Merkur, Nr. 320, Januar 1975

Wider einen neuen Realismus

von Jörg Drews

 

»Die Lage wird dadurch kompliziert, daß weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes.«

Daß sich die »Lage«, seit Brecht diese Sätze Anfang der dreißiger Jahre niederschrieb, wenig geändert hat, daß seine Sätze, die fast eine Binsenwahrheit aussprechen, noch immer aktuell sind und als Memento weiter nützlich, hängt genau damit zusammen, daß bei bestimmten literarischen Gruppierungen die Sehnsucht nach einer Rückkehr zu den bewährten, scheinbar so handfesten »realistischen« Schreibweisen immer wieder auftaucht, wie sie im Osten durch die sozialistische Kulturbürokratie dekretiert worden sind. Daß in Abständen der Ruf nach einem neuen literarischen Realismus auch in der Bundesrepublik oder in Österreich ertönt, angestimmt von linksbürgerlichen oder DKP-nahen Schriftstellergruppierungen, ist wohl weniger einer kulturpolitischen Hörigkeit dieser Schriftsteller gegenüber dem Osten zuzuschreiben als vielmehr der eingestandenen oder uneingestandenen traurigen Einsicht, daß Literatur von Rang sich in einer arbeitsteiligen Welt (analog der Differenzierung anderer gesellschaftlicher und technisch-wissenschaftlicher Praktiken) so hochspezialisiert hat, daß sie nur noch ein schmales Publikum erreicht. Hält man aber aus politischen Gründen an der Vorstellung fest, Literatur müsse weiterhin massenwirksam sein oder dies sogar erst werden, so folgt daraus natürlich konsequent die Forderung nach einem Abbau oder einer Mißachtung all jener Differenzierungen, welche die literarischen Techniken in den letzten 70 Jahren erfahren haben, und nach einer Rückkehr zu weniger komplizierten, allgemeinverständlicheren Schreibweisen. Am liebsten hätte man wohl einen Simmel, der so denkt wie Günter Wallraff.

So kommt der Realismus schubweise immer einmal wieder ins literarische Credo. Die Reflexion darüber, ob literarischer Realismus überhaupt noch eine adäquate Darstellungsweise ist, wird suspendiert zugunsten der Hoffnung, daß eine realistische Literatur ein brauchbareres Vehikel abgibt für politische Aufklärungsarbeit — brauchbarer deshalb, weil realistische Literatur (und sei es in trivialisierten Formen vom 08/15-Bestseller bis herunter zur Heftchen-Literatur) ähnlich wie die Tonalität in der Musik so etwas wie die zweite Natur geworden ist, das scheinbar Selbstverständliche, von dem abzuweichen immer noch nur Neutönerei, Avantgarde und — ganz schlimm — »Experiment« zu sein scheint.

Analysen wie die zitierte Brechts, die darauf hinweisen, daß die simple Wiedergabe der Realität, sei’s in der Photographie, sei’s in der Literatur, kaum noch die Wahrheit über die Realität erbringt, muß man dabei natürlich geflissentlich beiseite lassen; und das kann man unter politischen Vorzeichen auch noch rechtfertigen. Denn da gibt es ja den Begriff »spätbürgerlich«, der sich nicht dagegen wehren kann, unterschiedslos auf Basis- wie auf Überbauphänomene angewendet zu werden, und so ist dann die Literatur der spätbürgerlichen Epoche Europas eben oft nur »spätbürgerlich« und damit quantité negligéable. Wenn dies Verdikt — bisweilen vermehrt um eine Attacke gegen den »formalen Innovationsrummel«, der nur die »Verpackung« (Uwe Friesel) der Produkte betreffe und also unter literarischem Fetischismus zu rangieren habe — einmal gesprochen wurde, braucht man auch nicht mehr zu fragen, ob nicht die »spätbürgerlichen« Schriftsteller dieses Jahrhunderts gerade zum Problem der Adäquanz literarischer Techniken zur gesellschaftlichen Wirklichkeit Entscheidendes gesehen haben, um das kein Schriftsteller, welcher politischer Couleur auch immer, herumkommt.

