgrenzte Textkonzepte und Präsenzerfahrung sind nur einige der neuen Leitvokabeln, um die sich die anhängigen Debatten ranken. Aber der Reihe nach, zunächst zum Theoriebestand, den die Entwicklung nicht mitgenommen hat.

Nekrolog. Niklas Luhmann entdeckte 1984 »ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus«. Zwar wird über die Sozialtheorie des Großen Bärtigen wieder getagt, über die Ästhetik des dialektischen Materialismus aber, die Bubner noch ernstnehmen musste, darf man heute getrost sagen: viel Rauch um nichts. Ohne wirklich tragfähige Instruktionen von Marx und Engels alleingelassen, hat sie nie aus ihrer Gemengelage phraseologischer Dogmatik und einer besonders kruden Variante von Mimesis, der Widerspiegelung, herausgefunden. Im Nachhinein stimmt es bitter, welche Energie und wie viele tausend Seiten immerhin so denkmächtige Köpfe wie Georg Lukács oder Michail Lifschitz, von den wahrhaft Linientreuen ganz zu schweigen, darauf verwendet haben, die Kunst der klassischen Moderne als Formalismus zu denunzieren oder – ohne Erfolg – zu versuchen, Widerspiegelung und einen bis zur Konturlosigkeit aufgeblähten Realismusbegriff zu enttrivialisieren. Marxistische Ästhetik kann die notwendige Existenz von Kunst nicht begründen, weil sie wie jede theoretische Anstrengung, die sich mimetischen Konzepten verpflichtet, aus der Tautologie nicht herausfindet. Bubner hat Recht: »Man muß vor aller Kunst wissen, was die wesentlichen und umfassenden Züge der Wirklichkeit sind, um sie in Kunst gespiegelt wiederzufinden.« Dass man aber den Entscheid darüber, was ist, im Sozialismus am wenigsten den Ästhetikern überließ, ist hinreichend bekannt.

Adornos zu kurzer Schatten. Die postume Ästhetische Theorie, in Bubners Aufsatz nur punktuell erwähnt, gut fünfhundert Seiten kunstvoller Wissenschaftsprosa, die auch als eine lange Kette von Sentenzen lesbar ist, hat nach ihrem Erscheinen 1970 eine Flut von ersten Deutungsversuchen, dann, bis in die achtziger Jahre, Ordnungsversuche meist vom Zuschnitt umfänglicher Dissertationen gezeitigt. Dieser Strom kontinuierlicher Auseinandersetzung ist versiegt, nicht zum Vorteil, denn das unausschöpfliche Buch ist noch immer die Instanz, an der sich – bisher durchweg virtuelle – Konkurrenzunternehmen zu messen hätten. Es ist alles da, Adorno emanzipiert sich vorsichtig von seiner Leitinstanz Hegel und beleuchtet beispiellos luzide die gesellschaftliche Rolle der Kunst und die Frage nach der Rettung des Wahrheitsanspruchs; Kritik und Krise von Werk- und Scheinbegriff; die überraschende Rehabilitation von Erhabenem und Naturschönem sowie die Entdeckung der spezifisch diskontinuierlichen Zeitsituation ästhetischer Erfahrung (»apparition«). Die Moderne bekommt hier eine historische Dimension, von der Fülle treffender, nur selten verquerer Einsichten zu einzelnen Epochen und Autoren ganz zu schweigen.

Es hat aber den Anschein, als passe Adornos Erfindung der Negativitätsästhetik – Verstehensversuche verweigern finiten Sinn, unterlaufen so das Rauschen der Diskurse – und die Rhetorik im »Grand Hotel Abgrund« (Lukács) mit ihrem Verbindlichkeitston nicht mehr recht zur heutigen ästhetischen Mentalität. Martin Seel trat sogar an, Adornos Negativität als »eklatante Selbsttäuschung« zu positivieren, was ganz gewiss nicht im Sinne des Meisters war.

 Zurück zu Kant? Diese von Bubner ausgegebene, heute noch immer weithin zustimmungsfähige Parole hat ihre Tücken. Zwar erlaubt sie, Ästhetik unabhängig von Wahrheit, Werk und Schönheit zu denken, doch Wirkungsästhetik ist ein gar zu weites Feld. »Ein sehr merkwürdiger Text«, befand als unverdächtiger Zeuge wiederum Luhmann über die Kritik der Urteilskraft, und man führt sich tatsächlich zu selten vor Augen, was das singulär verklausulierte Buch eigentlich beabsichtigte. Nachdem Kant das epistemische vom ethischen Subjekt trennte und ebenso die »Erkenntnisstämme« von Sinnlichkeit und Verstand auseinanderriss, hielt er es für geboten, sie im Modus eines doppelt gebrochenen »Als ob« (das ist und bleibt der Status des ästhetischen Urteils, da es auf von Vorstellungen provozierte Empfindungen reagiert) wieder zusammenzufügen – und auch dies nur, um uns über die Fingerübung der ästhetischen Reflexion für die Zweckmäßigkeit der Naturerscheinungen zu sensibilisieren.

Man weiß, Kunst spielt in der Urteilskraft eigentlich keine Rolle, weshalb ich, ähnlich wie Wolfgang Wieland, gar nicht von einer Ästhetik sprechen mag. [1. Wolfgang Wieland, Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik geschrieben hat. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Nr. 4, 1990] Allerdings gelingt Kants Konstruktion nahezu metaphysikfrei, was für seine ungebrochene Konjunktur mitverantwortlich sein mag: »Kants Ästhetik der Lebendigkeit zeigt sich in ihrem radikalen Verständnis der. Auszeichnung des Menschen unvermindert aktuell für gegenwärtige philosophische Fragen, indem sie nicht auf eine anthropologische Bestimmbarkeit zielt, sondern eine unbestimmte Differenzierung eines agierenden Wesens der Natur, das sich in seiner Existenz von der Natur unterscheidet, markiert« [1. Jan Völker, Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik. München: Fink 2011.] – das ist in seinem Ausweichen in Richtung Unverbindlichkeit für die heutige Kant-Exegese ein überaus typischer Satz.

