Merkur, Nr. 94, Dezember 1955

Marx in Perspektiven

von Jürgen Habermas

Es gibt Polemiken und es gibt Pamphlete. Beide unterscheiden sich nicht so sehr literarisch als vielmehr in der Wahl der Argumente voneinander: Polemiken kritisieren, Pamphlete denunzieren. Beide können das gleiche Ziel haben — einen Gegner zu vernichten; allein die Polemik wählt das Mittel der Widerlegung, das Pamphlet erzeugt Entrüstung. Beides, meine ich, sind legitime Formen, in denen sich ein engagierter Intellekt ausdrücken kann. Aber wann die eine, wann die andere legitim ist, entscheiden der Gegner und die Situation, in der er uns begegnet, entscheidet, genauer, die Höhenlage dessen, was entmachtet werden soll. Andernfalls kann es passieren, daß man zu hoch oder auch zu tief stößt. Leopold Schwarzschild stößt zu tief.

Eine kritische Betrachtung seines Buches „Der Rote Preuße“ (Scherz & Goverts, Stuttgart 1954) brauchte nur, ohne die Sache zu leicht zu nehmen, die Frage zu stellen: Kann man gegen Marx, den nachweislich einzigen Hegelianer von Genie, aus einem Abstand von einem Jahrhundert ein Pamphlet schreiben? Überdies ein Pamphlet, das einen biographischen Roman in die Form einer wissenschaftlichen Biographie kleidet? Im Zeitalter der illustrierten Massenpresse ist das keine Frage — aber wen trifft man? Und gerade wir, die wir uns zum „Westen“ rechnen, müssen diese Frage um so dringlicher stellen, als wir daran interessiert sind, etwas sehr Bestimmtes zu treffen: Unmenschlichkeiten nämlich, die im Namen dieses Mannes Marx begangen wurden und noch, so scheint es, begangen werden.

Schwarzschild spitzt seine Sätze auf die eine Pointe zu: daß Marx, dieser legendär verklärte Mann, nicht nur nicht mehr, sondern auch nichts anderes war als ein — Wadenbeißer. „Wadenbeißer“, so lautet ein Fluch des von Marx tief verletzten Arnold Rüge; Schwarzschild macht ihn zur Etikette eines Charakters und eines Lebenswerks. Seine indiskutable Voraussetzung ist, daß alles, was Marx je gesagt und geschrieben hat, von einem persönlichen Interesse gegen andere Personen diktiert gewesen sei. Daß Marx — ein Mann, der sich einer Sache so verschrieb, daß er mit seiner Familie Jahrzehnte im gröbsten Elend leben mußte, daß er Glück und Gesundheit (zwei seiner Kinder starben Hungers) der Arbeit opferte — vielleicht dies oder jenes um der Sache selbst willen erarbeitet haben könnte, scheint nicht der Erwägung wert. Unser Biograph weiß zu berichten, daß die historisch-materialistische Geschichtsauffassung nur aus Haß, Neid, Eifersucht und Ranküne gegen die Rivalen Hess, Rüge, Weitling, daß die drei dickleibigen Bände des „Kapitals“ nur aus Haß, Neid, Eifersucht und Ranküne gegen den Rivalen Lassalle und aus den gleichen Motiven gegen den Rivalen Bakunin die reaktionsschnellen und temperamentvollen Parteinahmen für die Pariser Kommune geboren wurden.

Mehr noch weiß unser Biograph — hat dieser Marx überhaupt je ernsthaft gearbeitet? Hat er nicht beispielsweise 1844 von einem Darmstädter Verleger einen Vorschuß von 1500 fr. bekommen, ohne auch nur eine Zeile der annoncierten „Kritik der Politik und Oekonomie“ abzuliefern? Freilich vergißt Schwarzschild zu erwähnen, daß Marx in dieser Zeit tatsächlich Manuskripte ausgearbeitet hat, in denen man später, nach ihrer Veröffentlichung aus dem Nachlaß 1932, ein geniales philosophisches Fragment und den Katechismus des Marxschen Humanismus entdecken sollte. Ähnliche „Bummeleien“ berichtet Schwarzschild auch aus früheren Jahren, um dabei die bedeutsame Kritik an Hegels Staatsphilosophie ebenso peinlich zu verschweigen.

Bummelei und Fahrigkeit verzeichnet er im Grunde von jedem Lebensabschnitt, ausgenommen die monomanen Eruptionen gekränkter Eitelkeit, in denen Herrsch- und Geltungssucht die Feder führen, um das immerhin nicht ganz unbeträchtliche oeuvre zustande zu bringen. Und schließlich erfahren wir, daß dieser Mann nie einen regulären Beruf ausgeübt hat und zeitlebens auf die Unterstützung von Familie und Freundeskreis angewiesen war, und erinnern uns, daß auch andere nicht gerade unbedeutende Zeitgenossen wie Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche eine recht unbürgerliche Literatenexistenz jenseits der traditionellen Kathederphilosophie geführt haben.

(…)

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