Offenbar haben Brecht und Ernst Bloch vergebens in den dreißiger Jahren mit Georg Lukács gestritten, dem Verdammer des Expressionismus (der für ihn die kleinbürgerlich-verirrte Literaturavantgarde kat’exochèn darstellte), dem Chefideologen jenes »Realismus«; Lukács ist zwar im Osten noch immer persona non grata und im DDR-»Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller« etwa gleich gar nicht erwähnt, seine Realismus-Konzeption wirkt dort aber noch immer fort. Vergebens auch hat Brecht für »Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise« plädiert und sich während der Expressionismus-Debatte notiert: »Es kann der Literatur nicht untersagt werden, sich der neuerworbenen Fähigkeiten des zeitgenössischen Menschen, wie der, simultan aufzunehmen oder kühn zu abstrahieren oder schnell zu kombinieren, zu bedienen . . . Man darf dem Schriftsteller alle Mittel zugestehen, die er braucht, um die Wirklichkeit beherrschbar zu machen.«

Daß es ausgeklügelter literarischer Operationen bedürfe, also sozusagen abstrakter Verfahren, um die konkrete Wahrheit sichtbar zu machen, die vergleichsweise naiven Darstellungsverfahren wie denen des Realismus gar nicht mehr zugänglich ist — diese Einsicht formulierte Brecht gegen Lukács und weiter noch gegen die Diskussionen über den »Sozialistischen Realismus« in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Doch ist es nützlich, bei Überlegungen zur Frage, ob denn die Forderung nach einem literarischen Realismus noch sinnvoll, der Begriff »Realismus« selbst vernünftig abgrenzbar sei, noch weiter bei Brecht zu verweilen. Seine Erwiderungen auf Lukács lassen nämlich den historischen Hintergrund durchscheinen, vor dem Lukács nach dem Realismus rief; die geheimen Vorbilder tauchen auf, auf welche Lukács sich immer wieder berief, um alle literarischen Formalismen in Acht und Bann zu tun, die ihm ganz undialektisch nur als Formalismen galten; und Brecht diagnostiziert auch die Motive, die hinter den schrecklich vereinfachenden Rufen nach literarischem Realismus stehen. Er schreibt: »Ein eigentümlicher Hang zum Idyllischen zeigt sich in der Betrübnis Lukács‘ über die Sprengung der klassischen bürgerlichen Erzählung des Balzac durch Schriftsteller wie Dos Passos. Er sieht nicht und will nicht sehen, daß der moderne Schriftsteller eine Erzählungsart nicht brauchen kann, welche wie die Balzacsche der Romantisierung der Konkurrenzkämpfe des nachnapoleonischen Frankreich diente.« Ein anti-intellektueller, ressentimentgeladener Ton ist, wie Brecht richtig feststellt, bei Lukács‘ Proklamationen nicht zu überhören, die Sehnsucht nach einer Vereinfachung literarischer Techniken, und die Vorbilder sind gar nicht zu übersehen: Balzac steht an erster Stelle, ihm zur Seite treten Autoren wie Tolstoi und Dickens — die kritischen Realisten des 19. Jahrhunderts also, deren Erzählformen Lukács unhistorisch kanonisieren wollte.

Sieht man sich genauer an, welches die Voraussetzungen und Kennzeichen des historischen literarischen Realismus, des Erzähl-Realismus des 19. Jahrhunderts waren, so entdeckt man, daß diese Characteristica untergründig bis in die heutigen Realismus-Proklamationen nachwirken: sowohl bei jenem »Neuen Realismus«, den Dieter Wellershoff etwa um 1965 als Programm skizzierte, als auch bei jenen »realistischen« Autoren, die sich noch nicht zusammenhängend theoretisch-programmatisch äußerten, aber 1973 als Gruppe in einem Verlag auftraten und denen eine Art kritischer Neo-Realismus gemeinsam ist; ich meine Uwe Wandrey, Richard Hey, Gerd Fuchs, Henry Jaeger, Uwe Timm und ihre Bücher in der »Autoren-Edition« des Bertelsmanns-Verlages.[1. Die kurzbeinigen, bodenlos naiven Programmsätze, die vorn in jedem Buch der Autoren- Edition zu lesen sind — »Angestrebt wird eine realistische Schreibweise. Nicht die Schreibschwierigkeit des Autors angesichts einer widersprüchlichen Realität, sondern die Realität selber ist das Thema der Autoren-Edition« —, sollen hier fairerweise undiskutiert bleiben.]