Aber er ist nicht gut. Zwar kann mit dem Paragraphen 18 der Urteilskraft jede Vorstellung  ästhetisch betrachtet werden, was der durchaus planvoll betriebenen »Entgrenzung der Künste« im Rahmen der begehrten Sonderforschungsbereiche dann auch ihr Passepartout verschafft. Wirkung heißt heute Performanz; politisches Handeln, Texte, ganze Kulturen performieren, semantische Ambiguität, Emotions- oder Kompensationstheorien des Ästhetischen (Paragraph 59!) und der Schwenk zur Anthropologie: Unter dem rauen, stockfleckigen Mantel der Urteilskraft ist Platz für all das, doch es bleibt ein Fragezeichen. Wissenssoziologie und Philosophiegeschichtsschreibung haben uns längst über den historischen Status der kantischen Kritik aufgeklärt – und wer, außer Bourdieu-Fans, mag denn ernsthaft noch mit dem, wie Schopenhauer richtig notierte, »sehr häßlich sogenannten Geschmacksurteil«, der »anhängigen Schönheit« oder gar dem Geniekonzept arbeiten, immerhin auch integrale Bestandteile des Buches? Die Theorie ästhetischer Erfahrung, wenn sie wirkungszentriert ausgelegt werden soll, bedürfte sehr viel subtilerer Zwischenwerte denn der hölzernen Dichotomie von Lust und Unlust, wie etwa negativer und subliminaler Aufmerksamkeit, Indifferenz und Rejektion versus Affektion und Affirmation.

 Und Hegel? Die seit einigen Jahren zu beobachtende Hegel-Renaissance richtete sich bisher weitgehend auf den Denker des objektiven Geistes, es war aber nur eine Frage der Zeit, bis auch die These vom Bedeutungsschwund der Kunst in der Moderne, eine der wenigen geisteswissenschaftlichen never ending stories, erneut auf den Prüfstand gehoben würde. Robert Pippins Interpretation zählt diesbezüglich zu den bizarrsten Blüten. [1. Robert B. Pippin, Kunst als Philosophie. Hegel und die moderne Bildkunst. Berlin: Suhrkamp 2012.]

Das höchst umständlich entwickelte, mit Stütztheoremen der Kunsthistoriker Timothy J. Clark und Michael Fried versehene Argument geht so: Mit Hegel gegen Hegel lässt sich die moderne Kunst als Selbstrepräsentation des nicht eingelösten Versprechens einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft wechselseitig sich anerkennender Subjekte verstehen, was Pippin – kühn genug – an den leeren Blicken der Protagonisten in der Malerei Manets und den seltsam flächig-unverbundenen Figurationen von Cézannes Badenden festmacht.

Mit Verlaub, das wäre über die Konzentration auf genuin kunstsoziologische Ansätze einfacher zu haben gewesen und hat mit Hegel nichts mehr zu tun, zumal die Editionsbemühungen Annemarie Gethmann-Sieferts um dessen Ästhetik längst erwiesen haben, dass es ihm mit dem Vergangenheitscharakter der Kunst, innerhalb seines Systems übrigens völlig schlüssig, ernst war. Und dabei sollte man es belassen. Hegels meinungsstarke Konstruktion einer historisch-systematischen Kunstphilosophie bleibt eine imposante und in ihrer Ausführlichkeit nicht wieder unternommene Setzung. Sie ist aber selbst historisch.

Wenn es denn unbedingt Hegel sein muss, zeigt Wolfram Hogrebes sehr viel originellerer Vorschlag, dass man heute eher mit »einer neuen symbolischen Kunstform zu rechnen« habe, denn der »Künstler tritt … das Hoheitsrecht der Finalstruktur seines Gestaltens an das Ding ab«. Indem moderne Kunst ihrem sinnlichen Medium und dem Eigenwert des Materials Gerechtigkeit widerfahren lasse, umkreise sie das Wunder, dass Bedeutung überhaupt möglich ist. [1. Wolfram Hogrebe, Beuysianismus. Expressive Strukturen der Moderne. München: Fink 2011.]

Ich komme darauf zurück. Zunächst aber zur Zeit der Wirren. Die Postmoderne, das ist ihr rückblickend wirklich zu danken, hat mit der Pluralisierung des Theorieangebotes den öden Betrieb der siebziger Jahre, der Kunst auf Ideologiekritik oder später, da die Revolution sich nicht einstellen wollte, auf Utopie verpflichtete, hinweggefegt. Doch wodurch wurde die Ödnis ersetzt? Postmoderne hört größtenteils auf Diskurs, Differenz, Semiotik und (Krise der) Repräsentation. Foucault hat zum Glück wenig über Ästhetik ausgestoßen: Es gibt schlagendere Deutungen als diejenige von Velázquez’ Las Meninas zu Beginn der Ordnung der Dinge, und seine Bestimmung der modernen Literatur als »contre-discours«, einer Art Lichtschein durch die Dachluke des Kerkers der Diskurse, folgt erkennbar, obwohl raffiniert verklausuliert, noch immer dem Paradigma der Ideologiekritik. Was ist ein Autor? verhandelt eine bloße Trivialität, die in Aussicht gestellte »Formalontologie der Literatur« aber ist Foucault schuldig geblieben. Und natürlich: Die These, dass »das sprechende Subjekt verschwindet«, dementiert sich permanent selbst, manchmal behält auch Habermas Recht. Als kulturhistorisches Dokument liest sich freilich faszinierend, zu welchen Höhenflügen die französische Literaturkritik in den Sechzigern anzusetzen pflegte, einer Zeit, als bei uns Reich-Ranicki zum Star aufstieg und man mit Emil Staiger den »Zürcher Literaturstreit« ausfechten musste.

