Merkur, Nr. 127, September 1958
Nachruf auf ein Abendblatt
Ein Stück Berliner Pressegeschichte nach 1945
von Margret Boveri
Die Zeitung, von der hier die Rede ist, die jetzt von einem Abend- in ein Morgenblatt verwandelt wurde, konnte nur an einem Ort der unbegrenzten Möglichkeiten entstehen. Unbegrenzte Möglichkeiten finden sich im Chaos, im Neuland und in total zerstörten Gebieten. Von allen diesen Elementen war etwas im Berlin des Jahres 1945 enthalten — am beherrschendsten die tiefgreifenden und großflächigen Auswirkungen der Selbst- und Feindzerstörung, das Chaos am Zentrum der totalen Niederlage. Ein weites Gefilde der Selbstbesinnung war als Boden für den Neuanfang entstanden, allerdings vom ersten Augenblick an überlagert durch die einströmenden Pioniere fremder Weltanschauungen und Lebensformen, die den Glaubenseifer von Missionaren mit der Macht der Sieger verbanden.
Die Möglichkeiten
Für die Welt, nicht nur für Deutschland, bestand in der Viersektoren-Hauptstadt die Möglichkeit für Frieden und Krieg (ob kalter oder dritter Weltkrieg), weil in den Sitzungen des Alliierten Kontrollrates auf Jahre hinaus die Wege gebahnt, die Tore verrammelt werden konnten, welche Freund- oder Feindschaft, Ausgleich oder Mißtrauen mit ihren fortzeugenden Kräften festlegten; und weil, was die Großen Vier planten und in letzten Entscheidungen ausführten, zuerst nur beobachtend und erleidend, bald aber beratend und anfeuernd von den Subjekten begleitet und daher beeinflußt wurde, die das Objekt der Kontrolltätigkeit waren. Neuland, wenn auch nach den strengen Vorschriften der einzelnen Besatzungsmächte zu beackern, waren für die Berliner sämtliche Gebiete des Verwaltungs-, Rechts-, Wirtschafts- und Geisteslebens. Was in den Schulen zu lehren sei, ob Griechisch und Latein oder ausschließlich neue Sprachen, ob nur Gegenwartskunde oder auch Geschichte, und wenn Geschichte, ob Friedrich II. von Preußen als ländergieriger Friedensstörer und Tyrann oder als „der Große“ darzustellen wäre, wurde zwar zunächst von den Kommandanturen gemeinschaftlich oder getrennt verfügt, konnte aber von den Deutschen bedacht, besprochen und unter Umständen bekämpft werden.
Ob eine zu Klump geschlagene und ihrer Nervenzentren und Kreislauffunktionen beraubte Millionenstadt überhaupt wieder aufzubauen sei — das war eine Möglichkeit, die im Frühsommer 1945 gar mancher wasser-, gas- und elektrizitätslose Kellerbewohner bezweifelte. Hans Scharoun hat sie mit einer Gruppe hingebungsvoller Architekten in einer Form bejaht, die der Stadt als Gemeinwesen zum ersten Mal neuen Mut verlieh. Mit der Ausstellung „Berlin plant“ legten sie unter durchlöchertem Dach in den Sälen eines wenig zerstörten Trakts des Schlosses städtebauliche Vorschläge in Bildern, Grundrissen imd Texten vor, die von der Müllverwertung bis zu den Schnellverkehrsstraßen, von den Zentren für Konfektion, Presse, Theater bis zu den autonomen Stadtrandsiedlungen alles umfaßten, was dem Großstadtmensch Licht, Nahrung, Grün, Bewegungsfreiheit, Zeitersparnis und geistige Erholung gewähren kann.
Gerade dieses Beispiel zeigt jedoch neben der Möglichkeit auch die Art, wie sie — und so viele andere — vertan wurden. Ermöglicht war die Ausstellung und ihre Finanzierung, weil die vier Alliierten, damals noch halbwegs friedlich, sich im Beschluß geeinigt hatten, sie zu erlauben. Unmöglich wurde es, weiterzuarbeiten, weil im wachsenden Mißtrauen keinem der Alliierten, auch keinem Deutschen, der Machtzuwachs zugestanden werden sollte, der mit der Verwirklichung so großzügiger und umwälzender Pläne verbunden gewesen wäre. Nachdem die Tore gründlich verrammelt waren, haben sich die städtebaulichen Möglichkeiten zu disparaten Wirklichkeiten verhärtet: hier das Abtragen des Schlosses, das die Ausstellung beherbergt hatte, und in nächster Nähe die geistlose Gerade der Stalin-Allee — dort die rechtschaffenen aber phantasielosen Kuben der Großbanken- und Versicherungspaläste. Nur in der Mitte, im Niemandsland des Tiergartenviertels, das zur Wüste geworden war, ist mit der „Interbau“ ein neuer, allerdings bisher rein westlicher Ansatz auf die wiederherzustellende Gemeinsamkeit erwachsen.