Schon seinen Namen gab sich der Realismus des 19. Jahrhunderts in Opposition zum Idealismus und zur Romantik, und diese Opposition gegen alle Hinterweltlerei, alle Metaphysik, alle Verklärung, alle Schönfärberei haftet dem Begriff auch bis heute an. Realismus — das hieß aber auch: Unmittelbarkeit zur Erfahrungswelt in Motiven und Gestalten, kein Rückbezug auf klassisch-klassizistische poetische Formen und Techniken.

Das Erzählte wird festgemacht an Einzelfiguren, deren Schicksal modellhaft Bedeutung trägt und in die der Erzähler als ein objektiv gegenüberstehender sich verstehend einfühlt. Zweifel daran, daß über solch einfühlendes Verstehen entscheidende Einsichten in Leben und Seelenleben und Motivationen der Menschen zu gewinnen seien, gab es dabei kaum; die erzählten Subjekte sind vielleicht »Zerrissene«, aber der Mensch ist als solcher noch nicht gebrochen und gespalten, das Individuum hat noch Substanz.

Gesellschaft ist ebenfalls noch darstellbar, indem das Gegen- und Zusammenspiel von Individuen geschildert wird; sie ist noch nicht so total und ungreifbar, daß sie völlig hinter dem Rücken des Individuums als ein übermächtiges Abstraktum regieren würde. Anders und mit Brecht gesagt: die Verdinglichung ist noch nicht so weit fortgeschritten, daß sie die menschlichen Beziehungen nicht mehr herausgäbe. Wirklichkeit ist noch anschaulich darstellbar, die sinnliche Anschauung ist noch nicht täuschend vordergründig, das Wesentliche läßt sich anschaulich erzählen. Dabei wird keine besondere Stil- und Spezial-Sprache angewendet, die Erzählsprache ist der Alltags- und Umgangssprache noch sehr nahe, und mit ihrer Hilfe ist Wahrheit direkt benennbar; grundsätzliche Zweifel an der Sprache gibt es noch nicht. Es besteht auch kein Grund, die chronologische Sequenz des Erzählens radikal aufzuheben oder umzukehren, weil das Erzählen am Leben von Einzelnen festgemacht wird.

Doch wer solche Voraussetzungen blind ins 20. Jahrhundert überträgt, dem ist nur entgegenzuhalten, daß er die Realität, die er darstellen will, gar nicht sieht. Die aufgezählten Prämissen realistischen Erzählens lesen sich heute wie ein Wunschkatalog, und das genau ist es, was Brecht Lukács als »Hang zum Idyllischen« vorwarf. Die Verhältnisse, die sind nicht mehr so, und Lukács muß dergleichen auch gespürt haben; die Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, daß er, immerhin doch der an Einsichten reiche Verfasser der »Theorie des Romans«, um der Übereinstimmung mit dem marxistischen Credo willen in der Folge das sacrificium intellectus begehen mußte, das ihn dann später — auch nach der Zeit der Überlegungen der dreißiger Jahre zu einer Art Volksfront-Taktik in der Literatur — Brecht, Beckett und Joyce so verdächtig vehement ablehnen ließ. Der Realismus, den Lukács und seine erklärten wie unerklärten Jünger so peinlich zu konservieren bestrebt waren, ist das Produkt einer Zeit, da der Verdacht gegen den Idealismus schon stark war; da Hegels Satz »Das Geistige allein ist das Wirkliche« angesichts der beginnenden industriellen Revolution, des Aufstiegs der Technik, der abstrakter werdenden Organisationsprinzipien von Staat und Gesellschaft und des massiven Einbruchs materieller Interessen in die Handlungsweise des Bürgertums schon keine Gültigkeit mehr zu haben schien (oder doch zumindest nicht mehr verstanden werden konnte). Weder Naturwissenschaften noch die Gesellschaftslehre oder die Psychologie waren um die Mitte des vorigen Jahrhunderts schon so weit in die Bereiche des Unanschaulichen vorgestoßen, hatten jenen Komplexitäts- und Abstraktheitsgrad erreicht, der heute den Begriff der Realität so schwierig macht, daß der Griff derer, die da »realistisch« schreiben wollen, fast zum Gespött werden muß.