Versucht man heute, Studenten die Grundzüge der Dekonstruktion zu vermitteln, erntet man alsbald scheele Blicke. Tatsächlich wirkt deren Boom aus der Retrospektive wie ein böser Traum, obwohl sich die von ihr inspirierten und nach Hunderten zählenden Qualifikationsschriften ganz echt anfühlen. Derridas Abbau der Metaphysik funktionierte nur unter konsequenter Missachtung der pragmatischen Dimension des Sprachgebrauchs und der Erfindung eines »Phonozentrismus«, den es nie gegeben hat. Nüchtern betrachtet, hatte er nur ein hartes Argument zu bieten, die in der Auseinandersetzung mit John Searle entwickelte Kritik der Iterabilität: Wer Zeichen verwendet, muss ihre Wiederholbarkeit und damit Bedeutungskonstanz voraussetzen, was schon diachron illusorisch ist. Die »différance«, den unendlichen Aufschub semantischer Identität als Radikalisierung von de Saussures These differentieller Sinnkonstitution, benötigt man eigentlich nicht, denn es kann gar nicht anders sein. Nur vereinzelt wurden damals Stimmen laut, dass Dekonstruktion mit Ästhetik womöglich nichts zu tun hat. Derrida selbst hätte vermutlich zugestimmt.

Nur: Wenn Sinnkonstanz nicht garantiert werden kann, darf gefragt werden, warum das so ist, man interpretiert zwangsläufig und produziert auch so, wenngleich mit negativen Vorzeichen, ein »Überlieferungsgeschehen« von notwendigen Fehllektüren – Derridas eigentliche Arbeit. Es war insofern kein Zufall, dass mit Gadamer dann doch noch das »Gespräch« stattfand. Semiotik klingt immer gut, erklärt aber nichts. Gottfried Boehm bemerkte schon 1978, dass das Bild die Trennung von Form und Inhalt, Zeichen und Bedeutetem nicht mitmacht, und man sieht mittlerweile klarer, dass das Zeichen ein eher logischer denn ästhetischer Begriff ist. Fraglos kann man bei ausgesprochenen Wortkünstlern wie Adalbert Stifter oder den Vertretern Konkreter Poesie manch semiotisches Indiz zutage fördern, das der Deutung aufhilft. Es war aber nicht von Vorteil, dass ausgerechnet Roland Barthes hierzulande als bedeutendster Vertreter dieser Richtung gehandelt wurde. Er ist einer der Hauptverantwortlichen für das seit der Postmoderne endemische Gerede von Körper und Tod, von Leben und Welt als Text, das wenigstens so viel Unheil angerichtet hat wie der Widerspiegelungsbegriff im sozialistischen Lager. Der späte Barthes hat mit der Frage nach der Wollust der Lektüre einige ausbaufähige Notizen publiziert, es gibt zahlreiche Fans seines Buches über Fotografie, doch die notorische Weigerung, zugunsten von Abschweifung und Bedeutungsverschiebung stringente Theorie vorzulegen, lässt einen bald gelangweilt abwinken. Wer Semiotik wünscht, ist bei Umberto Eco besser aufgehoben. Solange ihr aber der ominöse »Referent«, vulgo: Weltbezug, Anathema ist, eben nicht gefragt wird, warum wir faktisch so überaus erfolgreich Zeichen verwenden, Welt bedeuten und damit verfügbar machen, ist man auch hinsichtlich einer tragfähigen Ästhetik keinen Schritt weiter gekommen.

Lyotards Erinnerung an das Erhabene als Ereigniskategorie kam mir immer seltsam überschätzt vor – als Versuch, den schönen Pariser Mai von 1968 noch einmal zu denken. Ebenso wenig ging es um einen Alternativbegriff zum Schönen angesichts der Moderne, sondern, wie bald deutlich wurde, um das sehr viel weiter gefasste Problem der Repräsentation. Es erwies sich aber, dass auch Repräsentation ein primär logischer Begriff ist und Ästhetik als um diese Frage zentrierte Disziplin partout nicht fokussierbar gerät, wie einschlägige Sammelbände [1. Ein Beispiel von vielen: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.), Was heißt »Darstellen«? Frankfurt: Suhrkamp 1994.] belegten.

Hinweise von Martin Seel und Hans Ulrich Gumbrecht, die reklamierten, dass man es in Sachen Kunst zunächst einmal mit Präsentationen zu tun habe, verhallten ungehört. Postmoderne französischer Spielart also, so ernüchternd sich das rückblickend ausnehmen mag, gab vielleicht Anregungen, von einer kohärenten ästhetischen Theorie aber keine Spur. Deshalb öffne ich nun die Post aus Übersee, stellenweise vergilbt. Um die analytische Ästhetik angelsächsisch-angloamerikanischen Zuschnitts ist es still geworden, schon daran zu erkennen, dass keine neue Einführungsliteratur, die heute das Studium der Originaltexte weitgehend ersetzt, vorliegt. Die Zeiten aber, in denen vielhundertseitige Abhandlungen hergestellt wurden, um darzutun, dass literarische Aussagen nicht unter Wahrheitsbedingungen stehen, sondern fiktionalen Status innehaben, sind offenbar vorbei, weshalb man Kurt Röttgers beipflichten darf, der zum Prozedere der Analytischen bemerkte: »Die subtile Untersuchung der Vielfältigkeit der Bedeutungen wie ›I can move my finger‹ scheint mir heute eine unnütze Vergeudung von Lebenszeit und sozialen Ressourcen zu sein.«

Die gegenwärtige Unattraktivität sprachanalytischer Ästhetik verdankt sich ihrem extrem kleinschrittigen Vorgehen, das nach der Kulturalisierung der Geisteswissenschaften nicht mehr prämiiert wird. Der eigentliche Geburtsfehler analytischer Philosophie im Gefolge von John Austin und Searle aber liegt in ihrem Common-Sense-Realismus sowie der naiven Annahme eines unproblematischen Weltbezugs von Sprache, beides erkennbar vormoderne Positionen. Zwar zeigt der Sprechakt, wie man Tatsachen erfolgreich in die Welt hineinfingiert, sie ist aber sprachunabhängig immer schon da und fungibel, womit sich analytische Philosophie jedoch in unauflösliche hermeneutische Zirkel verstrickt. Zudem wiegt die These vom Fiktionalen als »parasitär« zu schwer, Seel notierte vor einigen Jahren die notorische Schwierigkeit der Analytischen, auch nur die Existenz von Metaphern zu erklären, ebenfalls ein zentrales Ingrediens schon der Alltagssprache. Donald Davidson charakterisierte den metaphorischen Ausgriff dann als eher wirkungs- denn wahrheitsbezogen – eine Einsicht der antiken Rhetorik. Kurzum: Der Absprung der Sprachanalyse hinauf zur Ästhetik ist nie gelungen.

