Merkur, Nr. 413, November 1982

Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik
Über eine Bewegung von Intellektuellen in zwei politischen Kulturen

 von Jürgen Habermas

Den Neokonservativen in den USA kommt das Verdienst zu, daß sich eine konservative Regierung auf mehr als auf Pragmatik plus Stimmungslage, nämlich auf theoretische Perspektiven stützen kann. Das erklärt auch das Interesse, das diese Intellektuellenbewegung bei den konservativen Parteien in Europa gefunden hat; ein Beispiel ist die im September 1981 von der Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltete Tagung, die deutsche mit amerikanischen Neokonservativen zusammengeführt hat. In den USA handelt es sich wie in der Bundesrepublik um lockere Intellektuellenbünde auf der Basis gemeinsamer Gesinnungen. Gemeinsam ist den Neukonservativen beider Länder ein Bündel von kritischen Einstellungen und Auffassungen, die aus ähnlichen Enttäuschungen resultieren. Seit der Mitte der sechziger Jahre sahen sich diese Sozialwissenschaftler und Philosophen wirtschaftlichen, politischen und geistigen Entwicklungen konfrontiert, die mit ihrem eher affirmativen Bild westlicher Industriegesellschaften nicht übereinstimmten. Insofern ist der Neokonservativismus das Ergebnis einer Enttäuschungsverarbeitung. In den USA und in der Bundesrepublik unterscheiden sich freilich die Profile neukonservativen Denkens ebenso sehr wie die Theorien und die Zeitdiagnosen, von denen diese Intellektuellen hier und dort in den fünfziger Jahren ausgegangen sind.

 

I

Den theoretisch produktiven Kern der Neokonservativen in Amerika bilden bekannte, wissenschaftlich ausgewiesene Soziologen wie Daniel Bett, Peter Berger, Nathan Glazer, Seymour Martin Lipset, Robert Nisbet und Edward Shils. Sie machen aus ihrer politischen Vergangenheit als Linke und Liberale kein Hehl. In den fünfziger Jahren gehörten viele von ihnen zu dem strikt antikommunistischen Kreis um das American Committee for Cultural Freedom, nahmen an den Kongressen für kulturelle Freiheit teil und publizierten in der Hauszeitschrift Encounter, dem englischen Gegenstück zu Preuves und Monat. Vor diesem politischen Hintergrund tritt die Kontinuität im Denken der amerikanischen Neokonservativen hervor. Diese halten auch heute noch an zwei wichtigen Positionen fest, die sie in den fünfziger Jahren vertreten haben.

Das gilt einerseits für den Antikommunismus, der sich auf das Konzept des Totalitarismus berufen konnte, und andererseits für einen Antipopulismus, der mit der Theorie der demokratischen Eliteherrschaft begründet wurde. Beide Theorien waren in der Sozialwissenschaft der fünfziger Jahre zwar nicht unkontrovers, aber weithin akzeptiert. Die Totalitarismustheorie hat die negativen Züge des politischen Systems der gegnerischen Seite beleuchtet, indem sie die Ähnlichkeiten zwischen der faschistischen und der kommunistischen Einparteienherrschaft hervorhob; die andere Theorie hat die Vorzüge des eigenen politischen Systems damit erklärt, daß der repräsentative Charakter des gewaltenteilenden Verfassungsstaates sowohl den Pluralismus gesellschaftlicher Interessen wie auch eine optimale Auslese des Führungspersonals sichert. Dies war der gemeinsame Nenner von liberalen Gesellschaftstheorien, die die Modernisierungsprozesse derart auf den Begriff brachten, daß die industriell am meisten fortgeschrittene, eben die amerikanische Gesellschaft implizit als vorbildlich gelten konnte. Diese normative Auszeichnung des Status quo konnte sich freilich gegen den Augenschein der Realitäten der sechziger und siebziger Jahre nicht behaupten.

Daraus erklärt sich das Selbstverständnis von Irving Kristol, der sich für einen von der Realität gebeutelten Liberalen hält. Peter Glotz hat diese Definition in freier Übersetzung wiedergegeben: »Der Neokonservatismus ist das Netz, in das sich der Liberale fallen lassen kann, wenn er vor seinem eigenen Liberalismus Angst bekommt.« Was hat den Liberalen Angst gemacht?

Auf die sozialen und die ökonomischen Veränderungen, die das Ende der New Deal-Epoche herbeigeführt und die alte New Deal-Koalition (teilweise durch sozialen Aufstieg) zerstört haben, kann ich nicht eingehen. Handgreiflicher waren die Veränderungen in der Außenpolitik; die Neokonservativen haben auf die Niederlage in Vietnam und auf Kissingers Entspannungspolitik mit dem Gefühl reagiert, daß Amerikas Widerstand gegen den Weltkommunismus durch eine Art moralische Entwaffnung gelähmt wird. So wenig wie die internationalen Entwicklungen ins antikommunistische Konzept paßten, so wenig paßte im Inneren die Mobilisierung, die die Gesellschaft im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung, des Studentenprotests, der Neuen Linken, der Frauenbewegung und der eskapistischen Gegenkulturen ergriffen hatte, in die heile Welt einer ideologiefreien Eliteherrschaft. Ferner gab es mit der Problematisierung der Armut Mitte der sechziger Jahre einen Riß in dem eher harmonistischen Bild von der Wohlstandsgesellschaft.

Alsbald zeigten sich auch die unerwünschten Nebenfolgen der unter Johnson bürokratisch ins Werk gesetzten sozialstaatlichen Programme. Wo sie dennoch funktionierten, waren sie für die Neukonservativen nur um so schlimmer; denn dann gefährdeten sie den formalen Grundsatz der Chancengleichheit zugunsten einer kollektiven Startchancenverbesserung von ethnischen Minderheiten oder von Frauen. Die neokonservativ gewordenen Liberalen sind von dem angeblichen Autoritätsverlust der tragenden Institutionen, insbesondere des politischen Systems beunruhigt. Dieses Phänomen wird unter Stichworten wie Unregierbarkeit, Vertrauensschwund, Legitimitätsverlust und so weiter suggestiv dargestellt.

(…)

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