Merkur, Nr. 304, Oktober 1973
Konservative Reflexionen eines Nicht-Konservativen
von Iring Fetscher
Im politischen Leben pflegt man diejenigen als »konservativ« zu bezeichnen, die die Verhältnisse »konservieren« wollen, weil sie mit dem Status Quo, der sie oder ihre Gruppe mehr oder minder privilegiert, zufrieden sind. Nimmt man zugleich an, daß mit der industriellen Entwicklung der modernen Gesellschaften wachsende Bildung und mit wachsender Bildung Anspruch auf politische Mitbestimmung sich ausbreiten, dann stehen »Konservative« notwendig gegen Demokratisierung oder doch gegen deren (vermutete und/oder logische) Konsequenzen: die Beseitigung von (faktischen) Privilegien. Geht man nur davon aus, daß jeder Konservativismus nichts andres ist als eine mehr oder minder geschickte Rechtfertigung des Status Quo, der durch Massenforderungen bedroht wird, dann kann es nur eine konservative »Ideologie« geben, keine legitime und allgemein — für alle Glieder der Gesellschaft gültige und verständliche — konservative Theorie.
Aber ist das so und muß das so sein? Es müßte nur dann so sein, wenn
- durch die industriell-kapitalistische (und industriell-bürokratisch-sozialistische) Entwicklung lediglich Interessen von privilegierten Minderheiten bedroht würden, oder wenn die Bedrohung dieser Minderheits-Interessen das einzige wäre, was konservativen Theorien am Herzen läge;
- wenn nicht auch oder sogar vorwiegend Verhältnisse, Haltungen, »Werte« in Gefahr stünden, von deren Existenz die »Qualität des Lebens« der Gesamtbevölkerung in hohem Maße abhängig ist. Wäre das nämlich der Fall, dann könnte es durchaus einen »demokratischen Konservatismus« geben in einem Sinne, der weit über den bloßen Hinweis auf den Respekt vor demokratischen Institutionen hinausgeht, den man mit einer solchen Bezeichnung vielleicht verbindet.
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Seit einiger Zeit gibt es nun ganz offensichtlich Probleme, die einen solchen Charakter haben. Ich meine die Fragen der Wasser- und Luft-Verschmutzung sowie der Zerstörung der natürlichen Umwelt (der »Erholungsgebiete«).
Die „Sauberkeit“ des Rheins war noch vor etwa 10 Jahren das „Anliegen“ mehr oder minder belächelter Romantiker und Naturapostel; heute wissen alle, daß es sich um eine Lebensfrage handelt. Die Zersiedelung der Landschaft und die Zerstörung von Erholungsgebieten durch Straßenbau, Flugplatzbau, Fabrikbau usw. beginnt mehr und mehr Menschen zu beunruhigen; und die Unwohnlichkeit unserer Städte, die eine produzierte, keine naturwüchsige ist, wurde gleichfalls nicht von Konservativen entdeckt. In all diesen Fällen aber handelt es sich um Zerstörungen, die dem zu danken sind, was man noch vor kurzem ohne Scham Fortschritt zu nennen pflegte und was manchenorts noch immer so genannt wird. Gewiß können diese Schäden zum erheblichen Teil auf den »ungeplanten kapitalistischen Fortschritt« zurückgeführt werden: darauf, daß die »externen Kosten« vom einzelnen Unternehmer rücksichtslos auf die Gesellschaft abgewälzt werden. Aber die Tatsache, daß es ähnliche Phänomene in bürokratisch-sozialistischen Ländern gibt, macht deutlich, wie sehr auch deren politische Eliten, vom Fetisch des industriellen Wachstums beherrscht, über dem Fortschreiten das »Bewahren« (das Konservieren der natürlichen Ressourcen und der Natur als Erholungsumwelt) versäumen.
Konservative Betrachtungsweisen zwingen sich auf den genannten Gebieten jedem verantwortungsbewußten Politiker auf. Innerhalb der sozialdemokratischen Partei ist es paradoxerweise der mehr »konservative« (technokratische) Flügel, der noch immer das Wirtschaftswachstum verabsolutiert — weil nur bei wachsender Volkswirtschaft genügend Mittel für Reformen abgezweigt werden könnten, ohne daß stärkere Eingriffe in die »freie Wirtschaftsordnung« notwendig würden, die man vermeiden möchte — während bekanntlich die »Linken« vor dieser Vergötzung des Wachstums warnen. Aber auch wenn man noch ein paar Jahre so »weiterwursteln« kann, führt doch jede ernsthafte Berechnung des technisch Möglichen zur Erkenntnis einer absoluten — gar nicht mehr so weit entfernten — Schranke. Dann wird »Bewahren« endgültig den Vorrang gegenüber Wachstum und Fortschritt bekommen müssen — der neue Fortschritt wird darin bestehen, ihn nicht mehr zu verabsolutieren.