Man braucht alle, die blanken oder politisch entschlossenen Auges nach einem neuen Realismus rufen, gar nicht unbedingt an Karl Marx‘ Einsicht von der essentiellen Abstraktheit aller Beziehungen in der kapitalistischen Gesellschaft zu erinnern; es genügt notfalls auch der Hinweis auf durchaus bürgerliche Soziologen, etwa auf Max Weber oder Arnold Gehlen und deren Einsichten zur Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, um sie der Unreflektiertheit ihres Ansinnens, mit realistischen Mitteln ein komplexes, durch und durch vermitteltes Gefüge von menschlichen und sachlichen Beziehungen zu schildern, überführen zu können. Um mit den Worten Friedrich Tombergs aus dem »Literaturmagazin 2« zu sprechen: »So leicht ist Realismus heute nicht mehr zu haben. Erst durch das begriffliche Schauen, erst durch die ›Theorie‹ der Wissenschaft wird die Sicht auf die Erscheinungen der Wirklichkeit zur Einsicht in die Konstituentien.«

Die Krise realistischer Literatur — sie dauert nun schon, nebenbei gesagt, länger als unser Jahrhundert alt ist — hängt aber genau damit zusammen, daß Erzählen selbst als diejenige Art, wie in der epischen Literatur eben die spezifische »Einsicht in die Konstituentien der Wirklichkeit« erreicht wird, schwierig geworden ist. Nicht unmöglich, das zu behaupten war eine Übertreibung, die einige Jahre im Schwange war; aber schwieriger. Denn die historischen, für das 19. Jahrhundert noch gültigen Voraussetzungen sind, wie gesagt, nicht mehr gegeben. Ganz Wesentliches läßt sich gar nicht mehr anschaulich erzählen, und auf jeden Fall sind genau jene Erzählverfahren notwendig geworden, gegen die der Ruf nach einem neuen Realismus sich wendet, die er als elitär, dekadent, überkompliziert, abseitig-experimentell verschreit. Balzacs Spekulanten und Finanzmakler waren noch plastische Gestalten, aber was geben moderne Industriemanager, die mit Millionen jonglierenden »plastic people« des Big business noch her an sinnlicher Anschaulichkeit, an unverwechselbarer Individualität? Bei Balzac konnten ihre Liebesaffären noch ihre Firmen ruinieren; wenn heute der Manager aber nicht mehr von seiner Person abstrahieren kann, so wird er gefeuert, und die Firma wird höchstens ruiniert durch ökonomische Trends, auf die der einzelne Manager kaum noch Einfluß hat, durch Beschlüsse, bei denen nicht mehr seine Mätresse, sondern der Staatshaushalt, der Weltbankrat oder die OPEC mitbestimmen. Der Romancier als intuitiver Psychologe war im 19. Jahrhundert vielleicht der avancierteste Menschenkenner, aber die Romanpsychologie droht zum Dilettantismus zu verkommen, zum hoffnungslos abgeschlagenen Ein-Mann-Betrieb, wenn die Psychologie Testbatterien zur Verfügung stellt und die Tiefenpsychologie das Handeln von Menschen auf Motive zurückführen kann, die nicht mehr anschaulich von einem geneigt in die Psyche seines Protagonisten sich versenkenden Autor darzustellen sind. Es ist fraglich, ob die modellhaft Bedeutung exemplifizierende Erzählung vom Leben eines Einzelnen überhaupt noch Aufschlußkraft über mehr als ein zufälliges Einzelschicksal bieten kann, und noch schlimmer: ob eine Sprache, die unserer täglichen Umgangssprache nahe ist, nicht nur die Klischees von Menschen wiedergibt, ob sie nicht notwendig den Fach- und Spezialsprachen sich annähern muß, in denen Erkenntnisse heute formuliert werden.