Wenn die Postmoderne mit ihrer Infragestellung von Sinn und Subjekt irgendwo gründlich aufgeräumt hat, dann hier. Deshalb fährt Reinold Schmücker in seinen Bearbeitungen des Ontologieproblems und mit dem Entwurf einer »Taxonomie von Funktionen der Kunst«, der sehr zu Recht das ästhetische Autonomiedogma zurückweist, einen mittleren Kurs von Minimalbestimmungen, der auch Hermeneutiker werden folgen können. Dennoch lässt sich des hartnäckigen Eindrucks nicht erwehren, dass diesen Vertretern wenn nicht die Kompetenz, so doch das Temperament für den Gegenstandsbereich recht eigentlich abgeht – jedenfalls kenne ich keine einzige überzeugende oder auch nur erschöpfende Analyse eines Artefakts aus der Feder (sprach)analytischer Philosophen.

Durchgesetzt haben sich in der deutschen Diskussion daher die anschlussfähigeren kognitivistischen Spielarten von Arthur Danto und Nelson Goodman, die eben keine mikrologischen Analysen von Satzbedeutungen liefern und nur moderat dem Ritual der Falsifikation frönen. Mehr noch als Dantos These, dass die Interpretation das Werk erst erschaffe, und der damit sehr viel konsequenter vorgeht als die deutsche Rezeptionsästhetik, hat Goodmans Sprachen der Kunst von 1968 (hier aber erst in den mittleren Neunzigern populär geworden) mit seiner stark komprimierten und anspruchsvollen, Notizen zur gegenwärtigen Lage der Ästhetik 197 doch umfassenden und sehr sauber gearbeiteten zeichensystembezogenen Repräsentationstheorie gewirkt, die den genialen Einfall dekliniert, nach dem jeder Bezugnahme (Denotation) eine Exemplifikation (Ausdruck) des Bezeichneten in Wechselwirkung gleichsam »antwortet«. Wenn also Ästhetik Semiotik und Repräsentation verhandeln möchte, wird sie hier fündig. Begriffe wie syntaktische versus semantische Dichte, analog und digital, Skript, Partitur und Probe sind heute so gängig wie kontrovers, Lambert Wiesing und Oliver Scholz konnten ihre eigenen Darstellungstheorien ganz wesentlich auf Goodman gründen. [1. Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik. Reinbek: Rowohlt 1997; Oliver R. Scholz, Bild, Darstellung, Zeichen. Philosophische Theorien bildlicher Darstellung. Freiburg: Alber 1991.]

Goodmans zweiter Streich betrifft das hartnäckige Ontologieproblem der Kunst. Statt die Was-Frage zu stellen, schlägt das Kapitel »Wann ist Kunst?« aus seinem sehr viel umstritteneren Buch Weisen der Welterzeugung von 1978 vor, die Angelegenheit temporal zu verflüssigen. Nahegelegt ist damit zumindest ein Neuansatz in Richtung Institutionentheorie der Kunst, der in ideologiekritischer Absicht vor Jahrzehnten schon von Peter Bürger angeregt, aber nicht ausgeführt wurde. Eine solche Stoßrichtung könnte den wieder vieldiskutierten, doch argumentativ schwach munitionierten Werkessentialismus Heideggers umsteuern, ohne dass man wie George Dickie, der amerikanische Vertreter der Institutionentheorie, die Existenz von ästhetischen Objekten schlankweg leugnen müsste. Mehr Gilb, leider. Auch die phänomenologische Ästhetik hat Konjunkturverlust. Ihr penibel entwickeltes Instrumentarium ist zur Analyse der Anschauungsdimensionen und Sinnschichten von Einzelwerken bildender Kunst und Literatur hervorragend geeignet, aber ihr behutsames Vorgehen passt ebenfalls schlecht zum gegenwärtigen Temperament und Tempo des Kulturbetriebs. Vielleicht tendierten deshalb einst stark der Phänomenologie verpflichtete Literaturwissenschaftler wie Eckhard Lobsien und Wolfgang Iser schon vor zwanzig Jahren zur Dekonstruktion. Angeboten auf dem heutigen Theoriemarkt wird zwar eine denkbar breite Palette von »weichen« Phänomenologien des Körpers, des Bildes, der Gefühle, des Fremden und selbst der Kultur, wozu auch passt, dass neben dem unvermeidlichen Heidegger gern der tastende Ansatz des späten Merleau-Ponty mit seiner Emphase leibzentrierten Ausdrucks und Erlebens zitiert wird, die Fundgrube der reinen Lehre, die Husserliana, aber eher selten geöffnet wird.

 

Man tut der Phänomenologie mit Entgrenzungsabsichten keinen Gefallen. Sie verschwimmt sofort ins Unverbindliche, wenn der Fokus von Wahrnehmungs- und Konstitutionsanalyse verlassen wird, was bei prominenten Vertretern dieser Richtung fast immer bloße, mit irritierend pastoralen Obertönen vorgetragene Meinungen zur Folge hat. Es bleibt schwer, sich ein phänomenologisches Konzept von Kunstgeschichte oder Literarhistorie vorzustellen, was am ursprünglichen Programm selbst liegt: Husserl hat nie eine Theorie des objektiven Geistes intendiert, Phänomenologie bleibt noch stets Subjektphilosophie und öffnet sich im Grunde wenig den benachbarten Geistes- und Wirklichkeitswissenschaften, eine Erfahrung übrigens, die vor Jahrzehnten schon die phänomenologisch inspirierte Soziologie von Alfred Schütz und Thomas Luckmann machen musste.