Auf diesem materiellen Gebiet leuchtet die Notwendigkeit einer »konservativen« Betrachtungsweise am leichtesten ein. Diese kann auch von einer sozialistischen Gesellschaftsordnung übernommen werden, die sich ihrer Lage bewußt wird und nicht nur für den nächsten »Jahresplan«, sondern für die nächsten Generationen plant.
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Anders liegen die Dinge auf dem Gebiet der moralischen Haltungen und Werte. Hier, wo das Unheil nicht so offen zutage liegt, sehe ich noch keine Anzeichen dafür, daß auch die »progressiven« Sozialisten umzudenken beginnen. Jedenfalls ist in den westlichen Ländern nichts davon zu spüren, eher schon unter Intellektuellen in den sozialistischen Staaten. Historische Studien haben gezeigt, daß die Klassiker der modernen Volkswirtschaftslehre (Smith, Ricardo, J. S. Mül) keineswegs die zynischen Anwälte des nur-ökonomisch denkenden Individuums waren, als die man sie gerne hinstellt. Sie alle hatten zugleich »ein Herz für die Armen« und forderten öffentliche wie private Hilfe zur Erleichterung ihres Loses. Aber solche Einstellungen waren überkommene »Überreste« meist religiöser Gesinnung, nicht logische Folgerung oder integraler Bestandteil ihrer Theorie. Die Quintessenz dieser Theorie hat sehr viel offener und zynischer schon Bernard de Mandeville in seiner »Bienenfabel« ausgesprochen: unser Wirtschaftssystem beruht nicht auf dem individuellen Wohlwollen, sondern auf dem Zusammenspiel der Egoismen, aus dem — meinten die Klassiker — das Gemeinwohl (unbewußt und ungewollt) resultiert.
Die sozialistischen Theoretiker haben diese harmonistische Unterstellung kritisiert, aber sie haben — jedenfalls die marxistischen unter ihnen — das System weder mit moralischen Argumenten kritisiert noch von moralischen Impulsen seine Überwindung erwartet. Sie setzten auf die Erkenntnis der kollektiven Frustration der kapitalistischen Hauptklasse: der Industriearbeiterschaft und erwarteten von ihrem bewußten Klasseninteresse, das sich politisch organisiert, die Aufhebung der alten Gesellschaftsordnung. Es geht mir hier nicht um die Diskussion der Revolutionsprognosen von Karl Marx und ihrer durch die Geschichte erheblich modifizierten Einlösung, sondern nur darum, daß weder die kapitalistischen Klassiker noch die Marxisten auf etwas anderes bauen als auf die Kalkulation rationaler Vorteile: die Klassiker auf individuelle Kalkulation im Rahmen eines vorgegebenen (durch die bürgerliche Revolution freigesetzten) Wirtschaftssystems; die Marxisten auf eine kollektive Kalkulation (der Arbeiterklasse), auf Grund deren dieses System als unangemessen, weil die Klasse notwendig benachteiligend, aufgehoben werden soll.
Die Tatsache, daß auch der marxistische Sozialismus lediglich auf Interessen zählt, ist zwar theoretisch allgemein bekannt. Er wird aber vielfach dadurch verdeckt, daß gerade die engagiertesten Sozialisten — wie Marx, Engels, Lasalle, Lenin, Bosa Luxemburg, Fidel Castro — nicht selbst aus der Arbeiterklasse stammen und aus (zumindest auch) moralischen Motiven sozialistische Revolutionäre wurden. Aber ihre eigenen Motive haben Sozialisten immer für selbstverständlich gehalten. Sentimentalität lag ihnen fern.
