Merkur, Nr. 359, April 1978

Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Bildungssprache*

von Jürgen Habermas

 

*Dem Text liegt ein Vortrag der Max-Planck-Gesellschaft über Arbeiten des Starnberger Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt zugrunde. Er wurde am 15. März 1977 in Bielefeld gehalten.

 

Die Deutschen besitzen die Gabe, die Wissenschaften unzugänglich zu machen. Ich zitiere Goethe nicht aus Artigkeit; dieses Wort hat vielmehr für die Sozialwissenschaften eine peinliche Aktualität gewonnen. Soziologen, Psychologen, Politologen, Anthropologen, auch Philosophen, allen voran Pädagogen, stehen heute in dem Ruf, sich unnötig abstrakt und überkompliziert auszudrücken. In dem Buch eines Intelektuellen über »Das Elend unserer Intellektuellen« findet sich ein Kapitel über die »Sprache der Theorie«. Darin heißt es:

»Die vulgärwissenschaftliche Sprache hat einen allenthalben sichtbaren theoriebedingten Abstraktions- und Komplikationsprozeß durchgemacht. Obwohl Hunderte von jungen Sozialwissenschaftlern mit dem Großmeister der modernen Systemtheorie, Niklas Luhmann, von der Notwendigkeit der > Reduktion von Komplexität< sprechen, sind die wenigsten von ihnen imstande, in ihrem eigenen Sprachgehaben Komplexität zu reduzieren; es ist bis zur Unverständlichkeit komplex. Doch kaum besser geht es den Jüngern linker Theorie, die sich in die Begrifflichkeit des Marxismus einarbeiten …« ( K . Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen. 1976, S. 243.)

 Wenn es sich nur darum handelte, daß sich Studenten eines Fachjargons bedienen, der die wissenschaftliche Analyse nicht fördert, sogar behindert, dann würde das zwar die sozialwissenschaftlichen Disziplinen, mindestens unseren Lehrbetrieb, in ein merkwürdiges Licht rücken, aber ein öffentliches, gar ein politisches Ärgernis könnte daraus nicht entstehen. Die Kritiker zielen auch gar nicht auf eine sprachlich verwahrloste Lehr- und Forschungspraxis, sondern auf den Umstand, daß sozialwissenschaftliches Vokabular über die fachspezifischen Öffentlichkeiten hinaus auf allgemeine Sprachbereiche übergreift, in denen es Beunruhigungseffekte auslöst: »Aus dem neuen Theoriebewußtsein dringen die von ihm geprägten Wörter in die tägliche Sprechweise ein, verunsichern oft die hergebrachten Bedeutungsgehalte und verweisen, wenn sie einmal etabliert sind, auf das umfassendere theoretische Gebäude, dem sie entlehnt sind« (Sontheimer).

Während Sontheimer noch neutral davon spricht, daß der Einbruch theoretisch vermittelter Inhalte die politische Sprache »verändert«, spricht Stegmüller bereits von einer »semantischen Verschmutzung der geistigen Umwelt«. [1. W. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie Bd. II. 1975, S. X.] Ganze Tagungen befassen sich mit dem Thema: »Sprache und Politik – Können Begriffe die Gesellschaft verändern?« [2. Bergendorfer Gespräche. Protokoll Nr. 41, 1972 ] Und für den Politologen Hans Maier, den Philosophen Hermann Lübbe, den Soziologen Helmut Schelsky ist es keine Frage mehr, daß die neue terminologische Mobilität der Bildungssprache kein naturwüchsiger, sondern ein politisch gesteuerter Vorgang ist: eine sogenannte Reflexionselite übt ihre Herrschaft im Modus der Sprachpolitik aus. »Souverän ist, wer den Sachverhalt definiert« — mit dieser Abwandlung der Carl-Schmittschen Notstandsformel begründet Schelsky seine These von der »Herrschaft durch Sprache«:

 »Die Beherrschung durch Sprache scheint uns die vorläufig letzte Form der Versklavung von Menschen zu sein, die als soziale Wesen auf den Verkehr durch Sprache genauso angewiesen sind, wie jeder lebende Organismus auf die Zufuhr von Nahrung und Sauerstoff. In der Herrschaft durch Sprache ist ein Herrschaftsgrad von Menschen über Menschen erreicht, demgegenüber physische Gewalt geradezu… veraltet ist.« (Der selbständige und der betreute Mensch. 1976, S. 116.)

Dieser Satz ist nicht falsch; freilich müßte sich Schelsky die Theorie, die dem Satz einen präzisen Sinn geben könnte, bei seinen unter Sprachherrschaftsverdacht stehenden Kollegen ausleihen; dann würde auch klar, daß Veränderungen der Bildungssprache, soweit sie überhaupt unter dem Einfluß der Sozialwissenschaften zustande kommen, weder das Resultat einer gezielten Wortgebrauchspolitik sind noch eine Herrschaft von Intellektuellen anzeigen.

(…)

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