Merkur, Nr. 300, April 1973
Was heißt heute Krise?
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
von Jürgen Habermas
Wer den Ausdruck »Spätkapitalismus« verwendet, stellt implizit die Behauptung auf, daß auch noch im staatlich geregelten Kapitalismus die gesellschaftlichen Entwicklungen »widerspruchsvoll« oder krisenhaft verlaufen. Ich möchte daher zunächst den Begriff der Krise erläutern.
Vorwissenschaftlich ist uns der Krisenbegriff aus dem medizinischen Sprachgebrauch vertraut. Wir haben dabei die Phase eines Krankheitsprozesses im Auge, in der es sich entscheidet, ob die Selbstheilungskräfte des Organismus zur Gesundung ausreichen. Der kritische Vorgang, die Krankheit, scheint etwas Objektives zu sein. Eine Infektionskrankheit beispielsweise wird durch äußere Einwirkungen auf den Organismus ausgelöst; und die Abweichungen des betroffenen Organismus von seinem Sollzustand, dem Normalzustand des Gesunden, kann beobachtet und notfalls anhand von Indikatoren gemessen werden. Das Bewußtsein des Patienten spielt dabei keine Rolle; wie sich der Patient fühlt und wie er seine Krankheit erlebt, ist allenfalls ein Symptom für ein Geschehen, das er selbst kaum beeinflussen kann. Dennoch würden wir, sobald es medizinisch um Leben und Tod geht, nicht von einer Krise sprechen, wenn der Patient nicht in diesen Vorgang mit seiner ganzen Subjektivität verstrickt wäre. Eine Krise ist nicht von der Innenansicht dessen zu lösen, der ihr ausgeliefert ist: der Patient erfährt seine Ohnmacht gegenüber der Objektivität der Krankheit nur, weil er ein zur Passivität verurteiltes Subjekt ist, dem zeitweise die Möglichkeit genommen ist, ein Subjekt im vollen Besitz seiner Kräfte zu sein.
Mit Krisen verbinden wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die einem Subjekt ein Stück der Souveränität entzieht, die es normalerweise hat. Indem wir einen Vorgang als eine Krise begreifen, geben wir ihm unausgesprochen einen normativen Sinn: die Lösung der Krise bringt für das verstrickte Subjekt eine Befreiung. Das wird deutlicher, wenn wir vom medizinischen zum dramaturgischen Begriff der Krise übergehen. In der klassischen Ästhetik von Aristoteles bis Hegel meint Krise den Wendepunkt eines schicksalhaften Prozesses, der bei aller Objektivität nicht einfach von außen hereinbricht. Der Widerspruch, der sich in der katastrophischen Zuspitzung eines Handlungskonfliktes ausdrückt, ist in der Struktur des Handlungssystems und in den Persönlichkeitssystemen der Helden selbst angelegt. Das Schicksal erfüllt sich in der Enthüllung widerstreitender Normen, an denen die Identität der Beteiligten zerbricht, wenn diese nicht ihrerseits die Kraft aufbringen, ihre Freiheit dadurch zurückzugewinnen, daß sie die mythische Gewalt des Schicksals zerbrechen.
Der im klassischen Trauerspiel gewonnene Krisenbegriff findet seine Entsprechung im heilsgeschichtlichen Krisenbegriff. Uber die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts dringt diese Denkfigur in die evolutionistischen Gesellschaftstheorien des 19. Jahrhunderts ein. So entwickelt Marx zum erstenmal einen sozialwissenschaftlichen Begriff von Systemkrise. Auf diesem Hintergrund sprechen wir heute von sozialen oder wirtschaftlichen Krisen. Wenn etwa von der Großen Wirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre die Rede ist, sind die Marxschen Konnotationen unüberhörbar.
Da kapitalistische Gesellschaften die Fähigkeit haben, relativ stetig technische Produktivkräfte zu entfalten, versteht Marx unter ökonomischer Krise das Muster eines krisenhaften Verlaufs des ökonomischen Wachstums. Kapitalakkumulation ist an die Aneignung von Mehrheit gebunden; das bedeutet, daß wirtschaftliches Wachstum über einen Mechanismus geregelt wird, der zugleich ein Gewaltverhältnis etabliert und verschleiert. Daher ist das Muster der Komplexitätssteigerung widersprüchlich in dem Sinne, daß das ökonomische System auf jeder neuen Stufe der Problemlösung neue und vermehrte Probleme erzeugt. Die Akkumulation des Gesamtkapitals vollzieht sich über periodische Entwertungen von Kapitalbestandteilen: diese Verlaufsform ist der Krisenzyklus, den Marx zu seiner Zeit beobachten konnte.
Er hat versucht, den klassischen Krisentypus mit Hilfe des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate werttheoretisch zu erklären. Darauf möchte ich aber hier nicht eingehen. Meine Frage ist vielmehr: ob auch noch der Spätkapitalismus demselben oder einem ähnlich selbstdestruktiven Entwicklungsmuster folgt wie der klassische, der Konkurrenzkapitalismus. Oder hat sich das Organisationsprinzip des Spätkapitalismus so geändert, daß der Akkumulationsprozeß keine bestandsgefährdenden Probleme mehr erzeugt? Ausgehen möchte ich von einem Modell der wichtigsten strukturellen Merkmale spätkapitalistischer Gesellschaften (1). Dann möchte ich drei Krisentendenzen erwähnen, die heute, obgleich sie systemunspezifisch sind, im Vordergrund der Diskussion stehen (2). Und schließlich möchte ich auf Argumente eingehen, die Krisentendenzen des Spätkapitalismus begründen sollen (3).
I
Der Ausdruck organisierter oder staatlich geregelter Kapitalismus bezieht sich auf zwei Klassen von Phänomenen, die beide auf den fortgeschrittenen Stand des Akkumulationsprozesses zurückgeführt werden können: einerseits auf den Konzentrationsprozeß der Unternehmen (die Entstehung nationaler und inzwischen auch multinationaler Korporationen) und die Organisierung der Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte; andererseits darauf, daß der interventionistische Staat in die wachsenden Funktionslücken des Marktes einspringt.
(…)
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