Noch weniger dachten sie daran, moralische Forderungen an den »Bourgeois« zu stellen oder allgemein ein bestimmtes zwischenmenschliches Verhalten zu verlangen. Sie waren davon überzeugt, daß die Menschen einander hilfreich und gütig begegnen würden, wenn einmal die sozialen Interessengegensätze beseitigt wären. Die »natürliche Güte« des Menschen war zumindest stillschweigend ihre Voraussetzung. Für die Herstellung einer Gesellschaft aber, die die objektiven Bedingungen allgemeiner Güte und Menschlichkeit schafft, setzten sie nüchtern und »wissenschaftlich« nicht auf moralische Impulse, sondern auf bewußt gemachte Interessen.
Die Argumentation schien ganz einfach und überzeugend: Will eine Klasse, die die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung bildet, sich kollektiv befreien, so kann sie das nur, wenn sie zugleich jede Herrschaft und jede Ausbeutung von Menschen abschafft. Aber wie immer es sich mit einer klassenlosen und herrschaftsfreien Gesellschaft auch verhalten mag: zwischen der Gegenwart und ihr liegt eine recht lange Übergangszeit, während der die Gesellschaft von den moralischen Regeln und Hemmungen Gebrauch machen muß, die bislang ein einigermaßen erträgliches Zusammenleben ermöglicht haben — trotz Ausbeutung und Herrschaft. In den sozialistischen Ländern hat man solche Notwendigkeit einer sozial anerkannten, durch Erziehung und Vorbild vermittelten Moral auch erkannt und sucht sie neu zu beleben. Sieht man sich die sittlichen Regeln an, die den »Erbauern des Kommunismus« auf den Weg gegeben werden, dann stellt sich heraus, daß die meisten — eigentlich alle — aus der Tradition vorsozialistischer Gesellschaften stammen.
Es kann ja auch gar nicht anders sein. Denn der Moral kam immer die Funktion zu, das reibungslose Zusammenleben von Mächtigen und Ohnmächtigen, Reichen und Armen, Befehlenden und Gehorchenden zu ermöglichen; und auch in den sozialistischen Gesellschaften gibt es diese Unterschiede — manche offen eingestanden (Unterschiede politischer Macht und des sozialen Ansehens), andere trotz widerstreitender ideologischer Thesen (wirtschaftliche Unterschiede z. B., die nicht durch individuelle Leistung vermittelt sind; denn Leistungslohn im weitesten Sinn ist ja theoretisch gerechtfertigt).
Mir scheint nun, daß es eine legitime Funktion moralischer Denker ist, die Notwendigkeit (ja Unentbehrlichkeit) moralischer Regeln, Haltungen und Gewohnheiten immer wieder ins Bewußtsein zu rufen und der eindimensionalen Auffassung, es gäbe nichts als Interessen (die nur mehr oder minder bewußt seien), praktisch zu widersprechen. Praktisch, das heißt durch die Tat. Es ist natürlich immer leicht, z. B. karitative Handlungen von Vermögenden als bloße »Versicherungszahlung gegen Umsturz« oder als »Beschwichtigung des eigenen Gewissens« abzuqualifizieren. Aber abgesehen davon, daß es doch immerhin schon etwas ist, ein Gewissen zu haben, das beschwichtigt werden muß — es gibt auch Handlungen und Verhaltensweisen, die überhaupt nicht durch materielle Interessen erklärt werden können: der freiwillige Einsatz von persönlicher Leistung, die individuelle Hingabe, Zuneigung, Güte, Freundschaft, Treue, Hilfsbereitschaft. Weil eine Betrachtung vom Standpunkt des homo oeconomicus wie des konkurrierenden Prestigekonsumenten oder des politisch sein kollektives Interesse organisierenden Proletariers für all diese Haltungen keine Verwendung zu haben scheint, werden sie weder in der »progressiven Erziehung« noch in »progressiven Bildern von der Gesellschaft« auch nur erwähnt.