Die vier Gesichter der Presse
Die Möglichkeiten der Presse lagen darin, daß viel mehr Zeitungen gegründet wurden, als angesichts der Zahl und Kauflust der vorhandenen Leser nötig waren, weil alle vier Besatzimgsmächte den Besiegten ihr Weltbild vor Augen halten und, verbunden mit einiger Umerziehung, anziehend machen wollten, und weil sie bereit waren, dafür auch etwas auszugeben. Die Russen als die Erstgekommenen und eigentlichen Eroberer der Stadt begründeten neben ihrer militäramtlichen „Täglichen Rundschau“ je ein kommunistisches, liberaldemokratisches und christlich-demokratisches Parteiblatt und als Konzession an das renitente Bürgertum die „Berliner Zeitung“, die, gemessen an dem damaligen Standard der deutschen Presse — ebenso wie die „Neue Zeit“ der noch ungespaltenen CDU — gar nicht so übel war. Die Amerikaner begnügten sich mit der militäramtlichen „Neuen Zeitung“ und dem Lizenzblatt „Der Tagesspiegel“, die aber dafür reich ausgestattet und schön gedruckt waren und im Kulturteil angelsächsische Weltluft hereinbrachten. Die Engländer, damals von Labour regiert, versuchten es mit einem Nachrichtenblatt, das ohne Gesicht blieb, und erteilten Lizenzen für den sozialdemokratischen „Telegraf“ und das Parteiblatt „Der Sozialdemokrat“. Die Franzosen aber, als die Letztgekommenen, die zur Potsdamer Konferenz nicht zugezogen worden waren und sich noch nicht durch wohldosiertes „Nein“-Sagen gegenüber den Wünschen ihrer Alliierten wieder Gewicht verschafft hatten, mußten sich mit der Lizenzierung eines kleinformatigen Abendblattes bescheiden, dem „Kurier“, der trotz dieser Bescheidenheit lange Zeit die lebendigsten Geister der Stadt als Leser anzog.
Ein Lothringer und ein Rheinländer
Die äußeren Gegebenheiten im Schutz einer Macht, die noch zwischen denFronten ihren Standort suchte und selbst erfahren hatte, was die totale Niederlage bedeutet, hätten aber nicht ausgereicht, dem „Kurier“ seine Sonderstellung zu verschaffen, wenn nicht ein lothringischer Franzose, der Deutschland liebte, obwohl die Nationalsozialisten ihn nach Dachau verbracht hatten, und ein rheinländischer Deutscher, der Frankreich liebte, obwohl er einige Monate im Lager Gurs gesessen hatte, sich gefunden hätten: Paul Ravoux, jahrelang als Korrespondent für Havas in Berlin Mitglied des Deutsch-Französischen Studienkomitees, nun Presseberater des französischen Oberstkommandierenden General König, und Paul Bourdin, jahrelang Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Paris und nun nach der Schlacht von Berlin und einer Amöbenruhr zwar abgemagert, aber begierig, nach so langen Jahren des Pressezwangs, eine „echte“ Zeitung zu machen. Der Zwang, verkörpert in den verschiedenen Direktiven der Besatzungsmächte, war zwar unter neuen Vorzeichen wieder da, aber weil zwischen Ravoux und Bourdin ein echtes freundschaftliches Verständnis bestand, weil beide wußten, was Politik ist und in welchen Nuancen sie sich ausdrücken läßt, weil beide Mut hatten, der eine gegen nationalistische Hitzköpfe in seiner Redaktion, der andere gegenüber den vorgesetzten Militärstellen, gelang es ihnen, von vornherein viele Tabus der „re-education-Zeit“ zu durchbrechen und dadurch allmählich auch eine befreiende Wirkimg auf die strenger gehaltenen Zeitungen der anderen Westsektoren auszuüben. Beide haben gearbeitet wie man nur arbeitet, wenn die Hoffnung besteht, auf zerstörtem Feld etwas Lebenswertes aufzubauen. Daß das Schreiben, Redigieren, Drucken in einem zerbombten Gebäude des Wedding vor sich gehen mußte, während Bauarbeiter ringsum neue Mauern aufrichteten, war noch die geringste ihrer Schwierigkeiten. Die Verbindung mit dem Ausland war so gut wie abgeschnitten; ein großer Teil der Nachrichten mußte von Radio-Abhörern aus der Luft geholt oder durch persönliche Kontakte beschafft werden. Noch galten die Deutschen ja nicht als reif, die Dinge so zu hören, wie sie sich zugetragen hatten, — so war es zum Beispiel noch im März 1946 der amerikanisch lizenzierten Presse verboten, etwas über Churchills berühmte Rede gegen den sowjetischen Despotismus in Fulton zu drucken. Unter diesen Umständen war es für die Leser, die in der Außenpolitik nach echter Kost verlangten, geradezu eine Sensation, wie rasch, umfassend und sicher sie vom „Kurier“ informiert wurden.
