Merkur, Nr. 448, Juni 1986

Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland

von Jürgen Habermas

I

Im Jahre 1916 hatte Kurt Hiller unter dem expressionistischen Titel Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist eine Programmschrift herausgegeben, in der sich achtzehn Intellektuelle zum Fürsprecher von progressiven Forderungen machten. Der damals zweiunddreißigjährige Theodor Heuss nahm diese Publikation zum Anlaß für eine Kritik an der (in seinen Augen) fragwürdigen Politisierung von Schriftstellern. Er erinnert an Vorläufer wie Hutten und die Pamphlete schreibenden Humanisten, an Voltaire und die Enzyklopädisten, an Arndt und Görres, die Wortführer gegen Napoleon, schließlich an Börne, Heine und das Junge Deutschland. Heuss stellt fest, daß deren Auftreten in Perioden vor der Ausbildung eines parlamentarischen Betriebs und eines Parteiensystems fällt. Damals habe die politische Willensbildung noch nicht unter dem heilsam disziplinierenden Zwang von Taktik und Organisation gestanden. Noch die Intellektuellen des Vormärz konnten sich, ohne die Opportunitätserwägungen des politischen Tagesgeschäfts, einen gewissen Idealismus leisten. Der aber könne für die Zeitgenossen kein Modell mehr sein; sonst liefen sie eben Gefahr, »auf den verschobenen Realitäten auszurutschen. Als Kerr etwa begann, seine Publizistik politisch zu färben, spürte man: er denkt an Heinrich Heine. Aber damit wird es nicht viel. Denn unsere breiter, umständlicher, handwerklich gewordene Tagespolitik würde auf Heines Publizistik und Pointen nur matt reagieren«. 1

Unverkennbar ist der Einfluß von Friedrich Naumann, auch von Max Weber, der ja drei Jahre später, in seinem berühmten Vortrag über Politik als Beruf, die »sterile Aufgeregtheit« der Intellektuellen der Sachlichkeit und Rationalität der Berufspolitiker gegenüberstellen wird. Dem Berufspolitiker schreibt Weber realitätsgerechte Distanz, Augenmaß, Kompetenz und Verantwortungsbereitschaft zu − dem politisch dilettierenden Schriftsteller und Philosophen hingegen »eine ins Leere laufende Romantik des intellektuell Interessanten ohne alles sachliche Verantwortungsgefühl«. Ich werde auf diese von Schumpeter und Gehlen wieder aufgenommene Kritik an der Rolle des Intellektuellen zurückkommen. Zunächst aber geht es um die Frage, ob sich denn jene Intellektuellen, die der junge Heuss und Max Weber in der Periode des Ersten Weltkriegs vor Augen hatten, tatsächlich an Heine orientiert haben. Haben sie sich gar durch sein Vorbild, wie Heuss vermutet, irreführen lassen? Richtig ist gewiß die Beobachtung, daß der Intellektuelle mit der Ausbildung eines parlamentarischen Betriebes eine andere Rolle übernimmt. Ja, er gewinnt seine spezifische Rolle sogar erst mit dem Adressaten einer durch die Presse und den Kampf politischer Parteien geformten öffentlichen Meinung.

Die politische Öffentlichkeit wird erst im Verfassungsstaat zum Medium und Verstärker einer demokratischen Willensbildung. Hier findet der Intellektuelle seinen Platz. Auch das Wort »Intellektueller« wird erst im Frankreich der Dreyfus-Affäre geprägt. Im Januar 1898 publizierte Emile Zola einen offenen Brief an den Präsidenten der Republik mit schweren Beschuldigungen gegen Militär und Justiz; einen Tag darauf erscheint in derselben Zeitung ein Manifest, das ebenso gegen Rechtsverletzungen im Prozeß gegen den wegen Spionage verurteilten Hauptmann Dreyfus protestiert. Es trägt über hundert Unterschriften, darunter die von prominenten Schriftstellern und Wissenschaftlern. Bald darauf wird es in der Öffentlichkeit als »Manifest des Intellectuelles« bezeichnet. Anatole France spricht damals vom »Intellektuellen« als einem Gebildeten, der »ohne politischen Auftrag« handelt. Was bei Max Weber als Unverantwortlichkeit des politischen Dilettanten wiederkehren wird, gilt ihm noch als kompetenzfreie Verantwortlichkeit für das Ganze.

Mit Revision und Freispruch des zu Unrecht verdächtigten jüdischen Hauptmanns erzielten die Dreyfusards einen handgreiflichen Erfolg. Mehr noch hat der indirekte Erfolg, die Bewahrung der Dritten Republik vor einem Abgleiten in erneuten Bonapartismus, jene Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« (Foucault) festgelegt, wie sie auf der Pariser Szene immer wieder − von Zola bis Sartre − eindrucksvoll wahrgenommen worden ist. Die Definition ist klar: Die Intellektuellen wenden sich, wenn sie sich mit rhetorisch zugespitzten Argumenten für verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Fortschritte einsetzen, an eine resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit; sie rechnen mit der Anerkennung universalistischer Werte, sie verlassen sich auf einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat und auf eine Demokratie, die ihrerseits nur durch das Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger am Leben bleibt. Nach seinem normativen Selbstverständnis gehört dieser Typus in eine Welt, in der Politik nicht auf Staatstätigkeit zusammenschrumpft; in der Welt des Intellektuellen ergänzt eine politische Kultur des Widerspruchs die Institutionen des Staates. Dieser Welt steht Heinrich Heine nah und fern zugleich. Die Distanz bemißt sich am Verhältnis des Pariser Emigranten zum Deutschland der vormärzlichen Restauration. Heine kann noch kein Intellektueller im Sinne der Dreyfus-Partei sein, weil er von der politischen Meinungsbildung in den deutschen Bundesstaaten auf doppelte Weise ferngehalten wird: physisch durch sein Exil und geistig durch die Zensur. Im Wintermärchen vergleicht Heine die Zensur mit dem Zollverein, der das zersplitterte Vaterland wirtschaftlich eint: »Er (der Zollverein) gibt die äußere Einheit uns, / Die sogenannte materielle; / Die geistige Einheit gibt uns die Zensur, /Die wahrhaft ideelle − / Sie gibt die innere Einheit uns, / Die Einheit im Denken und Sinnen«.

(…)

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FUSSNOTEN & QUELLENANGABEN

  1. Zitiert nach Michael Stark (Hrsg.), Deutsche Intellektuelle 1910−1933. Heidelberg: Lambert Schneider 1984.

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