Jede Brutalität und Gemeinheit wird heute auf ihre sozialen Wurzeln zurückgeführt — und damit übrigens das Individuum der Verantwortung für sie (zumindest teilweise) beraubt. Aber Güte, Hilfsbereitschaft, Treue: sie gelten als ein bißchen altmodische, eher belächelnswerte Besonderheiten, die für die entscheidenden revolutionären Aufgaben überflüssig, ja eher hinderlich seien. Das ist nun aber einfach nicht wahr; und der Abstand, der heute schon »weniger weit entwickelte« Gesellschaften Europas von den »hochindustrialisierten« trennt, ist nicht zufällig unter anderem auch ein solcher von größerer zu minderer »Menschlichkeit«. Gewiß: die Kommerzialisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen ist ein Resultat des so ungemein dynamischen und wirkungsvollen Kapitalismus, dessen materielle Leistungsfähigkeit Marx bei aller Bewunderung offenbar noch unterschätzt hat. Aber da der Abbau ökonomischer Nutzenkalkulation beim Individuum offenbar lange dauert, und da sogar mehr als fünfzigjährige sozialistische Länder sich noch immer auf solche Motivationen stützen, wird man diese kritischen sittlichen Haltungen nicht mehr ohne weiteres als überholten kleinbürgerlichen Moralismus abtun können.
Liberale wie progressive Politiker sorgen sich heute um die Probleme der Scheidungswilligen; aber den Wert ehelicher oder kindlicher Treue zu betonen traut sich schon kaum noch jemand, weil er nicht gern als »altmodisch und komisch« gelten will. Die so sehr auf ihre Toleranz gegenüber dem Verbrecher pochende Gesellschaft wird intolerant gegenüber denjenigen, die »alte Werte« hochzuhalten suchen. Krankenschwestern waren lange Zeit hindurch Töchter bürgerlicher Familien, die sich — sei es auf Zeit, sei es für immer — dem Dienst am Kranken widmen wollten und in dieser Tätigkeit Befriedigung fanden. Die Bezahlung war dabei — nicht etwa weil sie das von Haus aus nicht bedurft hätten — minder wichtig. Es ist kein Zufall, daß es heute nicht mehr so ist und daß in der Bundesrepublik Krankenschwestern aus den entferntesten Ländern herangezogen werden müssen. Gewiß, es wäre ungerecht, wollte man allein oder gerade von Krankenschwestern oder Ärzten, Kindergärtnerinnen oder Hausgehilfinnen den Verzicht auf materielle Vorteile verlangen, die doch alle anderen als legitimes Motiv für ihre Tätigkeit ansehen.
Aber was für eine Verarmung, wenn der individuelle materielle Vorteil zum einzigen und wichtigsten Maßstab für jede Tätigkeit, ja Haltung gemacht wird! Ein gütiges Lächeln wird schließlich so selten werden, daß sich der professionell gütig Lächelnde auch dafür schon gut bezahlen lassen kann. Nur macht das nicht das gütige Lächeln wertvoll, sondern entwertet es. Freiwillige Hilfsdienste dürften nicht zum Alibi der Gesellschaft werden. Sie üben erzieherische Wirkung aus, indem sie beschämen!
Auch die Tätigkeit der Hausfrau und Mutter — so altmodisch das klingt — ist nicht notwendig etwas »Überflüssiges«. Alle Untersuchungen haben gezeigt, daß Heimerziehung vor allem bei Kleinkindern schwere seelische Schäden bewirken kann. Die Aufgabe indes, für heranwachsende Kinder »da zu sein« (auch wenn das kein »Beruf« im Sinne des Arbeitsamtes ist), wird nur deshalb nicht mehr so ernst genommen wie früher, weil die industriell entwickelten Gesellschaften die Frauen als tüchtige (und oft noch immer billigere) Arbeitskräfte schätzen und sie zugleich in einen Konkurrenzkampf mit den Männern hineinziehen. Auch der Konkurrenzkampf von Männern und Frauen ist wieder Produkt dieser Konkurrenzgesellschaft, wobei es sich vor allem um Prestigekonkurrenz handelt. Vielfach sind die Maßstäbe, mit deren Hilfe Frauen Prestige beurteilen und anstreben, eben gerade jene deformierten männlich-kapitalistisch-industriellen, gegen die sie eigentlich sich empören sollten. Wollte man sie aber auffordern, ihre Überlegenheit an Einfühlungsvermögen, Güte, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Friedensliebe zu beweisen, dann könnte man die erbitterte Antwort bekommen: Das würde euch Männern so passen, durch die Kultivierung solcher Eigenschaften in der Frau habt ihr ja eure Herrschaft jahrhundertelang konsolidiert! — Nun, selbst wenn etwas daran sein sollte (was ich annehme), wäre das noch kein Grund, die männlichen Haltungen zu imitieren. Richtiger wäre es, die Dominanz der an Einkommen, Leistung, Prestige und Besitz orientierten Haltungen insgesamt zu bekämpfen und für »menschliche Haltungen« andrer Art einzutreten, die Männern ebenso wohl anstehen wie Frauen: Güte, Zuneigung, Hilfsbereitschaft, Treue, Freundlichkeit.