Der Wunsch nach einer neuen »realistischen« Literatur läuft weitgehend auf den Wunsch nach einer Entlastung von der ganzen Bürde der Erkenntnisse hinaus, die das naive Erzählen immer schwieriger machen. Er ist fast gleichzusetzen mit dem Wunsch nach Entlastung von intellektueller Anstrengung, mit der Sehnsucht nach einer Welt, die endlich wieder weniger kopflastig wäre. Was dabei nicht gesehen wird, ist am Ende wohl einfach die Tatsache der Arbeitsteilung. Literatur soll ein Bereich des Unmittelbaren bleiben, der komplikationslosen Kommunikation, des common sense, ein Bereich, in den die Spezialisierung nicht eindringen soll. Literatur soll Kunst sein, natürlich, zugleich aber — aus sozialen und politischen Gründen — das Vehikel von Massenaufklärung. Es ist, als wollte man die Philosophie wieder aus ihren Abstraktionshöhen herabholen und sie auf den gesunden Menschenverstand einschwören als der Basis, da sie doch gefälligst für alle verständlich sein müsse. Aber wie etwa die sprachanalytische Philosophie nicht mehr umgangssprachlich, wie Atomphysik, Gesellschaftslehre und Kybernetik nicht mehr allgemeinverständlich formulierbar, sondern höchstens — um den Preis der Simplifikation — popularisierbar sind, so führt auch bei der Literatur kein Weg mehr zurück in eine neue Einfachheit, die man nur wollen müßte, damit sie sich alsbald und ohne gravierende Qualitätsverluste einstellt. Was übrigens das politische Motiv angeht, das Bestreben, über einfachere Erzähltechniken wieder an mehr Leser heranzukommen, die dann auch für aufklärerisch-politische Inhalte ansprechbar wären, so liegt dem ebenfalls ein groteskes Wunschdenken zugrunde. Denn Literatur als ein das Bewußtsein schärfendes, politische Aufklärung beförderndes Mittel wird es in Zukunft ohnehin immer weniger aufnehmen können mit der Berieselung der Aufzuklärenden durch die anderen Massenmedien — allen voran das Fernsehen, das ja auch schon bei der Sozialisation der Kinder eine viel wichtigere Rolle spielt als etwa die traditionellen Kinderbücher. Motiviert man die Forderung nach einem neuen Realismus in der Literatur politisch, so setzt man Leser voraus — aber jede Untersuchung der letzten Jahre zu den Lesegewohnheiten müßte die Proklamatoren eines anderen belehren; denn die Leser werden weniger, das Buch ist nicht mehr das entscheidende Medium zur Schärfung des kritischen Bewußtseins der vielen: im Chor der Stimmen, die auf den Einzelnen einreden, hat es nur noch eine schwache Stimme.

 

 

Zweierlei folgt daraus: Die Forderung nach einer Re-Simplifizierung der Literatur zu einer »realistischen« sollte als unrealistisch eingestellt werden. Wenn literarische Techniken etwas mit einer spezifischen Art der Findung und Darstellung von Wahrheit zu tun haben, so kann nicht mit politischen Gründen dekretiert werden, die Literatur habe so oder so auszusehen. Wir reagieren inzwischen empfindlich auf Gängelungsversuche in der Literatur, und schließlich sollten die jämmerlichen Ergebnisse, die die bürokratische Abschaffung der Phantasie und die Installation einer realistischen Literatur in der Sowjetunion und — für uns besonders gut zu beobachten — in der DDR erbrachten, für alle eine Warnung sein. Im Westen aber sind die quasifreiwilligen Erben des Realismus des 19. Jahrhunderts in der Literatur jene Bestseller-Schinken, deren konventionelle Erzählmuster ja weitgehend den Erzähltechniken des 19. Jahrhunderts entsprechen. Das ist ein lehrreicher Fall, denn daran erweist sich als an einem negativen Beispiel, daß die Forderung nach Realismus, definiert man sie nicht sehr genau, nur auf eine Auswechslung der politischen Vorzeichen vor einer zu Trivialmustern herabgekommenen Literatur hinausläuft. Politische Aufklärung, der Aufbau eines kritischen Weltverständnisses für möglichst viele kann heute nicht mehr der Literatur aufgebürdet, es muß an die Schule und allgemeiner an Bildungs- und politische Schulungsarbeit delegiert werden.[1. Nebenbei bemerkt: Es definiert den politischen wie den schriftstellerischen Rang Günter Wallraffs, daß er auf solche »realistischen«, halb-literarischen Wechselbälge — Trivialformen ausnützende Romane mit reduzierten, zu ermäßigten Preisen abgegebenen literarischen Techniken, die als Vehikel für Botschaften an die Massen dienen sollen — verzichtet und sich in seinen Reportagen eine schriftstellerische Form erfunden hat, die konsequenterweise auf den »Kunst«-Charakter absolut pfeift.]

