Merkur, Nr. 429, Juli 1984

Genealogische Geschichtsschreibung
Über einige Aporien im machttheoretischen Denken Foucaults

von Jürgen Habermas

In einem Nachruf auf Foucault in der taz vom 7. Juli 1984 hat Jürgen Habermas dem am 25. Juni in Paris gestorbenen großen Philosophen Dankbarkeit und Respekt erwiesen. Er schreibt dort: »Aus dem Kreis der philosophischen Zeitdiagnostiker einer Generation hat Foucault den Zeitgeist am nachhaltigsten affiliert – nicht zuletzt dank des Ernstes, mit dem er in produktiven Widersprüchen ausharrt. Nur ein komplexes Denken bringt lehrreiche Widersprüche hervor.« Einem Philosophen tut man dadurch Ehre an, daß man seine Texte ernst nimmt. In diesem Geiste veröffentlichen wir ein Bruchstück aus Vorlesungen, die der Autor im Januar dieses Jahres an der Universität Frankfurt über Foucault gehalten hat.

 Foucault fühlt sich als »glücklicher Positivist«, weil er drei methodologisch folgenreiche Reduktionen vornimmt: das Sinnverständnis des an Diskursen beteiligten Interpreten wird aus der Sicht des ethnologischen Beobachters auf die Erklärung von Diskursen zurückgeführt; Geltungsansprüche werden funktionalistisch auf Machtwirkungen reduziert; Sollen wird naturalistisch auf Sein zurückgeführt. Ich spreche von Reduktionen, weil die internen Aspekte der Bedeutung, der Wahrheitsgeltung und des Wertens in den extern erfaßten Aspekten von Machtpraktiken keineswegs restlos aufgehen. Die ausgeblendeten und verdrängten Momente kehren wieder und behaupten ihr Eigenrecht – zunächst auf metatheoretischer Ebene. Foucault verstrickt sich in Aporien, sobald er erklären soll, wie das, was der genealogische Geschichtsschreiber selber tut, zu verstehen sei. Die vorgebliche Objektivität der Erkenntnis sieht sich dann nämlich in Frage gestellt durch den Präsentismus einer Geschichtsschreibung, die hermeneutisch ihrer Ausgangssituation verhaftet bleibt; durch den Relativismus einer gegenwartsbezogenen Analyse, die sich selbst nur noch als kontextabhängiges praktisches Unternehmen verstehen kann; und durch die Parteilichkeit einer Kritik, die ihre normativen Grundlagen nicht ausweisen kann. Foucault ist unbestechlich genug, um diese Inkonsequenzen einzugestehen – freilich zieht er daraus keine Konsequenzen.

Foucault will die hermeneutische Problematik und damit jene Selbstbezüglichkeit eliminieren, die mit einem sinnverstehenden Zugang zum Objektbereich ins Spiel kommt. Der genealogische Geschichtsschreiber soll nicht wie der Hermeneutiker verfahren, nicht versuchen, das, was die Akteure jeweils tun und denken, aus einem mit dem Selbstverständnis der Akteure verwobenen Traditionszusammenhang zu verstehen. Er soll vielmehr den Horizont, innerhalb dessen solche Äußerungen überhaupt als sinnvoll erscheinen können, aus zugrundeliegenden Praktiken erklären. So wird er z. B. das Verbot der Gladiatorenkämpfe im späten Rom nicht auf den humanisierenden Einfluß des Christentums zurückführen, sondern auf die Ablösung einer Machtformation durch die nächste[1. Dieses Beispiel behandelt Paul Veyne, Der Eisberg der Geschichte. Foucault revolutioniert die Geschichte. Berlin: Merve 1981.]: Im Horizont des neuen Machtkomplexes im nachkonstantinischen Rom ist es z. B. ganz natürlich, daß der Herrscher das Volk nicht mehr wie eine Herde von zu hütenden Schafen, sondern wie eine Schar von erziehungsbedürftigen Kindern behandelt – und Kinder darf man nicht mehr sorglos blutrünstiger Schaulust überlassen. Die Reden, mit denen Einrichtung oder Abschaffung von Gladiatorenkämpfen begründet werden, gelten nur noch als Objektivierungen einer unbewußt zugrundeliegenden Herrschaftspraxis. Als Quelle allen Sinns sind solche Praktiken selber sinnlos; der Historiker muß von außen an sie herantreten, um sie in ihrer Struktur zu erfassen. Dazu bedarf es keines hermeneutischen Vorverständnisses, sondern einzig des Konzepts der Geschichte als eines sinnlosen kaleidoskopischen Gestaltwandels von Diskurstotalitäten, die nichts miteinander gemeinsam haben außer der einzigen Bestimmung, Protuberanzen von Macht überhaupt zu sein. Entgegen diesem auf Objektivität beharrenden Selbstverständnis lehrt freilich der erste Blick in irgendeines von Foucaults Büchern, daß auch der radikale Historist Machttechnologien und Herrschaftspraktiken nur im Vergleich miteinander – und keineswegs jede einzelne als eine Totalität jeweils aus sich selber – erklären kann. Dabei sind die Gesichtspunkte, unter denen er Vergleiche vornimmt, unvermeidlich mit der eigenen hermeneutischen Ausgangslage verknüpft.

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