Merkur, Nr. 183, Mai 1963

Vom sozialen Wandel akademischer Bildung

von Jürgen Habermas

1

Während des letzten Jahrzehnts haben in Deutschland zwei Themen die Diskussion um die Reform unserer Hochschulen bestimmt; die Entwicklungen, auf die sie sich berufen, sind ebenso wichtig wie die Schlagworte, an die sie geheftet wurden, unschön. Es geht um die Verschulung der Universität und um deren sogenannte Vermassung. Die Zahlen der immatrikulierten Hörer wachsen von Semester zu Semester [1. Nach Friedrich Eddings Untersuchungen über die Expansion der Hochschulen müssen wir in der Bundesrepublik 1980 mit 400 000 Studenten rechnen.]; und die Formen des Studiums bringen oft eine überraschende Verbindung zwischen gymnasialem Unterricht und den Vertriebsmethoden großer Verbraucherorganisationen zustande. Der Zusammenhang dieser beiden Trends ist offenbar gesellschaftlich begründet. In allen hochindustrialisierten Gesellschaften stellen wir einen wachsenden Bedarf an akademisch qualifizierten Arbeitskräften fest.

Ein bis zu den unteren Mittelschichten geöffnetes System weiterführender Schulen produziert deshalb von jedem Jahrgang eine wachsende Quote hoch schulreifer Absolventen. Und diese erwarten dann auf den Hochschulen eine spezialisierte Vorbildung für gutbezahlte Berufspositionen. Hier schließt sich der Kreis: wenn die Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens die Besetzung dieser Positionen nicht verlangte, würde es kaum dahin gekommen sein, daß die höheren Schulen, trotz ihrer traditionalistischen Ausleseverfahren, eine relativ hohe Zahl von Abiturienten heranbilden (Vermassung); und weiter: daß die Hochschulen, trotz ihrer traditionsfesten inneren Struktur, dem Bedürfnis nach qualifizierter Berufsausbildung in relativ großem Umfang entsprechen (Verschulung).

Man diskutiert heute die überlieferten Postulate, die Einheit von Forschung und Lehre sowie die Freiheit von Lehre und Lernen, im Zusammenhang mit diesen beiden inkriminierten Tatbeständen. Obwohl gelegentlich einige Abstriche an den rigorosen Forderungen der preußischen Hochschulreformer erwogen werden, halten doch so gut wie alle Parteien in verblüffender Einmütigkeit an dem Grundsatz fest, daß die universitäre Form des Hochschulstudiums nicht preisgegeben werden darf: »unüberlegt handeln diejenigen, die uns eine Umbildung und Zerstreuung der Universitäten in Spezialschulen vorschlagen«. [2. Friedrich Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, in: Die Idee der Deutschen Universität, Ed. Anrieh, Darmstadt 1959.]

Wer die Reformschriften der letzten fünfzehn Jahre durchgesehen hat, wird diesem Satz Schleiermachers ein Alter von mehr als 150 Jahren gar nicht mehr zutrauen. Die damals so eindringlich vorgetragene Warnung darf nicht als eine Isolierung der Wissenschaft von der Praxis mißverstanden werden. Jene Bildung im emphatischen Sinne, die, über die Einübung beruflicher Fertigkeiten hinaus, durch die universitäre Form des Studiums gesichert werden sollte, wurde etwa von Fichte gerade als die Form der »Umwandlung des Wissens in Werke« verstanden. Humboldt rechtfertigt seine Maxime, daß Wissenschaft bilden müsse, mit dem gleichen Argument: daß es dem Staat sowenig als der Menschheit um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu tun sei. Und Schleiermacher identifiziert ausdrücklich Bildung mit der Bildung des gemeinen Sinnes, jenes sensus communis, der in der weitläufigeren Philosophie der westlichen Nationen als common sense und bon sens die Bedeutung eines Organs für das praktisch Notwendige stets behalten hatte; »ein anständiges und edles Leben gibt es für den Staat ebensowenig als für den einzelnen, ohne mit der immer beschränkten Fertigkeit auf dem Gebiet des Wissens doch einen allgemeinen Sinn zu verbinden.« [3. Schleiermacher a. a. 0. S. 226.]

Dieser vielfältig bekräftigten Intention widersprach damals die betonte Abkehr der wissenschaftlichen Studien von den Bedürfnissen der Berufspraxis keineswegs. Denn in der Verachtung der bloß empirischen Zwecke, in dem Versuch der Abgrenzung der Universität gegen die Handwerkertalente, für die Schelling so herbe Worte gefunden hat, spiegelte sich ja auch ein objektiver Stand der sozialen Entwicklung: die Berufspraxis der Ärzte, Verwaltungsbeamten und Richter befand sich prinzipiell in keinem anderen Stadium als die der Handwerker; allesamt waren sie pragmatisch geübte Künste. Zwar versucht Schelling, die Wissenschaftlichkeit der höheren Fakultäten dadurch zu retten, daß er die Jurisprudenz auf Geschichtsphilosophie und die Medizin auf Naturphilosophie verpflichtet; aber wenige Jahre später meldet Fichte energisch Zweifel an, ob der Heilkunde überhaupt eine wissenschaftliche Basis gegeben werden könne. Hier wie in der Rechtswissenschaft überwiege der Teil, der zur praktischen Kunst der Anwendung im Leben gehörte.

(…)

Möchten Sie weiterlesen?

Testen Sie jetzt den Merkur im digitalen Probe-Abo. Oder erwerben Sie den Artikel für 2 € als Download in unserem Volltextarchiv. Sie sind schon Digital-Abonnent? Hier einloggen, um weiterzulesen.

Zurück zur Artikelübersicht.