Adornos Enkel. Die Schule um Albrecht Wellmer, hervorgetreten mit Arbeiten von Christoph Menke und Ruth Sonderegger, setzt dagegen »von oben« an, indem sie Vermittlungsarbeit betreibt zwischen Adornos Negativitätsästhetik, Gadamers Hermeneutik und Derridas Dekonstruktion. Hinter den stets höchst scharfsinnigen argumentativen Manövern steht insgesamt – und das gilt vornehmlich für Wellmer selbst – das Interesse, Adornos Vermächtnis zu sortieren und zeitgemäß präsent zu halten. Die Arbeiten kranken jedoch an einem empfindlichen Mangel: Wird einmal, was selten genug vorkommt, ein Primärtext gründlich untersucht, so geschieht dies stets nach Maßgabe altehrwürdiger Begriffe, mithin deduktiv, was bedeutet, dass das Besondere eines Artefakts hier eigentlich nie plastisch wird. Wellmer-Schule bleibt Philosophenästhetik im Dienste des Allgemeinen. Ästhetische Kommunikation? Eine systemtheoretische Ästhetik war nie beabsichtigt.

 Die Kunst der Gesellschaft von 1995, nicht Luhmanns bestes Buch, wurde zumindest vom Feuilleton gründlich missverstanden, der Funktionsbestimmung von Kunst als Schärfung des Kontingenzbewusstseins widersprochen, der sehr viel dichtere (und schwer zugängliche) Aufsatz Weltkunst aber vergleichsweise wenig gelesen. [1. Niklas Luhmann, Weltkunst (1990). In: Jürgen Gerhards (Hrsg.), Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997.]

Während der Hochzeit der Expansion von Luhmanns Lehre auch auf andere Disziplinen in den neunziger Jahren entstanden die üblichen Sammelbände, doch Autoren wie Hans Ulrich Gumbrecht, Gerhard Plumpe und Dirk Baecker versuchten eigenständige Weiterführungen. Allerdings hat sich der Hype um Luhmanns Bau längs gelegt, er wird nun wieder dort diskutiert, wo er hingehört: in der Soziologie. Das Unbefriedigende dieser Versuche, trotz aller Hinweise auf die enge Kopplung von Wahrnehmung und Kommunikation im Funktionssystem Kunst liegt wohl darin, dass der Kommunikationsbegriff neutral gehalten ist und keine Ausstattung mit Typenschildchen wie »ästhetische Kommunikation« (die meines Wissens bei Luhmann auch nicht vorkommt) verträgt. Man mag über Ästhetisches kommunizieren, zum Beispiel im Kunstsystem, die Kommunikation selbst aber ist nicht ästhetisch.

Das ganz Andere? Geschlecht und Ästhetik. Hier möchte ich es mir sehr einfach machen. Jutta Held, gewiss nicht der Misogynie verdächtig, artikulierte schon 1985 große Skepsis hinsichtlich der Annahme, es gäbe eine distinkte weibliche Ästhetik, und die amerikanische Philosophin Susan Haack hat die in den USA allerdings viel aufgeregter diskutierte Frage nach einer »weiblichen Epistemologie« längst als politische Unterwanderung der Wissenschaft gebrandmarkt. [1. Jutta Held, Was bedeutet »weibliche Ästhetik« in der Kunst der Moderne? In: Kritische Berichte, Nr. 3, 1985; Susan Haack, Knowledge and Propaganda. Reflections of an Old Feminist. In: Dies., Manifesto of a Passionate Moderate. Unfashionable Essays. University of Chicago Press1998.] Die absurden Konstruktionen beispielsweise Luce Irigarays und Judith Butlers lasse ich auf sich beruhen. Auch wenn es mancher nicht gefallen wird, sieht es nach drei Jahrzehnten peinigender Lektüre tatsächlich so aus, als gälten im Ästhetischen allein überzeugende oder verfehlte Realisierungen. Darüber kann man dann reden.

Dreimal Intensität, dann Darwin. Nach dieser eher enttäuschenden Sichtung der Postmoderne nähere ich mich ausbaufähigeren Positionen. Martin Seel hat mit der Ästhetik des Erscheinens im Jahr 2000 das richtige Buch zur richtigen Zeit vorgelegt. Hier wird in einer begriffsphilosophischen, in gewissem Sinne »kantianisch« orientierten Abhandlung die Disposition jedes Gegenstandes für die unendliche ästhetische Betrachtung im Dienste einer »gesteigerten Intensität von Gegenwart« untersucht. Obwohl das Ästhetische zwischen der Bestimmung der Erscheinung als »Gebrauch von Wahrnehmungsprädikaten« gegenüber der ästhetischen Erkenntnis als nichtpropositional changiert und sich Seel nur referentielle ästhetische Effekte scheint vorstellen zu können, bietet das Buch, das insgeheim den Abschied von der Negativitätsästhetik intendiert, doch reichlich metaphysikfrei gearbeitete Argumente. Einerseits betreibt auch Seel letztlich Vermittlungsarbeit im Dienste einer erweiterten Vernunftphilosophie, andererseits: Was sollen Philosophen denn sonst tun?