Bourdin und Ravoux begnügten sich auch nicht mit einer Aneinanderreihung unverbundener Meldungen. Als hochqualifizierte Journalisten, die sich jahrelang mit Außenpolitik beschäftigt hatten, besaßen sie die Art geschulter Intuition, mit der aus mehreren Agenturmeldungen über denselben Vorgang diejenige gewählt wird, in der der halbe Satz steht, der erraten läßt, was gespielt wird. Wenn aus solch einem halben Satz auch noch die Überschrift gemacht und mit wenigen Sätzen ein aufhellender Kommentar hinzugefügt wird, entsteht über Wochen und Monate hinweg eine Berichterstattung, die im wirbelnden Strom der Geschehnisse diejenigen aufzeigt, welche die Stromrichtung erkennen lassen. Diese Sicherheit, auch im Erkennen der jeweiligen Gefahren, bewirkte, daß der „Kurier“ oft in „splendid isolation“ richtig lag, wenn die anderen der Sprachregelung des Tages folgten. Sie bewirkte auch, daß er vielen unbequem war. Deshalb gab es mehr als einmal massive Angriffe der „Täglichen Rundschau“ auf die Person Bourdins mit dem Ziel, ihn zu erledigen. Solche denunziatorischen Hinrichtungen waren damals in Ost und West gleicherweise an der Tagesordnung. Ravoux hat persönlich in einem Leitartikel die sowjetischen Angriffe zurückgewiesen.
Nicht Selbstausschließung sondern Auseinandersetzung
Der Vorfall zeigt, daß beide die Auseinandersetzung mit und den Kampf gegen die Russen nicht gescheut haben. Aber ihr Ziel war nicht der kalte Krieg. Sie wußten, daß auch der Kampf nur fruchtbar wird, wenn er nicht in der Form der Selbstausschließung geführt wird, in der man den Gegner nur noch schattenhaft sieht und im Zielen immer unsicherer wird, daß er nur zu gewinnen ist, wenn er den Charakter der Auseinandersetzung behält. Bourdin, dem die Wiedervereinigung am Herzen lag, als viele Deutsche noch gar nicht gemerkt hatten, wie gefährdet sie war, glaubte, daß sie nur durch einen Ausgleich — nicht eine Kapitulation — zwischen West und Ost zu erreichen sei. Der „Kurier“ hat zwar gegen Willkürmaßnahmen der Sowjets polemisiert und die Torheiten so vieler SED-Beschlüsse lächerlich gemacht, aber ebenso wichtig war ihm das Eingehen auf alle Versuche — etwa die Lemmers und Friedensburgs auf der politischen, Ernst Penzoldts und Reinhold Schneiders auf der literarischen und ethischen Ebene —, die dem Gespräch zwischen denjenigen Deutschen in Ost und West dienen sollten, welche sich einen gewissen Grad von Unabhängigkeit gegenüber der bei ihnen herrschenden Besatzungsmachtpolitik bewahrt hatten.
Unter dem Vorzeichen dieses notwendigen Ausgleichs entstand eine stark umstrittene Artikelserie, in der unter anderen der einstige deutsche Botschafter in Moskau, Nadolny, das Wort ergriff. Sie sollte den verhetzten Gemütern klarmachen, daß Lösungen außenpolitischer Konflikte nicht durch Propaganda erreicht werden, sondern in stiller, präziser, diplomatischer Arbeit, und daß im vielgeschmähten Potsdamer Abkommen bei all seinen bald überholten Unsinnig- und Ungerechtigkeiten solidere Ansätze für das Wiederherstellen der deutschen Einheit lagen als in den verheißungsvollsten, aber unverwirklichbaren Schlagworten.
