Merkur, Nr. 153, November 1960
Ein marxistischer Schelling. Zu Ernst Blochs spekulativem Materialismus
von Jürgen Habermas
Wäre man nicht von Blochs freigiebigem Gebrauch des Mottos — zumal solcher, die den Autor selber zitieren — ein wenig verschreckt, möchten wir wohl das folgende gewählt haben: „Die Vernunft kann nicht blühen ohne Hoffnung, die Hoffnung nicht sprechen ohne Vernunft, beides in marxistischer Einheit — andere Wissenschaft hat keine Zukunft, andere Zukunft keine Wissenschaft.“ Dies eins der wenigen Epigramme des epischen Denkers, der seine Stärke — den „Spuren“ und seinen eigenen Neigungen zum Trotz — nicht immer in der kleinen Form, in Aphorismus und Parabel beweist. Bloch läßt sich von der Fülle des Gedankens in Breiten der Erzählung, in erzählende Breite treiben. Das voluminöse Kompendium des Leipziger Philosophen, in den USA geschrieben, in der östlichen Hälfte unseres Landes durchgesehen und ergänzt, in dessen westlicher Hälfte zuerst vollständig vorgelegt 1, spiegelt so schon in der äußeren Geschichte seine innere — die Odyssee eines Geistes vom Geist des Exodus.
Erfahrend und irrfahrend brütet der Gedanke, der sich des von Jakob Böhme bezeichneten „Brütens“ im dunklen Grunde der Welt annimmt. „Das Nichts hungert nach dem Etwas“, heißt es bei diesem, „und der Hunger ist die Begierde als das erste Verbum Fiat.“ Demselben Motiv folgt Bloch, wenn er Hunger als den fundamentalen Trieb gegen Freuds Libido ausspielt. Der sich stets erneuernde Hunger treibt die Menschen um, bestimmt Selbsterhaltung zu Selbsterweiterung; und verwandelt sich in seiner aufgeklärten Gestalt zur Sprengkraft gegen die Gefängnisse der Entbehrung überhaupt. Der belehrte Hunger, eine andere Form der docta spes, entfaltet sich zum Entschluß, alle Verhältnisse aufzuheben, unter denen Menschen als verschollene Wesen dahinleben.
Hunger erscheint als elementare Energie der Hoffnung. An dem Werk selbst, das Bloch der Hoffnung widmet, haftet etwas von Hunger — von einer grandiosen Systematisierung aufgegriffener Hoffnungen zum intendierten System der begriffenen Hoffnung noch auf dem Weg. Daß die Vernunft begreifen solle, wird auch der Einwand des Positivisten sein, wenn er hört, daß Vernunft ohne Hoffnung nicht soll blühen können. Bloch indessen eignet sich eigentümlich positiv an, was vor dem Spruch des Positivismus angeblich in den Schein falsch gestellter Fragen zerfällt.
Gleich diesem kritisiert auch er zwar die Mythen, Religionen und Philosophien als Schein, aber als Vor-schein auf ein künftig Herzustellendes nimmt er sie ernst. Er behält das, einer Unterscheidung der modernen Wissenschaftslogik zufolge, von den Fakten gleichsam abgeschöpfte Normative ein, aber nicht als ontologischen Bestand, sondern als den Hof intentionaler Erfahrungen, die aus dem Bestehenden über es hinausdrängen. Nicht ihren Mut zum Transzendieren legt Bloch der bisherigen Philosophie zur Last, sondern ihr falsches Bewußtsein davon: als erschließe sie sich transzendierend ein einstmals oder immer schon Gewesenes. So verstand Aristoteles die Wesenheit als eine Ge-wesenheit, so versteht noch Heidegger das abwesende Anwesen des Seins als die bevorstehende Wiederkunft eines im Ursprung schon Gewesenen.
Das Erkennen, das von Platos Anamnesis bis zu Freuds Analyse dem Zug einer erinnernden Rückkehr zu folgen scheint, bezieht sich doch in Wahrheit auch auf ein Ankommendes, objektiv erst Mögliches. Dieses bezeichnet die Umrisse der vérité à faire, einer zu verwirklichenden Wahrheit, die „nirgendwo“ schon wirklich, und insofern utopisch ist. Allerdings hat sich Utopie seit jenen Tagen, da Thomas Morus de nova insula utopia meditierend ihr den Namen gab, zur konkreten Utopie nur in dem Maße entfalten können, in dem die Analyse der geschichtlichen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Triebkräfte die Bedingungen einer möglichen Verwirklichung aufzudecken begann. Mit solcher Analyse befaßt Bloch sich nicht; er unterstellt sie schlicht als erbracht, nämlich vom Historischen Materialismus. Die größere Gefahr, daß im eigenen Lager „Schematiker mit Zitatenschatz“ und „Praktizisten aus der hohlen Hand“ die Utopie über dem Geschäft ihrer Realisierung verraten, scheint ihm die größere Anstrengung zu erfordern: die Dimensionen der Utopie selbst zu fassen und für die Nachgeborenen im verlierbar festzuhalten.
Bloch will dem Sozialismus, der von der Kritik der Tradition lebt, die Tradition des Kritisierten erhalten. Gegenüber dem unhistorischen Verfahren einer Ideologiekritik à la Feuerbach, die dem Hegelschen „Aufheben“ die Hälfte seines Sinnes nahm, beim tollere unter Verzicht aufs elevare es bewenden ließ — will Bloch den Ideologien ihre Ideen abgewinnen, im falschen Bewußtsein das wahre retten: „Alle bisherige große Kultur ist Vorschein eines Gelungenen, sofern er immerhin in Bildern und Gedanken auf der fernsichtreichen Höhe der Zeit angebaut werden konnte.“ Selbst die Religionskritik, die Marx in den Thesen über Feuerbach resümiert, erfährt so ihre Rückdeutung. Gott ist tot, aber sein „Ort“ hat ihn überlebt; der Raum, in den die Menschheit Gott und die Götter hineinimaginiert hat, bleibt nach dem Zerfall dieser Hypostasen gleichsam als ein Hohlraum zurück; dessen „Tiefenabmessungen“, nämlich die des endlich begriffenen Atheismus, verraten den Grundriß eines künftigen Reichs der Freiheit.
Den „kulturellen Überschuß“, die verschlüsselte Wahrheit noch in den Mythologemen, ringt Bloch dem Ökonomismus eines auf Diamat abgerichteten Marx augenzwinkernd mit einer Variation auf den, seinerseits Locke variierenden Leibniz ab: nichts sei im Überbau, was nicht auch in der Basis angelegt ist — mit Ausnahme des Überbaus selber.
(…)
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FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN
- „Das Prinzip Hoffnung.“ 5 Teile in zwei Bänden. Suhrkamp, Frankfurt 1959; 1657 Seiten. ↑
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