Merkur, Nr. 107, März 1957

Die chronischen Leiden der Hochschulreform

von Jürgen Habermas

Der Aufsatz bringt Auszüge aus dem Einleitungskapitel einer empirischen Untersuchung, die das Institut für Sozialforschung in Frankfurt a. M. unter Mitwirkung anderer wissenschaftlicher Stellen durchgeführt hat. Die Studie hegt unter dem Titel „Universität und Gesellschaft“ als Forschungsbericht vor und soll demnächst in den „Frankfurter Beiträgen zur Soziologie“ erscheinen. Sie versucht verbindliche Aussagen darüber, wie sich das Problem der deutschen Hochschule in der gegenwärtigen Gesellschaft denen darstellt, die es unmittelbar angeht: den Dozenten und Studenten sowie den Kreisen in Wirtschaft und Verwaltung, die auf akademischen Nachwuchs angewiesen sind. Das Einleitungskapitel entstand in Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Instituts und ist insofern nicht das ausschließliche Eigentum des Verfassers.

I

Die unbestrittene Tatsache des politischen Versagens der deutschen Universitäten vor und während der Hitler-Diktatur war es, die 1945 die Geister der Reform auf den Plan rief. Aber es blieb von Anbeginn bei dem Wunsche, der Institution in Anpassung an die veränderten politischen und wissenschaftlichen Verhältnisse wieder die Form zu verleihen, die sie vor anderthalb Jahrhunderten, zur Zeit der ökonomischen und politischen Emanzipation des Bürgertums, angenommen hatte.

Im Heidelberger Kreis, unter der Ägide von Karl Jaspers, entstand das erste Studium generale, mit dem Zentrum einer „Zeitschrift für die Einheit der Wissenschaften im Zusammenhang ihrer Begriffsbildung und Forschungsmethoden“. Zur gleichen Zeit versuchten die Initiatoren der Alpbacher Ferienkurse das auf dem Wege persönlichen Zusammentreffens in Form von Kolloquien zu erreichen, was Jaspers einem literarischen Symposion vorbehielt: die Regeneration der universitas litterarum. „Die Zukunft der Universitäten beruht auf der Wiedererneuerung ihres ursprünglichen Geistes“, formulierte Jaspers unmittelbar nach dem Zusammenbruch in seiner Programmschrift zur Idee der Universität (Berlin 1946). Erste Aufgabe der Hochschulreform schien die Besinnung auf die autonome Bildungskraft der Wissenschaft, auf das „wissenschaftliche Ethos“, das alle humanen Energien des Geistes freisetzen würde, wenn es nur erst seine Stätte, die Universität, von den trüben und trübseligen Schatten wissenschaftsfremder, vor allem politischer Ein- und Übergriffe gesäubert hätte.

Diesem liberalen Bildungshumanismus trat ein anderer zur Seite, der sich auf neuscholastische Katholizität berief und die Einheit der Wissenschaften aus dem Universalismus nicht so sehr der Philosophie des deutschen Idealismus als vielmehr des erneuerten thomistischen Systems begründen wollte. So entstand in Mainz ein weitgespanntes Studium generale in Form der freien Wahl von vier allgemeinbildenden Vorlesungen während der ersten drei Semester und in Tübingen neben einem wöchentlichen dies academicus das Leibnizkolleg, das zwischen Schulabschluß und Universitätsbeginn in drei Trimestern das verkürzte Programm einer Artistenfakultät bot. Romano Guardini und Theodor Steinbüchel waren hier die Initiatoren. Gleichzeitig entschloß sich die Universität Freiburg zu einem um den Kern eines Dies universitatis vielfach gegliederten Studium generale [1. Vgl. dazu W. Killy: Studium generale und studentisches Gemeinschaftsleben, Berlin 1952.].

Früh schon sind diese allein oder doch vornehmlich auf den philosophischen Anspruch der universitas litterarum begründeten Bemühungen ihrer politischen Indifferenz wegen kritisiert worden. Unterstützt von den angelsächsischen Besatzungsmächten, bestand diese Kritik auf einer Erweiterung des Studium generale im Sinne einer „general education“, die darauf drängen sollte, daß der Student seine staatsbürgerlichen Funktionen rational und verantwortlich auszuüben lerne. Für diese Absicht ist das sogenannte Blaue oder Hamburger Gutachten repräsentativ, das 1948 auf Veranlassung des britischen Militärgouverneurs von einem unabhängigen „Studienausschuß für Hochschulreform“ ausgearbeitet wurde und den fortan maßgebenden Reformvorschlag darstellen sollte.

Auf ähnlicher Linie hält sich der sogenannte Chicago-Frankfurt-Plan, ein Vergleich der deutschen und amerikanischen Erfahrungen mit den studia humanitatis, wie es hier vorsichtiger heißt, der im Jahre 1952/63 in Frankfurt im Rahmen eines Interfakultätsseminars von fünf Chicagoer, sieben Frankfurter und einem Schweizer Dozenten durchgeführt wurde [2. Vgl. W. Riigg: Humanismus, Studium generale und Studia Humanitatis in Deutschland, Genf und Darmstadt 1954.]. Die Kräfte, die das Hamburger Gutachten trugen oder ihm nachträglich sich anschlössen (so die Gewerkschaften in der Oberaudorfer-Entschließung 1950), gerieten zwar in den Verdacht des Modernismus oder der Anglophilie; allein der Gedanke, daß die Universität auch außerhalb des wissenschaftlichen Unterrichts auf die Studenten pädagogisch einzuwirken habe, setzte sich, als Programmpunkt wenigstens, auf den in Hinterzarten 1952 und in Honnef 1955 abgehaltenen offiziellen Reformtagungen durch [3. Vgl. G. Teilenbach: Probleme der deutschen Hochschule, Freiburg 1953; H. Heimpel: Probleme und Problematik der Hochschtdreform, Göttingen 1956.].

Auch die Humboldtsche Universität bezog ja de facto ihre bildende Kraft nicht aus der kritischen Einübung des wissenschaftlichen Handwerks allein, sondern übertrug einen Teil ihrer Erziehungsaufgaben der persönlichen Kommunikation von Studenten und Dozenten. Die institutionalisierten Formen dafür, das Seminar, der Haushalt des Professors und in gewissem Sinne die Korporationen sind indes dafür in ihrer gegenwärtigen Gestalt weithin untauglich geworden.

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