Anders gelagert ist das Problem der theoretischen Fassbarkeit von Intensität mit Hans Ulrich Gumbrechts Ansatz zu einer Präsenzästhetik; ganz zweifellos wird auch hier ein Kernbereich des Ästhetischen rehabilitiert. Nur ist er eben erst in einem allzu kurzen Abriss angedacht, [1. Hans Ulrich Gumbrecht, Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt: Suhrkamp 2004.] der theoretisch deshalb noch nicht überzeugt, weil die »Insularität des ästhetischen Erlebens«, die Gumbrecht für Präsenzeffekte braucht, mit Heideggers Seinskontinuum und Bachtins Karneval nicht zu haben ist, wenn sie zugleich im Alltag möglich sein soll – auf des Ersteren schwer metaphysisches »Ereignis« aus dem Kunstwerk-Aufsatz greift Gumbrecht aus gutem Grund nicht zurück, die »Herausforderung, einen von Innovation und Überraschung losgelösten Ereignisbegriff zu denken«, der dann auch noch Epiphanien geben soll, gerät so aber widersinnig, denn ein Ereignis ohne merkbare temporale Markierung ist keins.

Anstatt tragfähige Theorie auszuarbeiten, geht Gumbrecht bereits über die Dörfer, indem er das Thema als »breite Gegenwart« (sein vielleicht noch originellerer Gedanke), Stimmung und Latenz nur mehr variiert. Die immer länger werdenden Einleitungen und Danksagungslisten an über den Globus verstreute Personen zeigen allerdings auch, dass sein Verlangen nach dem »Gefühl, daß man im gleichen Rhythmus schwingt wie die Dinge dieser Welt«, vom permanenten Jetlag des Vielbeschäftigten zeugt. Wir anderen kommen eigentlich noch ganz gut klar. Dennoch wurde bei beiden Ansätzen eines breiten, nicht mehr kunstspezifischen Begriffs des Ästhetischen die Vereinseitigung unserer epistemischen Instrumentierung zu Recht kritisiert. »Denn was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?«, fragte Alexander Gottlieb Baumgarten im Paragraphen 560 seiner Aesthetica, dem monströsen Gründungsdokument der Disziplin von 1750, und es ist für die aktuelle Situation sprechend, dass erst vor vier Jahren eine komplette Übersetzung erschien; schon sein Programm einer Erhellung der »cognitio sensitiva« sollte ja den Weg einer Zurüstung unseres erkennenden Verhaltens in der Welt weisen.

Karl Heinz Bohrers Intensitätskonzept dagegen hat stets auf ästhetische Irreduzibilität bestanden; seine Zwischenrufe gegen den Mainstream der ideologiekritischen Siebziger und die postmoderne Liquidierung eines produktiven Subjekts in den Achtzigern waren unverzichtbar. Die Verweigerung einer Indienstnahme des Ästhetischen für pädagogische, sozial- und vernunftkritische Zwecke, zuletzt noch sein Einspruch gegen die Ästhetisierung der Lebenswelt, wirft jedoch immer brennender die Frage nach dem Zweck der Kunst auf, wenn sie sich Nutzungsansprüchen zu verweigern hat. Gegen den Wunsch nach einem systematischen Aufriss seiner Ästhetik, der hierüber aufklären könnte, aber erweist sich Bohrer bisher als resistent. Stets wird das Programm via induktiver Studien implizit mitgeteilt. Über die Ästhetik von Terror, Schrecken und der Diskontinuität des ästhetischen Subjekts führte der Weg zur negativen Zeiterfahrung des Abschieds als Strukturgesetz einer Literatur von Erheblichkeit, woran sich folgerichtig ein Ausflug in die Negativitätsästhetik selbst anschloss, um mit einer eigenen »Tragödienschrift« quasi zu den Müttern zurückzukehren. Tatsächlich aber kenne ich keine Gesamtinterpretation eines umfänglicheren Stücks Literatur aus Bohrers Feder, sein Zugriff bleibt stets punktuell auf exzeptionelle Passagen konzentriert, aus denen dann manchmal gar zu weitreichende Konsequenzen gezogen werden, weshalb sich die Vermutung aufdrängt, dass der Einsatz dieser interventionistischen Ästhetik sich so »plötzlich« ereignet wie das von Bohrer gefeierte ästhetische Zeitbewusstsein – und eine Systematisierung, etwa zwischen den Buchdeckeln eines schlanken stw-Bandes, gar nicht verträgt.

Obwohl an völlig anderen Fragen als Bohrer und Gumbrecht interessiert, ist Winfried Menninghaus einer der letzten Philologen, die noch emphatisch ästhetische Theoriebildung betreiben, ansonsten nämlich ist es in den Philologien ziemlich kahl. Die wichtige Studie über den Ekel von 1999 nahm sich erfolgreich vor, ein »kardinales Desiderat bedeutender Ästhetiker« aus der Welt zu schaffen; schon distanzierter aufgenommen wurde sein Buch Das Versprechen der Schönheit (2003) als Versuch einer Zusammenführung von Kunstphilosophie, empirischer Forschung und Evolutionstheorie, um den Kernbegriff der abendländischen Ästhetik zeitgemäß zu denken. Nur eben: Sonst macht es keiner! Menninghaus blieb am Ball und legte 2011 mit Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin einen in Umfang und Ertrag zwar überschaubaren, aber mit aufwendigen Theoriemitteln operierenden Entwurf evolutionärer Ästhetik vor, der nicht jedem behagt, dessen Versuch jedoch, denkt man an die sonst übliche Funkstille zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zumindest eine Anbindung vorzuschlagen, Respekt verdient.

 Neue Freunde. Zunächst unerwartet, doch mit einer bereits beachtlichen Forschungsleistung im Gepäck, schließt die Kunstgeschichte seit knapp zwei Jahrzehnten ebenfalls zur Partnerin der ästhetischen Diskussion auf. Um nur die Schwergewichte zu nennen: Hans Beltings Bild-Anthropologie (2001) untersucht das Verhältnis des Bildes, dessen ontologischer Status noch immer völlig ungeklärt ist, zu seinen »Trägermedien oder Gastmedien«, und das anhand der »überzeitlichen Themen wie Tod, Körper und Zeit«, Horst Bredekamps Theorie des Bildakts (2010) versteht sich als Aufklärungsarbeit dessen, was Bilder mit uns anstellen, Beat Wyss fahndet nach dem jeweiligen ikonisch-ästhetischen Zeitgeist, Gottfried Boehm erkundet mit der Frage Wie Bilder Sinn erzeugen (2007) einen eigenen, nicht auf Sprache rückführbaren Logos des Ikonischen überhaupt. Kunstgeschichte, das war allerdings noch nie anders, geht stets vom konkreten Artefakt, dem Besonderen aus, lehrt insofern aisthesis und ist schon deshalb willkommenes Antidot zur philosophischen Begriffsästhetik, der ja allzu oft die eigentliche Kunsterfahrung abhanden kommt.

