Merkur, Nr. 201, Dezember 1964

Von der Schwierigkeit Nein zu sagen

von Jürgen Habermas

Protestieren hatte in der Sprache des römischen Prozeßrechtes den strategischen Sinn: vor Zeugen ein Schweigen zu brechen, das sonst als Einverständnis mit der vorgetragenen Interpretation mißdeutet werden könnte. Die protestierende Einrede setzt sich gegen die Verstrickung in lautlose Konformität zur Wehr. Der eigentümliche und tiefreichende Konformismus, der sich in der Bundesrepublik lähmend ausgebreitet hat, hat Proteste und gelegentlich ein protestierendes Denken hervorgerufen. Es richtet sich gegen jene Indifferenz, der nicht anzusehen ist, wem sie sich mehr verdankt: einer Identifikation mit allem und jedem oder der Flucht vor Identifikation überhaupt. Einen Kommentar zur Erfahrung dieser Indifferenz gibt Klaus Heinrich mit seinem »Versuch über die Schwierigkeit Nein zu sagen« (Suhrkamp, 1964).

Das Nachdenken über die Schwierigkeiten der protestierenden Rede, die sich am falsch gerichteten ebenso wie am unterlassenen Protest zeigen, geht nicht auf eine Analyse zeitgenössischer Beispiele aus; es löst sich vom leicht durchschaubaren biographischen Anlaß, nämlich der Schwierigkeit, in dieser Bundesrepublik als Intellektueller zu leben. Man könnte dieses Buch als eine Kritik des falschen Bewußtseins zugleich der Ontologie und des Positivismus anzeigen, wäre es überhaupt unter Wissenschaft zu registrieren. Heinrich philosophiert nach Regeln der Kunst, aber das Resultat seiner Kunstfertigkeit ist nicht eigentlich eine philosophische Untersuchung im üblichen Sinn.

Protestieren begreift Heinrich als Widerspruch gegen Prozesse der Selbstzerstörung. Dabei hat er jene sublimen Zerstörungen im Blick, die der psychoanalytisch Geschulte in den Verknotungen individueller Lebensgeschichten ebenso entdeckt wie in den Schwankungen kollektiver Bewußtseinszustände; Zerstörungen also und Selbstzerstörungen, die nicht unmittelbar das physische Leben angreifen. Heinrich befaßt sich nicht mit den Risiken materieller Lebenserhaltung, die ökonomisch in den ausgehungerten Gebieten unserer Erde und politisch- militärisch auch in den fortgeschrittensten Ländern gefährdet ist; er befaßt sich nicht mit Nahrungsspielraum und Bevölkerungsexplosion, mit Erbsubstanz und Strahlungsschäden, mit den Bedingungen des technischen Fortschritts und des ökonomischen Wachstums, mit dem Zusammenhang von Vernichtungs- und Verteidigungsstrategien, mit dem internationalisierten Bürgerkrieg und dem atomaren Zwang zur friedlichen Koexistenz.

Die Dimension der Selbstzerstörungen, die Heinrich zur Diskussion stellt, erinnert vielmehr an eine Tatsache, die unser positivistisches Zeitalter gerne verleugnet: daran nämlich, daß die Reproduktion der Menschengattung nur in den anspruchsvolleren Gestalten eines historischen Überlebens gesichert ist.

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