Hat man aber erst einmal eingeräumt, daß im Medium Literatur überhaupt nur erkannt werden kann, wenn ungehindert alle Operationen durchgeführt werden dürfen, mittels derer Realität heute literarisch zu explorieren ist, so tritt hervor, was Brecht, verstrickt in Rücksichtnahmen und in schlauer Vorsicht, auch immer wieder angedeutet hat: daß der Begriff »Realismus« nur historisch sinnvoll zu definieren ist, hundert Jahre nach seiner Prägung aber nur noch einen bürokratischen Sinn hat, vielleicht noch den einer Verständigungsmarke, eines Stichworts; daß aber die Realität inzwischen sich so gewandelt hat, daß vom Inneren Monolog bis zur Konkreten Poesie, vom Surrealismus bis zur cut-up-Technik von William Burroughs ein weiterzuentwickelndes, nicht im voraus zu begrenzendes Instrumentarium von Methoden zur Verfügung steht, Wirklichkeit literarisch adäquat zu analysieren. Will man sich überhaupt noch auf einen objektivistisch-geschlossenen Wirklichkeitsbegriff einlassen, so entspricht einer solchen Wirklichkeit eine Vielzahl von Techniken, die dann alle »realistisch« sind.

In diesem Sinn hat etwa Dieter Wellershoff vor kurzem beim deutschfranzösischen Dichtertreffen in Mondorf (Luxemburg) thesenhaft den Begriff Realismus neu zu definieren versucht: »Realismus ist eine Tendenz, vereinfachende realitätsabweisende Schemata aufzulösen zugunsten größerer Komplexität . . . Realistische Kunst ist inhaltlich und formal nicht festzulegen, denn sie erweitert dauernd ihren Aufmerksamkeitsbereich und ihre Darstellungsformen, sie ist eine unabschließbare Entdeckungsreise.« Weilershoff sieht auch, daß mit dem historischen Begriff von Realismus, mit dem sich einigermaßen genau umreißbare Vorstellungen verbinden, nicht mehr viel anzufangen ist, er erweitert und aktualisiert den Begriff also versuchsweise. Ähnliches formulierte Hans-Christoph Buch in Mondorf: »Realismus bedeutet für mich nicht ein photographisches Abbild, das heißt ein bloßes Abziehbild der Wirklichkeit, sondern Verfremdung und Verzerrung der vorgefundenen Fakten, mit dem Ziel, die automatisierte Wahrnehmung zu durchbrechen und so wesentliche Züge der dargestellten Wirklichkeit sichtbar zu machen, die sich der einfachen Wahrnehmung entziehen. ›Wirkliche Realität ist immer unrealistisch‹, sagte Kafka. Gerade die ›phantastischsten‹ Einfälle eines Autors kommen der Realität oft am nächsten, wie umgekehrt die Wirklichkeit selbst immer wieder phantastischer erscheint als jede Imagination.« Mit einem solchen enthistorisierten und entdogmatisierten, keine bereits existierende oder zukünftige literarische Technik tabuisierenden Realismus-Begriff kann man sich sofort einverstanden erklären; man muß dann aber sehen, daß damit der Begriff Realismus notwendigerweise eine solche Ausweitung erfährt, daß er nichtssagend und unpraktikabel wird. Am Ende ist dann alle Literatur von Rang realistisch, das heißt ein sei’s auch noch so vermittelter Reflex von Wirklichkeit oder umgekehrt eine Veranstaltung, um einen Aspekt von Realität mit spezifischen Mitteln sichtbar zu machen. Darauf zielte auch die Frage, die Anna Seghers in den dreißiger Jahren in der Expressionismus- und Realismus-Debatte an Lukacs stellte: ob es nämlich »überhaupt ein wirkliches Kunstwerk gibt, in dem nicht eine Substanz Realismus enthalten ist, nämlich eine Tendenz zur Bewußtmachung von Wirklichkeit.«