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Nehmen wir an, jemand würde soweit mit mir übereinstimmen und zugeben: gewiß, solche sittlichen Haltungen sollten mehr geachtet und kultiviert werden. Dann würde ich noch einen Schritt weitergehen und fragen: Gibt eseine Chance dafür, daß Menschen, die sich durch solche Haltungen bewährt haben, führende und verantwortliche Funktionen bekommen? Nach welchen Kriterien erfolgt heute die Auswahl der (für absehbare Zeit nicht vollständig abzuschaffenden) funktionalen Eliten? Ist es denkbar, daß »rasch Aufsteigende« gerade diese Haltungen vermissen lassen, weil sie beim Kampf um die Macht Ellenbogen, auch Skrupellosigkeit brauchen und sich Güte nicht leisten können? Sollte man daraus nicht weiter folgern, daß gerade für »Eliten« (daß es sie einstweilen in allen Gesellschaften gibt, steht fest) eine Einübung in solchen Haltungen besonders wichtig wäre? Spricht nicht einiges dafür, daß Toleranz und Fairness etwa der politischen Elite Englands (wenigstens was ihre »responsiveness« gegenüber öffentlicher Kritik anlangt) auch damit zusammenhängt, daß es eine »gewachsene« und lediglich »von unten erneuerte«, aber eben keine »ganz neue und traditionslose« Elite ist?
Zynismus, Kaltschnäuzigkeit, Skrupellosigkeit werden von schwachen und führungsbedürftigen Menschen oft als Indiz politischer Größe mißverstanden. Sie meinen, Toleranz und Güte seien mit politischer Tätigkeit und politischem Erfolg unvereinbar. Willy Brandt hatte — zumindest lange Zeit — unter einem Image zu leiden, das ihn als »weich« und daher »unpolitisch« darstellte. Umgekehrt galt Franz Josef Strauß wegen der ihm unterstellten Skrupellosigkeit vielen als »Vollblutpolitiker«. Diese Klischeevorstellungen mißleiten nicht nur die Auswahl von Eliten, sie verführen auch zur Imitation vermeintlicher Idealhaltungen, die doch nur seelische Verarmung bedeuten.
Umgekehrt ist das Reflektieren »eigener Güte« wertlose Sentimentalität. Sie ist es nicht, wonach konservative Theoretiker rufen sollten. Das »Moralische versteht sich (für einen) immer von selbst«. Leider gilt das aber nicht mehr für die zeitgenössische öffentliche Meinung und die zynische Mode, die uns alle hemmt, moralische Urteile zu fällen. Man braucht einen Mord nicht zu rechtfertigen, wenn man dafür eintreten will, die sozialen Ursachen der Aggressivität abzubauen. Der Mord bleibt ein Verbrechen (das in vielen Fällen auch einem Individuum, nicht bloß den gesellschaftlich zu verantwortenden Umständen zugerechnet werden kann). Das Opfer des Mörders wird durch die Bemühung um Sozialreform so wenig wieder lebendig wie durch die Strafe (nach deren Verschärfung viele mißverständlich rufen). Aber Achtung vor dem Leben (allem Leben) und Liebe zum Mitmenschen bleiben dennoch wertvoller als die (noch so erklärbare) Aggressivität des »Asozialen«.
