Merkur, Nr. 97, März 1956

Notizen zum Missverhältnis von Kultur und Konsum

von Jürgen Habermas

Der kritische, um nicht zu sagen denunzierende Unterton des Wortes ,Kulturkonsum‘ spiegelt ein deutliches Unbehagen und die Gewißheit, daß es mit der kulturellen Überlieferung nicht mehr stimmt. Soll freilich dieses Unbehagen die kritische Dimension erreichen, so darf es nicht bei einer affektiven Selbstschutzreaktion stehen bleiben; nämlich bei der Entrüstung über ein nivelliertes Bildungsprivileg, über ein vulgarisiertes Bildungsideal, über einen profanisierten Bildungshabitus. Denn vorderhand bleibt es unerfindlich, warum die Demokratisierung und Säkularisierung der Kulturgüter an sich schon negative Vorgänge sein sollen.

Erst das Erstaunen darüber, daß nicht mehr Anstrengung, sondern Entlastung, nicht mehr Askese, sondern Lust, nicht mehr Sammlung, sondern Zerstreuung – daß nicht mehr Bildung, sondern Konsum den Zugang zu den Kulturgütern öffnen . . . erst dieses Staunen mag über eine bloß polemische Absicherung eigener Befangenheit hinauskommen. Kulturkonsum — das ist terminologisch wie sachlich die Vereinbarung tatsächlich unvereinbarer Elemente. Wir versuchen, diese Elemente zu isolieren, um alsdann ihre paradoxe Verkoppelung aufzuklären.

 

I

Aufgefordert zu sagen, was Kultur sei, geraten wir unvermeidlich in Verlegenheit. Gewiß kann man mühsam und eins nach dem anderen die Sachgebiete aufzählen und erörtern, auf denen sich kulturelle Aktivität niederschlägt. Je penibler wir indes die Anatomie des Kulturskeletts betreiben, je sorgfältiger wir seine einzelnen Gliedmaßen – Kunst, Religion, Sprache, Wissenschaft, Recht usw. – zerlegen, um so weniger erfahren wir, wie es sich mit dem, was wir Kultur nennen, ,eigentlich‘ verhält. Kultur mag nur der begreifen, der sich von ihr ergreifen läßt, und zwar so, daß er sie in seinem Verhalten ausdrückt. Ja, in seinem Verhalten — denn nennen wir nicht den einen ,Mann von Kultur‘, der sich ,benimmt‘ und ,beträgt‘, der in seinem Auftreten Zucht, Artigkeit und Bildung verrät; Bildung zunächst in dem schlichten Sinne von Wartung und Übung? Das ist es nämlich, was die Römer mit cullura meinten: das tätige, das zügelnde und züchtende, wahrende und wartende, bauende und pflegende Gedeihenlassen; cultura agri zunächst, dann aber auch cullura animi. Gewiß klingt noch die höfische Tradition nach, wenn wir bei dem ,Mann von Kultur‘ eben an einen ,höflichen‘, einen gewandten, gepflegten Mann denken.

Wir achten zwar nicht nur auf ,das Äußere‘, aber doch auf das sichtbare Wohlverhalten, auf den Habitus, auf den Bewegungsstil, würden wir heute sagen – kurzum darauf, wie man sich trägt, hält und bewegt. Nicht zufällig sind das alles reflexive Verben. Es heißt: homo se habet: der Mensch ist nicht einfachhin der, der er ist, zugleich hat er sich und seinen Leib. Deshalb sinnvoll von seinem ,Gehabe‘ die Rede sein kann. Die moderne Anthropologie spricht von Verhaltenszwang (Gehlen) und von exzentrischer Position (Plessner), und der Existentialismus formuliert dasselbe dialektisch: der Mensch ist nicht der, der er ist (Sartre).

Der Mensch wird fertig mit seinen Dingen, indem er sich hält. Wie er sich hält, ist Index seiner Kultur. Auch diese Dinge, mit denen er fertig wird, gehören daher mit zur Kultur: seine Geräte, seine Möbel, seine Häuser, seine Straßen und Kanäle, Äcker und Fabriken, Theater und Schulen. Wiewohl die Theater und die Schulen, die Museen und die Kirchen und alles, was darin geschieht, ein innigeres Verhältnis zu ,Kultur‘ zu haben, sozusagen Kultur in einem ausgezeichneten Sinne für sich zu reklamieren scheinen. Und das nicht von ungefähr.

Kultur hat, bereits etymologisch, mit Kultus zu tun. T. S. Eliot nennt Kultur geradewegs die ,fleischgewordene Religion‘. Und in gewisser Hinsicht läßt sich sehr wohl von einer Entstehung der Kultur aus dem Kultus sprechen. Denn darf nicht die Tradition vornehmlich ,kulturell‘ genannt werden, die uns Verhaltensformeln zur Abwehr und zum Austrag bestimmter ungewöhnlicher Ereignisse an die Hand gibt? Der Mensch bestellt ein zerbrechliches Haus und bebaut ein gefährdetes Feld. Geburt und Tod, Krankheit und Gesundung, Adoleszenz und Heirat, Sonnenwende und Mondfinsternis, Saat und Reife und die übrigen dämonischen Gewalten der Natur – dies alles bricht als Ereignis herein, als Ereignis,  das der Mensch in Szene setzen, das er bestehen und ,festmachen‘ muß, indem er sich hält und stellt. Kultur ist dann ein Schatz von Zeremonien, ein Angebot von Verhaltensanweisungen, die auf derart ausgezeichnete und erregende Ereignisse gleichsam geeicht sind.

Sie machen diese Erfahrungen zugleich beherrschbar und wiederholbar. Das letztere ist von Bedeutung, denn die Zeremonie wechselt nach und nach ihre Funktion: Es kommt schließlich dahin, daß sie weniger vor numinosen Eingriffen schützen als vielmehr einführen und fähig machen soll, von ihnen ergriffen zu werden.

(…)

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