Merkur, Nr. 3, März 1947

Über den Essay und seine Prosa

von Max Bense

Es darf niemanden verwundern, wenn ein Logiker sich anschickt, über subtilere Fragen der Prosa, ihrer Form, ihres Stils ein paar Dinge zu sagen, die sonst nur Kritiker oder Meister literarischer Geschöpfe zu äußern pflegen. Mir scheint es an der Zeit zu sein, die schönen und vollendeten Elemente literarischen und dichterischen Geschmacks sowohl am esprit geometrique wie am esprit de finesse zu spiegeln. Die Gesinnung Pascals ist immer wieder einmal in uns und dann pflegen wir in dieser Weise zu unterscheiden. Und ich meine beinah, daß es gut wäre, wenn Dichter und Schriftsteller von Zeit zu Zeit sich über Erfahrungen mit den Dingen ihres Umgangs, über Prosa, Fragmente, Verse und Sätze äußerten. Ich glaube, daß auf diese Weise eine sehr respektable Theorie entstünde, eine Theorie, die außerdem den Vorteil hätte, empirischer Herkunft zu sein.

So beschäftigt mich in großem Maße die Frage, wann ein Stück wirklicher Prosa vorliege im Unterschied zu einem Stück Poesie, denn ich weiß, daß es der Vers nicht sein kann, wie Sulzer schon gesagt hat, der diese Grenze zieht. Aber ich kann trotz dieser für mich schon erheblichen Klarheit die feine Spur eines stetigen Überganges von Poesie zu Prosa nur mit äußerster Anstrengung in den literarischen Äußerungen verfolgen.

Und so will ich nur ganz knapp es aussprechen, daß ich die innere Vollendung dessen, was wir hier Prosa, dort aber Poesie nennen, nur dann als ein sinnvolles Maß erkennen kann, wenn ich zugleich die Prosa als eine generalisierte Poesie auffassen darf. Dann gehen Rhythmik und Metrum, die alle Poesie auszeichnen, in sanfter Kontinuität in klare Perioden und deutlichen Stil über, und Lessings so schön gedeutete „vollkommene sinnliche Rede“ verwandelt sich in repräsentative Satzfolgen einer Prosa, die in Pascals Fragments oder in Stendhals Epik ihren höchsten Grad an Durchsichtigkeit erreicht. — Ich ziehe hieraus den Schluß, daß der Dichter zulegt nur aus der Poesie und der Schriftsteller zuletzt nur aus der Prosa verstanden werden kann, und auch über sie muß ich einige Anmerkungen machen, bevor ich meinen eigentlichen Gegenstand berühre.

Dazu ist ein erläuterndes Wort zu sagen. Der Geistige ist entweder Schöpfer oder Erzieher. Er hat entweder ein Geschöpf oder eine Tendenz. Es scheint uns ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen dem Dichter und dem Schriftsteller zu sein, daß der Dichter schöpferisch ist und das Sein vermehrt, während der Schriftsteller die Erziehung, die Tendenz, den Geist, den man vertritt, zum Ausdruck bringt. In der Poesie ist Schöpfung möglich, in der Prosa im Grunde nur Tendenz, genauer gesagt: Poesie ist ein Medium der Schöpfung, aber Prosa ist ein Medium der Tendenz.

Ich will nicht unerwähnt lassen, daß ich der Meinung bin, daß Schöpfung eine Kategorie des Ästhetischen ist, während alle Tendenz im Ethischen ihren natürlichen Ort besitzt. Daraus folgere ich, daß Kunst nur vom Standpunkt ihrer Hervorbringung interessiert und daß jedes ästhetische Stadium, das die Kunst hervorruft, selbstverständlich eine Approximation an die Schöpfung bedeutet, während das ethische Stadium nichts mit Hervorbringung zu tun hat, sondern in Bildung, Erziehung, Verwandlung und Revolution verharrt. Ich bin mir darüber klar, was ich gesagt habe: ich habe gesagt: daß die vollendete Poesie Ausdruck eines ästhetischen Stadiums bedeutet, während die Meisterschaft in der Prosa den Ethiker verrät. Der feine Unterschied zwischen dem ästhetischen und dem ethischen Stil ist ein qualitativer, auch dann, wenn es die sichtbaren Übergänge gibt zwischen ihren Werken, zwischen Poesie und Prosa.