Die Aristokratie der Telefon- und Autoinhaber
Nicht nur die Verbindung zum Ausland war unterbrochen — auch die zwischen den einzelnen Bezirken Berlins war höchst unzulänglich. Die Verkehrsmittel der Stadt liefen unregelmäßig und waren überfüllt. Viele der zweistöckigen Autobusse waren für das Personal der Amerikanischen Militärregierung beschlagnahmt. Die Alliierte Kommandantur hatte verfügt, daß nicht mehr als 1000 motorisierte Privatfahrzeuge zuzulassen seien. Die Telefonapparate und -zentralen waren gen Osten abtransportiert worden. So entwickelte sich allmählich eine neue Aristokratie: eine Hand voll Autofahrer bildete den Hochadel, die Motorradler stellten die Ritterschaft und eine kleine Gruppe von Berlinern, die es mit vielen Anträgen und dem Nachweis ihrer Daseins- und Arbeitswichtigkeit zu einem Telefonanschluß gebracht hatten, das Patriziat. Die Boten des „Kurier“ aber mußten mit dem Fahrer all das leisten, was telefonisch nicht zu erledigen war. Sie waren kilometer- und stundenlang ohne Unterlaß auf den Beinen. Denn Bourdin hatte als geborener Chefredakteur tausend Einfälle für alle Sparten und war bereit, jeder Anregung nachzugeben. „Schreiben Sie das“, sagte er, wenn man ihm vom Inhalt eines neuen Buches aus der Schweiz erzählte, „ich schicke um sechs einen Boten.“ Die Boten beförderten einmalig vorhandene Ausschnitte aus dem „Manchester Guardian“ oder dem „Figaro“, ausländische Zeitschriften und Bücher, Manuskripte, gelegentlich auch Salatköpfe aus einem Dahlemer, Obst aus einem Wannseer Journalistengarten, die in der von Ruinenstaub durchsetzten Innenstadt eine Kostbarkeit waren.
Schlimme Zeiten? Nein, schöne Zeiten. Denn im Zustand des Untertanen kann der Mensch eine Freiheit und einen inneren Wohlstand erreichen, die ihm im Stand des Verbündeten leicht verlorengehen. Gerade daß es schwierige schöne Zeiten waren, lebendige, offene und trotz vielerlei Verzweiflungen zukunftsfreudige Zeiten, war im „Kurier“ zu spüren und hat einen Teil seines Erfolges ausgemacht.
Die Mitarbeiter, die sich Bourdin angeschlossen hatten, taten das Ihrige dazu. Einige stammten noch von der alten „Frankfurter Zeitung“. Brigitte Beer vollbrachte in der Nachrichten-„Küche“ Wunder an Vollständigkeit, Kürze und Präzision und war an der Schaffung eines Nachrichtenstils beteiligt, der den „Kurier“ von allen später entstandenen Boulevardblättern unterschied. Carl Linfert, der einst so tiefsinnig-gescheit geschrieben hatte, daß manchmal nur die Höchstgebildeten ihn verstehen konnten, entwickelte im eigenen Schreiben und im Feuilleton als Ganzem eine Atmosphäre, in der Witz und Heiterkeit ebenso gedeihen konnten wie die aufregendsten Diskussionen über den Existentialismus. Eberhard Schulz tauchte auf abenteuerlichen Interzonenfahrten zu längeren Besuchen auf und schrieb die großartigen Reportagen über das Sich-Zurechtfinden der entwurzelten Deutschen, die im „Elastischen Menschen“ als Buch veröffentlicht wurden. H. O. Wesemann machte einen lesbaren Wirtschaftsteil, Lewalter und Genz besorgten die Politik, Karl Korn steuerte manches Feuilleton bei. Im schnellen Wechsel der Feuilletonchefs machten Christa Rotzoll und Barbara Klie zur Selbstverständlichkeit, was eine Generation zuvor noch umstritten war: daß Frauen nicht nur „schreiben“, sondern sich der Redaktionsarbeit einfügen, ja, sie leiten können. Einer der Feuilleton-Chef-Wechsel war dadurch verursacht, daß der Verlag auf einen spießbürgerlichen Leserbrief hin einen besonders begabten Mann fristlos entließ. Über den Verlag gab es — wie das auf der ganzen Welt gleich zu sein scheint — in der Redaktion überhaupt oft zu klagen: was die eine Seite für Geschäftstüchtigkeit hielt, betrachteten die Experimentierfreudigen als sturen Unverstand.