Man kann aber auch zuviel des Guten tun. Für Thomas Mitchell verhandelt Bildwissenschaft »Philosophie plus Bildende Künste, Film, Volksglaube, Massenkultur und Ideologie«, die mit fast dem gesamten Theoriegut der Postmoderne angenähert werden soll. Für ihn gibt es nur »mixed media, and all representations are heterogeneous; there are no ›purely‹ visual or verbal arts, though the impulse to purify media is one of the central utopian gestures of modernism«. Damit ist eigentlich nur eins gewonnen, die Notwendigkeit, noch viele weitere Bücher zum Thema zu schreiben. Georges Didi-Huberman setzt noch einen drauf und zitiert neben der vollständigen postmodernen Palette auch die literarische klassische Moderne, sodass das doch eher schlichte Anliegen einer Erkundung des »Visuellen« geradezu erdrückt wird. Da hilft es wenig, dass er es mit der – kunstnahen? – Dignität des Numinosen ausstattet. Bei Licht besehen wird nichts anderes gefordert als ein möglichst unbefangenes Eingehen auf das Bild. Das war aber schon der (schöne) Traum von Max Imdahls »sehendem Sehen«. Abschied vom Schein. »Daß das Phänomen sich anders zeigt, als es ist, macht sein ganzes Wesen aus, nicht liegt dahinter seine eigentliche Wahrheit versteckt.

Die Struktur der Unfaßlichkeit muß also in dem Sinne anerkannt werden, daß das Unfaßliche selber dasjenige an dem Phänomen ist, was sich nicht fassen und bestimmen läßt.« So Bubner, doch solche Sätze möchte man eigentlich nicht mehr lesen; genauso wenig wie die immer wieder aufs Neue rekonstruierten Positionen von Platons Kritik bis Nietzsches Überbietungsrhetorik des Scheins. Als wesensloses Wesen der Kunst ist er wohl ausgereizt, nicht zuletzt, weil ihn Adornos utopische »apparition« als Vorschein des gesellschaftlich Unabgegoltenen zu stark belastet hat. Die metaphysische Hypothek jedenfalls ist so von Beginn an unvermeidlich. Zudem hat der Siegeszug der visuellen Medien bis in die Kapillaren der Alltagswelt dafür gesorgt, dass heute eigentlich überall Schein ist, hinter dem sich digitale Codes, also Differenz, aber kein Wesen verbirgt, was bekanntlich zurückwirkte auf die Kunstphilosophie. Die Befürworter einer Ästhetisierung der Lebenswelt wie Wolfgang Welsch und Gernot Böhme haben insofern schleichend recht behalten, auch wenn die hochfliegenden Spekulationen über Cyberspace, Simulation usw., die Florian Rötzer 1991 in der Anthologie Digitaler Schein versammelte, sich nicht erfüllt haben.

Deshalb erlaube ich mir ein Plädoyer für den Sinn. Während es schwerfällt, nichtdiskursive oder nichtpropositionale Wahrheit zu denken, auf die Kunst heute kaum noch jemand verpflichten mag, ist das beim einige Etagen tiefer angesiedelten Sinn leichter, selbst wenn mit Luhmann Sinn differenzlos zu verstehen, also kein Nichtsinn denkbar ist und die Klagen Gumbrechts über semantische Überangebote Einiges für sich haben. Nun ist aber unstreitig, dass die moderne Kunst den Weg der Reizverknappung, Verrätselung und Sinnproblematisierung gegangen ist. Wäre Kunst somit nicht die privilegierte Instanz, dem Sinn als Arbeitsform des Geistes nachzudenken? Zwar ist sie, mit einem Lieblingsbegriff von Alois Hahn, vorzüglicher »Sinngenerator«, aber man bemerkt die »Hintergrundserfüllung« (Arnold Gehlen) des gar zu Selbstverständlichen ja stets erst, wenn sie wegfällt, was mit Kants Annahme einer spielerisch-ästhetischen Selbstkontrolle rationaler Kompetenz nur noch sehr wenig zu tun hat. Ausgerechnet Gottlieb Frege erlaubte in seinem berühmten Aufsatz Über Sinn und Bedeutung von 1892 »Färbungen und Beleuchtungen, welche Dichtkunst und Beredsamkeit dem Sinne zu geben suchen«.

Dann ließe sich weiterfragen, ob Sinn nicht überhaupt wesentlich modal gegeben ist, vielleicht sogar eine ästhetische Indexikalität niemals abstreifen kann. Vorsichtige Notizen Husserls zum lebensweltlich gefärbten Status jeder Art von kognitiver »Typik« und sein Bestreben, noch die Logik auf Erfahrung zurückzuführen, lassen sich in diese Richtung ausbauen; Dieter Mersch versteht Auratisches nicht mehr benjaminianisch, sondern als »Differen zum Symbolischen, zur Signifikanz des Zeichens«, was in Richtung jeweils höchst ephemerer Sinnfärbung lesbar wäre. [1. Dieter Mersch, Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt: Suhrkamp 2002.]

Was Sinn ist, weiß kein Mensch. Bohrer und Luhmann forderten fast zeitgleich, die Ästhetik möge sich endlich vom Gespräch mit Philosophen lösen, denn diese diskutierten letztlich kunstferne Probleme – aber gerade bei Fragen nach Genese und Kontur von Sinn bleibt Philosophie weiterhin gefragt. Die »harten« Neurowissenschaften, deren Nähe ebenfalls gesucht wurde, können mit dieser Frage nichts anfangen, wissen sie doch lediglich mitzuteilen, dass messbares ästhetisches Wohlgefallen mit der Gehirnaktivität beim Schokoladeessen oder bei gutem Sex vergleichbar sei.