Das so Selbstverständliche zu sagen, wenn es notwendig ist, könnte eine der heilsamen Aufgaben des Konservativen sein, der an keine Partei gebunden ist. Es kommt darauf an, was bewahrt und was aufgegeben werden soll. Ohne Bewahrung aber gibt es keine menschenwürdige Zukunft. Maxim Gorki hat das — mit der Leidenschaft des Künstlers — angesichts der Greueltaten bolschewistischer Revolutionäre laut gesagt. Mord an Unschuldigen bleibt ein Verbrechen, auch wenn er im Namen des Fortschritts und der Revolution begangen wird. Daß er das sagen und drucken durfte, ehrt Lenin, der selbst zu sehr fortschritts- und technik-gläubiger Praktiker war, um Gorkis konservativen Blick für das Konkrete und die seelische Verrohung genügend ernst zu nehmen.«
Wollte man eine wirklich konservative Haltung durch ein Schlagwort bezeichnen, so könnte ich mir kein passenderes vorstellen als »das Recht man selbst zu bleiben«. Es steht in Spannung zu dem von Dorothee Solle formulierten »Recht ein anderer zu werden«, muß dieses Recht aber nicht notwendig ausschließen. In der Tat machen viele Menschen in unserer Zeit beide Rechte (wenn auch nicht gleichzeitig) für sich geltend. »Das Recht man selbst zu bleiben« nehmen katholische Iren in Nordirland und Flamen in Belgien, Basken und Katalonen in Spanien, Frankokanadier in Kanada, ethnische Minderheiten in Indien in Anspruch. Sie identifizieren sich mit einer bestimmten sprachlichen und kulturellen Tradition und würden deren Verlust als eine Bedrohung ihrer Identität auffassen. Der kosmopolitische Ökonom mag ihre Hartnäckigkeit als romantisch belächeln, der Machtpolitiker den Widerstand der partikularen Kulturen als hinderlich zu brechen suchen — konservativer Haltung entspräche es, dieses »Recht man selbst zu bleiben« zu verteidigen.
Als in Norwegen eine breite demokratische Front sich gegen den Beitritt in die EWG formierte, waren (namentlich im Norden des Landes) viele Menschen darunter, die das Recht auf ihre überlieferte und geliebte Lebensweise verteidigten. Eine Lebensweise, die gemessen an der Arbeitsproduktivität pro Kopf der Bewohner und der damit möglichen Einkommenshöhe »rückständig« genannt werden mag, aber für die von ihr geprägten und sie prägenden Menschengruppe wertvoll und erhaltenswert erscheint. Sie wollen lieber weiterhin 20 oder 30 kleine, selbständige Hochseefischer sein, als ihre 30 Boote gegen eine schwimmende Fischfabrik mit 10 Mann Besatzung einzutauschen und den »Rest« in (womöglich besser bezahlenden) Fabriken zu beschäftigen.
Auch diese Haltung kann man »romantisch« nennen; aber seit wir wissen, was alles die Industrialisierung ländlicher Gebiete an Nebenwirkungen mit sich bringt, wird man sie nicht mehr so leicht verurteilen können. In Norwegen jedenfalls haben sich auch Angehörige linker Parteien für dieses altmodische Recht eingesetzt.
Vor hundert Jahren konnte man die Folgen der Industrialisierung und »Modernisierung« noch als unvermeidliche Konsequenz des welthistorischen Fortschritts deuten, die zum größten Teil in einer planenden Assoziation von vereinigten Produzenten wieder aufgehoben werden würden. Heute wissen wir, daß die Nebenwirkungen oft stärker sind als die Fortschritte. Wie viele eigenständige Kulturen, die sich der dynamischen Expansion des industriellen Kapitalismus (oder des industrialisierenden bürokratischen Sozialismus) geöffnet haben (oder öffnen mußten), sind untergegangen oder siechen dahin! Politiker aus Ländern der Dritten Welt, die eine Synthese von nationaler Tradition und »Modernisierung« versuchen, sind dabei nicht nur (wenn auch immerhin oft genug) von dem Bedürfnis ideologischer Integration heterogener Gesellschaften getrieben; sie trachten auch jene Identität zu bewahren, die mit dem »Recht man selbst zu bleiben« gemeint ist.
