Merkur, Nr. 230, Mai 1967

Universität in der Demokratie — Demokratisierung der Universität

von Jürgen Habermas

Von den Universitäten der Bundesrepublik gibt es Neues zu berichten: Konflikte spitzen sich zu, die nicht mehr allein auf der Ebene fehlender Lehrstühle und überfüllter Seminare entstehen und nicht mehr in administrativen Begriffen definiert werden können. An der Freien Universität Berlin haben sich die Auseinandersetzungen in aller Öffentlichkeit um publizitätswirksame Anlässe kristallisiert. Hier sind die Konflikte greifbar, die an anderen Hochschulen noch schwelen, aber bald manifest werden könnten.

Das, was man im stereotypen Deutsch der Verlautbarungen nun schon seit Jahren »die Vorgänge an der Freien Universität« nennt, hängt gewiß auch mit berlin-spezifischen Umständen zusammen: mit einem überproportionalen Zuzug politisch wacher Studenten und einer relativ freiheitlichen Universitätsverfassung einerseits, mit einem aus Zeiten des Kalten Krieges hier besser als andernorts konservierten Verhaltenssyndrom andererseits — die Mauer wirft einen langen Schatten, und die Presse tut ein übriges, damit die Berliner das Frösteln nicht verlernen. Ihres lokalen Kolorits entkleidet sind aber die an Westberlins Universität ausgebrochenen und offen ausgetragenen Konflikte die, die sich auch an anderen Universitäten anzubahnen scheinen: es geht, in gebotener Vereinfachung, um die politische Rolle der Studentenschaft, um die Reorganisation des Lehrbetriebs und um die Demokratisierung der Hochschule im ganzen. Berlin ist ein Modellfall.

Die politische Rolle der Studentenschaft, um die heute zwischen Studentenvertretung und Senat, zwischen einer aktiven, im allgemeinen recht qualifizierten Minderheit der Studenten und einer Mehrheit der Professoren gestritten wird, ist unproblematisch gewesen, solange die Studenten mit herrschenden Auffassungen konform gingen: solange die Resolutionen für die EVG und nicht gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr ausfielen; solange die Solidaritätssammlungen für geflüchtete DDR-Studenten und nicht für Gegner der französischen Kolonialmacht in Algerien bestimmt waren; solange der Koreakrieg als Verteidigung der Freiheit galt und der Kampf der Amerikaner noch nicht, wie in Vietnam, als Intervention in einen Bürgerkrieg aufgefaßt werden konnte. Eine empfindlich reagierende Hochschulverwaltung sah sich aber nun genötigt, den politischen Bewegungsspielraum der Studenten, der so inopportun genutzt wurde,  einzuschränken: die Reihe der »Affären«, die mal durch einen Vortrag Erich Kubys, mal durch eine Vietnamdemonstration ausgelöst, mal durch eine korporationsfreundliche Zulassungspolitik, mal durch ein Raumverbot des Rektors verschärft wurden, bezeichnet die Linie eines bis heute offenen Konfliktes. Er wird im übrigen von Grundsatzdiskussionen begleitet und interpretiert, die von konservativer Seite mit dem erklärten Ziel einer Entpolitisierung der Hochschule geführt werden.

Der universitätsinterne Streit ist mit einem Konflikt zwischen den politisierten Teilen der Studentenschaft und der Berliner Öffentlichkeit verquickt. Diese Öffentlichkeit wird durch eine scharfmacherische Presse beeinflußt, und sie versteift ihrerseits die Haltung der Behörden gegenüber den Studenten. Das zeigte sich noch während des letzten Semesters in Form von Demonstrationsverboten, in der autoritären Art des Eingreifens der Polizei und in einer dubiosen Beschlagnahmeaktion beim Landesvorstand des SDS.

Seit dem vergangenen Jahr verbindet sich die Auseinandersetzung um die politische Rolle der Studentenschaft mit den Diskussionen, die durch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Studienreform ausgelöst worden sind. Die Reorganisation des Lehrbetriebs berührt unmittelbar die Interessen und die Nöte der Studenten an ihrem Arbeitsplatz — soweit sie einen finden.

Hier haben sich eigentümlich verquere Fronten gebildet, die den eigentlichen Konflikt häufiger verschleiern als zum Ausdruck bringen. Sogar der kritische Teil der Presse begnügt sich nur zu oft damit, durch unreflektierte Parteinahmen für den Wissenschaftsrat die verständlichen Ressentiments derer, die einmal von einer Alma Mater stiefmütterlich behandelt worden sind, zu befriedigen — und sich durch die törichten Abwehrreaktionen eines seinerseits verletzten Traditionsbewußtseins bestätigt zu finden.

In Wahrheit geht es darum, ob eine fällige und von vielen Seiten energisch unterstützte Neuordnung der Studiengänge innerhalb der bestehenden Autoritätsstrukturen bloß dazu benützt werden soll, um eine schwerfällige Korporation auf Vordermann zu bringen. Dann müßte ein reglementierter Lehrbetrieb allein auf Erfordernisse der akademischen Berufsausbildung für eine nach Kapazität und Bedarf begrenzte Leistungselite abgestellt werden. Obligatorisch begrenzte Studienzeiten, Ausschluß der Studenten von der Teilnahme an Forschungsprozessen und eine Entpolitisierung der Hochschule wären die Folge. An der Freien Universität ist der Eindruck entstanden, als ob die Wissenschaftsratsempfehlungen in diesem repressiven Sinne verwirklicht werden sollten.

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