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Drei Beispiele zum Schluß, drei Bücher, die jüngst erschienen sind und in verschiedenem Sinn »realistisch« heißen dürfen. Dieter Kühn hat 1973 den Roman »Die Präsidentin« veröffentlicht, den Versuch einer vertrackten Rekonstruktion von Leben und Taten einer französischen Wirtschaftshochstaplerin der zwanziger Jahre. Hätte er von dieser Figur im alten Sinne »realistisch« erzählt, so wäre er bei pittoresken Details steckengeblieben. Eine farbige Gestalt hätte die Spekulantin und Aktienmanipulateurin schon abgegeben, sie hätte sich Balzac’sch stilisieren lassen, hatte ein exzentrisches Privatleben, Hobbys, Leidenschaften, alles also, was ihrer Auflösung ins Anschaulich-Anekdotische hätte Stoff verleihen können. Aber daß sie als Figur in gewissem Sinn ganz uninteressant ist, daß ihre Finanzstrategien aufschlußreicher sind für unsere (bis heute fortdauernd kapitalistische) Wirklichkeit, daß die Umstände wichtiger und instruktiver sind als die anschaulichen Details — das alles wäre unter den Tisch gefallen; die, wie Brecht sagte, »in die Funktionale« gerutschte Realität wäre nicht zum Vorschein gekommen. Kühn »baute« nun konsequent bei seinem Schreiben etwas »auf«, etwas »Künstliches, Gestelltes«: sein Roman wurde zu einer Montage von immer neuen Schreibansätzen, die vorführen, wie verfälschend der Zugriff auf die Person einer Heldin wäre, wenn man sie nicht als Schnittpunkt von Erziehungseinflüssen, finanztechnischen Möglichkeiten und politischen Zufällen sähe.

Zur Wahrheit über die Finanzhochstaplerin gehört auch das Aktienrecht, die Börsenpraktik und nicht zuletzt die Einsicht, daß die damalige Investment-Präsidentin gar kein einmaliger Fall ist, ja das scheinbar Einmalige an ihr gerade das Unwichtige ist; denn Fälle von Wirtschaftskriminalität, im Zuschnitt dem der Präsidentin Marthe Hanau oft verblüffend ähnlich, ereignen sich bis heute: Marthe Hanau heißt heute eben Bernie Cornfeld oder Dany Dattel. Die Darstellung der Person allein wäre zur Täuschung über die Realität geworden, hätte das Interesse am leicht erzählbaren Vordergrund des Falles festgemacht.

Das zweite Beispiel sei Alfred Behrens‘ Roman »Künstliche Sonnen. Bilder aus der Realitätsproduktion«, ebenfalls 1973 erschienen. Schon im Untertitel weist Behrens auf etwas bei der Diskussion eines für die Literatur sinnvollen Realitätsbegriffes Wichtiges hin: daß nämlich Realität, sowohl gesellschaftliche als auch die Realität des einzelnen wahrnehmenden Individuums, nicht etwas Unmittelbares, Natürliches ist, sondern durch die Sehweisen, die wir bewußt oder unbewußt im Umgang mit den Medien erlernen, erst produziert wird. Indem Behrens in drei der fünf Erzählstränge seines Buches nicht in der Gegenwart bleibt, sondern auf die nahe Zukunft vorausgreift, demonstriert er zugleich, daß mit satirischer Science-Fiktion auch über gegenwärtige Verhältnisse Präziseres gesagt werden kann als in der Abschilderung dessen, was schon ist: die leichte Übertreibung, die Antizipation schärft die Aufmerksamkeit. Möglichkeiten der Bewußtseinsmanipulation, die auf der Ich-Schwäche der konsumierenden Zuschauer und Käufer beruhen und diese dann noch weiter verstärken; der Starkult als Indiz für solche Ich-Schwäche, die ein neues Ich in der Identifikation mit »Medienpersönlichkeiten« von Filmschauspielern bis Fußballern sucht; der Ersatz von Wirklichkeit durch ganze Produkt-Pakete, die den Käufern ein scheinhaft anderes »Environment« suggerieren — solche Tendenzen in unserer zeitgenössischen Wirklichkeit entziehen sich dem planen realistischen Erzählen, sie kommen nur in der durchdachten Verfremdung, durch kalkulierte Übertreibung, erzähltechnisch: durch sehr »künstliche« Arrangements heraus.

Drittes Beispiel: Vielleicht liegt es an einem Talent, das eben nicht weiter reicht, vielleicht ist es aber auch fatale Selbstbescheidung, wenn Uwe Timm in seinem 1974 erschienenen Roman »Heißer Sommer«, dem ersten Versuch eines Romans über die Studentenbewegung, sich alle Phantastik, alle ausgreifende Reflexion und alle sprachliche Kühnheit versagt. Dabei hätte der Gegenstand doch solches erlaubt oder gar gefordert: die zähneknirschende moralische Empörung, die utopischen Hoffnungen, die die Studentenrevolte der Jahre 1967/68 antrieben und beflügelten — welche Sprache, welche erzählerischen, kommentierenden, zitierenden Operationen hätten sie gestattet, ja, um Misere und Überschwang, Höhenflüge und Ernüchterung noch einmal vorstellbar zu machen, unbedingt nötig gehabt!