Und die ästhetische Differenz, wenn doch überall und alles Sinn ist? Dieses Problem kann man auf niedriger Flamme kochen, wenn man mit Jan Mukařovský Substanzannahmen außen vor lässt und Kunst als »Vorherrschaft der ästhetischen Funktion und des ästhetischen Werts« im Sinne einer regulativen Idee fasst. Wenn das als Wunsch nach einer Reformulierung der Hermeneutik verstanden würde, wäre ich einverstanden: Es gibt ekstatisches und vielerlei nichtsprachliches Verstehen, was durch den langen Schatten von Gadamers harmonistischem Entwurf verdeckt wurde. Infinit ist es allemal, und Ecos Sottise über die sehr viel reichere hermeneutische Tradition einer Umkreisung des Unbegrifflichen: »Man lauscht, im Geist der Treue, einer Stimme, die von jenem Ort her spricht, an dem es keine Konventionen gibt, denn diese Stimme ist die des ersten Menschen«, ist nicht wiederholt worden.

Es trifft allerdings auch zu, dass die allermeisten Vorschläge zur Theoriebildung im Moment ziemlich »friedlich« sind, schon der Terminus »ästhetische Erfahrung«, auf den man sich geeinigt hat, besitzt ja unstreitig seine piefigen Valenzen. Bohrers Terror und Schrecken als Essenz der ästhetischen Situation ist im Grunde die einzige aktuelle Position, die sich die Schockwirkung der historischen Avantgarden produktiv anverwandelt hat. Kunst kann auch sein wie »ein Hieb ins Gesicht mit dem Baseballschläger, oder besser, wie ein Schlag ins Genick. Man sieht den Schlag nicht kommen, er haut einen einfach um«, so das berühmte Zitat von Bruce Nauman. Auch dieser Vorgang macht Sinn, ohne dass nach der Intentionalität des Subjekts gefragt würde. Man probiere es einfach aus.

 Apropos Historizität. Deutsche Historiker gelten als außerordentlich kunstfern, was freilich am lange Zeit dominanten Paradigma der Sozialgeschichte lag, mit der sich heute nirgendwo mehr reüssieren lässt. Vielmehr bieten Kulturhistoriker wie Peter Burke oder Bernd Roeck instruktive Studien über den Wandel der Verwendungsweisen des Bildes an, von der eine Ästhetik diachroner Tiefenschärfe nur profitieren kann. Die oben genannten eigentlichen Kunsthistoriker stünden ohnehin nicht an, das Formular der neu so getauften »Historischen Bildwissenschaft« zu unterschreiben. Auch gibt es nach David Wellberys wohlwollend aufgenommener Kompilation, die Literarhistorie allerdings in stories auflöst, [1. David E. Wellbery (Hrsg.), A New History of German Literature. Cambridge: Harvard University Press 2005.] erste Versuche, die altehrwürdige Disziplin neu zu denken. Bleibt es, besonders für die Zeit vor 1750, zwar schwer, an die ästhetische Erfahrung historischer Individuen heranzukommen, so lassen sich doch der Gebrauch der Künste und die Erwartungen an sie mit dem heute verfügbaren Besteck recht gut auseinanderlegen. Wunschliste, moderat. Warum erträgt der Mensch nicht nur, sondern produziert gar willentlich Fiktionen, während ihm andererseits die Erkenntnistheorie nicht scharf genug konturiert sein kann? Mit Kompensationstheorien kommt man hier nicht weiter, es sei denn, wir hätten schon seit den Höhlen von Lascaux kompensiert. Das Statement Dieter Henrichs und Wolfgang Isers mit dem bemerkenswerten Hinweis, Fiktion sei »die Verletzung der Referenz schlechthin«, lohnt unbedingt das Nachlesen, schon weil sich seitdem nicht mehr viel getan hat. [1. In: Dieter Henrich /Wolfgang Iser (Hrsg.), Funktionen des Fiktiven (Poetik und Hermeneutik 10). München: Fink 1983.]

Man kann bedauern, dass auf den Bibliotheksexemplaren von Sartres Studie zum Imaginären fingerdick Staub liegt, seine Koppelung der Möglichkeit von fantasiegespeister Überschreitung des bloßen »In-der-Welt Seins« an die Fähigkeit, »eine Irrealitätshese zu setzen«, ist immerhin bedenkenswert; angloamerikanische Versuche, in einer umfassenden Theorie der Kreativität suggestive Imagination als notwendigen Korrespondenzeffekt von gelingender Repräsentation zu begreifen, werden hier kaum wahrgenommen. [1. Vgl. Kendall A. Walton, Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge: Harvard University Press 1990.]

Auch könnte es hilfreich sein, das 37. Kapitel von Arnold Gehlens Der Mensch nachzuschlagen, in dem eine anregend-abgründige »Theorie der Phantasie« angedacht wird, derzufolge »der Mensch als Phantasiewesen so richtig bezeichnet wie als Vernunftwesen« wäre. Tatsächlich betont Gehlen analog zu Sartre überaus einleuchtend, dass bereits die elementarsten Handlungsentwürfe ohne antizipative Fantasietätigkeit nicht möglich wären. Die Lage also ist im Vergleich zu Bubners Aufsatz ungleich komplexer geworden, doch sollte man der ominösen Unbestimmbarkeit des Ästhetischen nicht gar zu bereitwillig aufsitzen, denn insgesamt ist unsere theoretische Situation komfortabler als vor vierzig, ja zwanzig Jahren. Und dennoch: Die gute alte Tante Ästhetik ist zwar sehr in die Breite, nicht aber in die Tiefe gegangen. Sie hätte heute mitzuarbeiten an einem theoretischen Rahmen, der die Komplexisierung unserer Weltbezüge ernsthaft ins Auge fasst, anstatt eifersüchtig über angestammte Hoheitsgebiete zu wachen.


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