Wer nun meint, dieses konservative »Recht man selbst zu bleiben« gerate notwendig in die gefährliche Nachbarschaft von Nationalismen, der sollte daran erinnert werden, daß nicht nur kollektive Existenzen bedroht sein können, sondern auch individuelle. Wie anders sollten wir das Recht auf individuelle Integrität umschreiben, das zum Beispiel den Behörden verbietet, biologische Manipulationen am Menschen vorzunehmen, seine psychophysische Eigenart medikamentös oder operativ zu verändern? Mit den wachsenden Möglichkeiten der Intervention wachsen auch die Gefahren ihres politischen Mißbrauchs. Ein amerikanischer Psychologe hat vor zwei Jahren begeistert die Möglichkeit beschworen, soziale Konflikte und individuelle Probleme durch staatlich verordnete Psychopharmaka zu »lösen«. Ein bissiger Kommentator meinte dazu, dann würde vermutlich der Fernsehansager allabendlich die strenge Frage an seine Zuschauer richten: »Haben Sie heute schon ihre Zufriedenheitspille genommen?«
Das »Recht man selbst zu bleiben« schließt eben auch das Recht ein, nicht durch solche Eingriffe »verändert« zu werden. Natürlich hat auch dieses Recht seine Grenzen. Es ist so wenig absolut wie das ihm gegenüberstehende »Recht ein anderer zu werden«. Ich erinnere mich an eine Erzählung aus der Frühzeit der Sowjetunion, in der davon berichtet wurde, wie bewaffnete Miliz eingesetzt werden mußte, um Bauern Zahnbürsten und Zahnpasta aufzuzwingen. Hier standen Mittel und Zweck in komischem Kontrast: Die förmliche Belagerung eines Dorfes war nötig, um der Zahnbürste zum Sieg zu verhelfen. Geduld und allmähliche Aufklärung hätten sicher — wenn auch langsamer — mehr und besseres erreicht.
Nun wird man zwar die Weigerung, hygienische Maßnahmen zu akzeptieren oder sich vom Arzt untersuchen zu lassen, nicht ohne weiteres zu den »Rechten man selbst zu bleiben« zählen können. Je größer der Verkehr zwischen Individuen und Gruppen, desto notwendiger die Rücksicht aufeinander. In jedem Fall aber sollte »das Recht man selbst zu bleiben« zumindest auch beachtet werden, das »Recht ein anderer zu werden« vom Willen, ein anderer zu werden, abhängen. Manche »Schranken« sind zugleich Wesensbestandteile menschlicher (Gruppen)-Identität und werden »von innen« nicht als solche empfunden. Eine bestimmte Religion setzt wie eine bestimmte Sprache »Bindungen« des Individuums, die ihm so natürlich wie notwendig sind, weil sie in die Definition dessen eingehen, was es ist. Noch der Freidenker braucht, um sich selbst zu definieren, die Religion, von der er sich freigemacht hat. Wäre seine Emanzipation erzwungen, dann hätte man ihm etwas vorenthalten.
Die Beiträge atheistischer Kommunisten für einen Sammelband »Marxisten und die Sache Jesu«, den ich zusammen mit Milan Machovec demnächst herausgeben werde, zeigen deutlich, wie wesentlich christliche Glaubensvorstellungen und namentlich die Gestalt Jesu für das Selbstverständnis revolutionärer Marxisten sein kann. Noch die Fähigkeit zum Opfer für die eignen Genossen wird im Lichte christlicher Kategorien begründet. Der Atheist Leszek Kolakowski beschwört gar seine polnischen Landsleute, die Unentbehrlichkeit christlicher Traditionen für die eigene Kultur nicht zu vergessen.
Was das »Wesen des Menschen« ausmacht, ist historisch wandelbar, wir wissen es. Aber ebenso, daß dieser Wandel, in dem »das Recht ein anderer zu werden« seinen Ausdruck findet, auch zerstören kann und je und je zerstört hat. Marx konnte die Zerstörung als unvermeidlichen Aspekt eines dialektischen Fortschrittsprozesses deuten und hinnehmen. In einer Zeit, da es Mittel gibt, durch die sich die Menschheit selbst zerstören kann, und da der »Fortschritt« in Anführungszeichen geschrieben werden muß, weil er mehr zu zerstören beginnt als er an Vorteilen bringt — in solcher Zeit ist es notwendig, auch das ins Auge zu fassen, von dem wir wünschen, daß es nicht verlorengeht.
Auch könnte es sein, daß eine Überwindung oder zumindest Zügelung der kapitalistischen Produktionsweise nicht mehr deshalb zu fordern ist, weil ihre Dynamik zu optimaler Güterversorgung aller erschlafft, wie Marx das annahm; sondern weil ihre anhaltende Dynamik, wenn sie nicht an die Kette gelegt wird, wie ein Krebsgeschwür die Umwelt zerstört, die Menschen zum Leben brauchen. Und zu dieser »Umwelt«, die ein ontologischer Bestandteil menschlichen Daseins ist, gehört nicht nur die Natur, sondern auch die Kultur in ihren individuellen Ausprägungen und Traditionen.
Hier, im Knotenpunkt solcher Fragen, hat konservatives Denken seinen legitimen Ort.
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