Von Wolfgang Harich bis Hans Kasper
Heute, da sie alle verstreut, zum Teil verfeindet sind, ist es erstaunlich, sich zu erinnern, wer im „Kurier“ zu Wort kam. Ein blasser Jüngling namens Wolfgang Harich, den wir als Asphaltintellektuellen empfanden, schrieb hochbegabte, etwas snobistische Feuilletons. Heute sitzt er in einem Gefängnis der Sowjetzone, weil er nach dem Tauwetter in Rußland und dem Aufstand in Polen geglaubt hatte, auch in der DDR könne an Stelle des sturen Ulbrichtkurses aufgeschlossene, intelligente, evolutionäre Politik gemacht werden. Kaum jemand hätte ihm in jener ersten Kurierzeit so viel politische Initiative zugetraut, noch weniger die nötige Charakterstärke zum Durchhalten. Hans Kasper, damals von einem deutschsprachigen Besatzungsamerikaner der „größte deutsche Journalist“ genannt, begründete diesen Ruf mit den kurzen Epigrammen und Märchensprüchen, in denen er auf die tollen Ungerechtigkeiten der Lage und die Hypokrisie der Machtausübenden ein Fabellicht richtete, das die damalige Zensur nicht fassen konnte. Am größten war seine Wirkung, als er allen vier Kontrollratsmächten, den neuen deutschen Parteien und dazu den renitenten Nationalsozialisten in gleicher Weise zu Leibe rückte. Wenn er später auch in einer anderen Lizenzzeitung in den Reihen des kalten Krieges mitmarschierte, so besaß er in seiner Anfangszeit noch die volle, in ihrer Direktheit zuweilen naiv-genialisch anmutende Unbefangenheit, für die Bourdins „Kurier“ der richtige Rahmen war.
Eine Zeitimg, die am frühen Nachmittag auf die Straße kommt, ist ein „Boulevard-Blatt“, und ein Boulevard-Blatt gilt als nicht seriös. Der „Kurier“ war seriös, wenn er auch gelegentlich — etwa bei der Veröffentlichung des gefälschten „Protokolls M“, für die Ravoux und Bourdin gemeinsam die Verantwortung trugen — dem Boulevarddrang zur Sensation nachgab. Aber durch die Treffsicherheit seiner Überschriften, den Witz seiner Wortspiele, die Übersichtlichkeit seiner Meldungen, den Einfallsreichtum der Lokalredakteure, die psychologische Einsicht seines Gerichtsberichterstatters war der Ernst umkleidet oder verkleidet, und das Lesen wurde zum Vergnügen. Die tägliche Selbstdisziplin der Kürze in allen Sparten durchzusetzen, sogar bei den zur Langatmigkeit neigenden Kunst-, Musik- und Theaterkritikern, und für große Reportagen trotzdem unbeschränkten Raum zu gewähren, war eine der besonderen Leistungen Bourdins.
Der Stil und die Tradition, die er erzeugte, haben in erstaunlicher Weise vorgehalten — auch nachdem Bourdin sich längst nach Bonn und Hamburg an Posten hatte ziehen lassen, die ihm doch nie dieselbe Bewegungsfreiheit gewährten, und nachdem die Mehrzahl der früheren Mitarbeiter ausgeflogen war. Die alte Wahrheit hat sich am „Kurier“ wieder bestätigt: daß eine Zeitung, die im ersten Wurf richtig angelegt war, nicht leicht zu verderben ist. Besonders günstig für das Aufrechterhalten der Tradition war, daß Ernst Lemmer als Bourdins Nachfolger dieselbe politische Linie verfolgte, vor allem in den Fragen der Wiedervereinigung. Aber ein Parteiführer, Stadtverordneter, Bundestagsabgeordneter kann nur einen Teil seiner Schaffenskraft und produktiven Einfälle dem Beruf des Chefredakteurs widmen, und wenn Lemmer aus dem „Kurier“ auch nie eine CDU-Zeitung gemacht hat, so tauchte doch in der politischen Kommentierung unter ihm eine recht CDU-freundliche Note auf. Die Rolle eines Chefredakteurs mit der eines Bundesministers zu vereinen mochte selbst die Kraft eines Lemmer überfordern, und so wurde das Schicksal der Zeitung vor einigen Monaten in die erfahrenen Journalistenhände K. Fr. Grosses gelegt, für den, wie für Bourdin und Lemmer, die Frage der deutschen Einheit an erster Stelle steht, und der, um sie zu verwirklichen, mehr von der Methode des Verhandeins als von der Politik der Stärke hält.
Das Experiment aus einem Abend- ein Morgenblatt zu machen, ist kühn, weil West-Berlin schon vier ausgewachsene Morgenzeitungen besitzt, und außerdem die aus Frankfurt und Hamburg in beträchtlicher Zahl einströmende „FAZ“ und „Welt“ als Morgenblätter liest. Aber Kühnheit war die Signatur, die Bourdin und Ravoux— beide von einem frühen Tod ereilt — ja auch vom ersten Tag an ihrem „Kurier« gegeben hatten.
Weitere Beiträge der Reihe Zweite Lesung.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.