Statt dessen bietet Timm in einer Sprache von seltener Dürftigkeit die Rekapitulation der Erlebnisse des Studenten Ullrich Krause, das Stenogramm der Entwicklung eines mausgrauen Bewußtseins, das kein Gran an Klarheit über sich selbst dazugewinnt. »Realistisch« heißt hier die Wiedergabe des Typischen, das um keinen Preis durch die Mittel der Wiedergabe überstiegen werden darf: Studentenjargon, einschlägige Szenen aus Seminar und Bett, anekdotisches Rankenwerk, innerhalb dessen der Einsatz von Zitaten aus Flugblättern mit Anweisungen zur Demonstrationstaktik oder gar die Reihung von Diskussionsphrasen (analog zu Heißenbüttels Verfahren in den frühen »Textbüchern«) geradezu deplaciert kühn wirken. Nur ja nicht zu kompliziert schreiben, ja nicht die »Schreibschwierigkeit des Autors« schreibend reflektieren, sondern so redlich wie naiv »die Realität selber« zum Thema machen!

Was dabei herauskommt, sind Figuren von der Plastizität eines Spielkartenkönigs und eine Studentenbewegung mit dem gedanklichen Tiefgang eines Bertelsmann-Romans. Anders gesagt, der Modellfall Ullrich Krause wird durch solche ästhetische und intellektuelle Selbstzensur zu einem Fall ohne Aufschlußkraft, literarisch belanglos, tauglich höchstens für ein kopfnickendes partielles Wiedererkennen durch solche, die auch dabei waren.

Für wen sind solche Bücher eigentlich geschrieben? Die politische und sozialpsychologische Aufarbeitung der Studentenrevolte ist heute schon viel weiter; daher wird das skizzenhafte epische Stationendrama des Ullrich Krause zum bloßen Dokument einer unbewältigten jüngsten Vergangenheit, die zur dürftigen Mischung aus Nostalgie und Ernüchterung verkommen ist und sonst nichts herzugeben scheint; die Fülle neuer Erfahrungen und Glücksverheißungen aber, das im guten wie im schlechten Sinne Exzessive, was gerade als etwas der erzählerischen Darstellung Bedürftiges einen Roman hätte rechtfertigen können, bleibt ausgeschlossen, und kein zukünftiger Leser wird sich durch dieses Buch eine »realistische« Vorstellung davon machen können. Alle sollen das Buch gleich verstehen können, natürlich; die Folge ist, daß bei solcher literarischen Selbstverstümmelung durch Ausschluß aller nicht unmittelbar eingängigen Stilmittel (und das heißt zugleich aller nicht schematisch wiedergebbarer Aspekte von Realität) am Ende niemand mehr etwas von dem Buch hat.

Wenn aber alle im herkömmlichen Sinn nicht-realistischen Techniken: satirische Übertreibung, Phantastik, alle Arten von Montage und Collage, von Stil- und Spezialsprachen (die inzwischen oft unverzichtbar sind für die Beschreibung bestimmter Sektoren der Realität), an der Tiefenpsychologie geschulte Darstellungstechniken psychischer Vorgänge, die Stilmittel des Surrealismus — wenn sie alle aus der literarischen Praxis per Programm ausgeschlossen würden, so liefe ein solches Programm auf die Aufforderung zur literarischen Selbstkastration hinaus. Entweder akzeptiert man, daß grundsätzlich nicht vorweg entscheidbar ist, welche literarische Technik von Aufschlußkraft der Wirklichkeit gegenüber sein kann, dann ist der Realismus-Begriff sinnlos geworden, weil er dann alles umfassen kann. Die literarische Ästhetik aber, die der herkömmliche und, soweit das bis jetzt zu sehen ist, der neue Realismus implicite enthält, ist ein lachhafter Anachronismus.

Zitieren wir als Kronzeugen noch einmal Brecht, der sich während der Realismus-Debatte, nach Abschluß des »Dreigroschenromans« und bei der Arbeit am Projekt des »Tui«-Romans, notierte: »Über den zweiten Roman, an dem ich schon lange arbeite, wage ich kaum zu sprechen, so kompliziert sind da die Probleme und so primitiv ist da das Vokabular, das mir die Ästhetik des Realismus, wie sie jetzt ist, liefert.« Dem ist auch heute kaum etwas hinzuzufügen.