Merkur, Nr. 442, Dezember 1985

Moral und Sittlichkeit
Hegels Kantkritik im Lichte der Diskursethik

von Jürgen Habermas

 

I

Was heißt Diskursethik?

Die klassischen Ethiken hatten sich auf alle Fragen des »guten Lebens« bezogen ; Kants Ethik bezieht sich nur noch auf Probleme richtigen oder gerechten Handelns. Moralische Urteile erklären, wie Handlungskonflikte auf der Grundlage eines rational motivierten Einverständnisses beigelegt werden können. Im weiteren Sinne dienen sie dazu, Handlungen im Lichte gültiger Normen oder die Gültigkeit der Normen im Lichte anerkennungwürdiger Prinzipien zu rechtfertigen. Das moraltheoretisch erklärungsbedürftige Grundphänomen ist nämlich die Sollgeltung von Geboten oder Handlungsnormen. In dieser Hinsicht sprechen wir von einer deontischen Ethik. Diese versteht die Richtigkeit von Normen oder Geboten in Analogie zur Wahrheit eines Aussagesatzes. Allerdings darf die moralische »Wahrheit« von Sollsätzen nicht – wie im Intuitionismus oder in der Wertethik – an die Geltung von Aussagesätzen assimiliert werden.

Kant wirft die theoretische mit der praktischen Vernunft nicht zusammen. Normative Richtigkeit begreife ich als wahrheitsanalogen Geltungsanspruch. In diesem Sinne sprechen wir auch von einer kognitivistischen Ethik. Diese muß die Frage beantworten können, wie sich normative Aussagen begründen lassen. Obwohl Kant die Imperativform wählt (»… handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«), übernimmt der Kategorische Imperativ die Rolle eines Rechtfertigungsprinzips, welches verallgemeinerungsfähige Handlungsnormen als gültig auszeichnet. Was im moralischen Sinne gerechtfertigt ist, müssen alle vernünftigen Wesen wollen können: In dieser Hinsicht sprechen wir von einer formalistischen Ethik.

In der Diskursethik tritt anstelle des Kategorischen Imperativs das Verfahren der moralischen Argumentation. Sie stellt den Grundsatz auf: daß nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden könnten. Zugleich wird der Kategorische Imperativ zu einem Universalisierungsgrundsatz herabgestuft, der in praktischen Diskursen die Rolle einer Argumentationsregel übernimmt: bei gültigen Normen müssen Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können.

Universalistisch nennen wir schließlich eine Ethik, die behauptet, daß dieses (oder ein ähnliches) Moralprinzip nicht nur die Intuitionen einer bestimmten Kultur oder einer bestimmten Epoche ausdrückt, sondern allgemein gilt. Nur eine Begründung des Moralprinzips, die ja nicht schon durch den Hinweis auf ein Faktum der Vernunft geleistet wird, kann den Verdacht auf einen ethnozentrischen Fehlschluß entkräften. Man muß nachweisen können, daß unser Moralprinzip nicht nur die Vorurteile des erwachsenen, weißen, männlichen, bürgerlich erzogenen Mitteleuropäers von heute widerspiegelt. Auf diesen schwierigsten Teil der Ethik werde ich nicht eingehen, sondern nur die These in Erinnerung bringen, die die Diskursethik in diesem Zusammenhang aufstellt: Jeder, der ernsthaft den Versuch unternimmt, an einer Argumentation teilzunehmen, läßt sich implizit auf allgemeine pragmatische Voraussetzungen ein, die einen normativen Gehalt haben; das Moralprinzip läßt sich dann aus dem Gehalt dieser Argumentationsvoraussetzungen ableiten, sofern man nur weiß, was es heißt, eine Handlungsnorm zu rechtfertigen. [1. Allerdings darf die Idee der Rechtfertigung von Normen nicht zu stark sein und nicht schon in die Prämisse einführen, worauf doch erst geschlossen werden soll: daß gerechtfertigte Normen die Zustimmung aller Betroffenen müßten finden können. Dieser Fehler ist mir unterlaufen in Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (Frankfurt: Suhrkamp 1983).]

Den Standpunkt, von dem aus moralische Fragen unparteilich beurteilt werden können, nennen wir den »moralischen Gesichtspunkt« (moral point of view). Formalistische Ethiken geben eine Regel an, die erklärt, wie man etwas unter dem moralischen Gesichtspunkt betrachtet. John Rawls empfiehlt in seiner Theorie der Gerechtigkeit bekanntlich einen Urzustand, in dem alle Beteiligten einander als rational entscheidende, gleichberechtigte Vertragspartner, freilich in Unkenntnis über ihren tatsächlich eingenommenen gesellschaftlichen Status gegenübertreten, als »den angemessenen Ausgangszustand, der gewährleistet, daß die in ihm erzielten Grundvereinbarungen fair sind«. George Herbert Mead empfiehlt statt dessen in seinen Fragmenten über Ethik eine ideale Rollenübernahme, die verlangt, daß sich das moralisch urteilende Subjekt in die Lage all derer versetzt, die von der Ausführung einer problematischen Handlung oder von der Inkraftsetzung einer fraglichen Norm betroffen wären.

Das Verfahren des praktischen Diskurses hat Vorzüge gegenüber beiden Konstruktionen. In Argumentationen müssen die Teilnehmer davon ausgehen, daß im Prinzip alle Betroffenen als Freie und Gleiche an einer kooperativen Wahrheitssuche teilnehmen, bei der einzig der Zwang des besseren Arguments zum Zuge kommen darf. Der praktische Diskurs gilt als eine anspruchsvolle Form der argumentativen Willensbildung, die (wie der Rawlssche Urzustand) allein aufgrund allgemeiner Kommunikationsvoraussetzungen die Richtigkeit (oder Fairneß) jedes unter diesen Bedingungen möglichen normativen Einverständnisses garantieren soll. Diese Rolle kann der Diskurs kraft der idealisierenden Unterstellungen spielen, die die Teilnehmer in ihrer Argumentationspraxis tatsächlich vornehmen müssen; deshalb entfällt der fiktive Charakter des Urzustandes einschließlich des Arrangements künstlicher Unwissenheit. Auf der anderen Seite läßt sich der praktische Diskurs als ein Verständigungsprozeß begreifen, der seiner Form nach alle Beteiligten gleichzeitig zur idealen Rollenübernahme anhält. Er transformiert also die bei Mead von jedem einzeln und privatim vorgenommene ideale Rollenübernahme in eine öffentliche, von allen intersubjektiv gemeinsam praktizierte Veranstaltung.

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