Aus diesem Grund ist der Raum, in den der Blick des Schriftstellers fällt, ruhiger und enger, jedoch ist dieser Blick nicht inniger und verweilender, im Gegenteil: er ist auswählender, züchterischer, sorgenvoller. Nur als Schriftsteller, der eine Tendenz, einen Geist, den man vertritt, im Sinne hat, kann man Dichter, Wissenschaftler, Philosoph, religiöser oder politischer Kritiker sein. Und man muß die tiefe Lust der reinen Hervorbringung vielleicht schon hinter sich haben, wenn man den Gesang durch den Willen, die Glut der Absicht, der Erziehung ersehen möchte. Und jene Lust schwindet von selbst dahin, wenn man die Absicht, nicht die Schöpfung verfolgt. Der Gedanke an den Leser lenkt von der Dichtung ab, ebenso wie der Gedanke an den Nutzen den Gang der Wissenschaft beeinträchtigt. Die freie Leidenschaft, der das Geschöpf entwächst, verhält sich nicht ohne Schwierigkeit ergänzend zum freien Willen, der den Geist treibt, der etwas vertritt.

Daß der Geistige, der eine Tendenz hat, immer dann an Einfluß gewinnt und seine Notwendigkeit offenbar macht, wenn epochale Schwierigkeiten sich einstellen, kann man an der Geistesgeschichte studieren. Es ist dies beinah ein überflüssiger Nachsatz. Nicht der Dichter ist aus der epochalen Schwierigkeit verständlich, wohl aber der Schriftsteller. In diesem Sinne waren Lessing, Herder, Kierkegaard und Nietzsche Tendenzschriftsteller großen Stils, die nicht nur das neunzehnte Jahrhundert beeinflussen, sondern auch heute noch wirksame Kräfte darstellen. Gide in Frankreich, Unamuno und Ortega in Spanien fallen auch unter diesen Begriff.

Wir beobachten nun an diesen Schriftstellern eine recht eigentümliche Koinzidenz von Tendenz und Schöpfung. Wo da Schöpfung ist, ist Poesie, unleugbar, aber zugleich wird der Ausdruck, die Form, in der die Schöpfung gewonnen wird und sich vorstellt, nachdrücklich vertreten, und zwar nicht durch Pathos, nicht durch Hinweis, sondern einfach durch die stille Manier der unermüdlichen Wiederholung. Daher kommt es, daß hier eine Prosa vorhanden ist, die in gewissen feststellbaren Augenblicken immer das gleiche tut. Bezeichnend ist, daß sich dieser Vorgang bis in die wörtliche Wendung stiehlt. Nicht der Gedanke dieser Schriftsteller hat also eine Tendenz, sondern der Ausdruck des Gedankens, er schreitet zeichenhaft voran, die Prosa zeigt sich dann und wann in kalkülatorischer Gestalt, sie besitzt Zeichengestalten für Wendungen, für bestimmte Wendungen, die einen bestimmten Zusammenhang in einer bestimmten Sachlichkeit ausdrücken sollen.

Diese merkwürdige kalkülatorische Prosa atmet selbstverständlich den Geist starker ausdrückender Präzision, sie ist kryptorational. Sie versteckt ihre Vernunft. Warum? — Weil sie ja nicht reine Tendenz ist, sondern koinzidierte, sie ist ja noch Poesie, sie vollzieht sich um des Geschöpfes, nicht um der Tendenz willen. So muß es sein, wenn nicht vom Gedanken, sondern von der Form her eine Absicht verfolgt wird, wenn nicht die Erkenntnis, sondern ihr Ausdruck den Willen in Gang bringt. An und für sich wird dieser Wille von einer Vernunft beherrscht, aber die Vernunft muß um der Form willen, die eine ästhetische Kategorie bleibt, verborgen werden, sonst würde der Ethiker zu stark hervortreten, der man vom Gedanklichen her gar nicht sein will.

Anders ausgesprochen: die Absicht, durch die Form zu erziehen, fordert Wiederholung, Kalkülatorik im ästhetischen Raum, aber der dadurch hervorgehobene Eindruck des Rationalen, der nicht in der Absicht liegt, täuscht den Ethiker nur vor, in Wirklichkeit bleibt dieser verhüllt. — Nun ergibt sich aber eine sehr wesentliche Frage. Kann eine Tendenz, die sich aus der bloßen Form entwickelt, auf die Dauer bestehen? — Ist denn Tendenz nicht immer zugleich auch Gedanke, Inhalt? — Das Problem der Form ist ein Problem der Abstraktion, und es gibt immer den Punkt, wo die Abstraktion in einen höchst konkreten Akt umschlägt. Da die Tendenz ihrer Natur nach einen Willen, getrieben durch einen Gedanken, den man vertritt, darstellt, ist sie ein existentielles Phänomen; in keinem Augenblick kann sie das existentielle Moment unterdrücken, wenn sie echte Tendenz ist, und so kommt es, daß es in jeder ästhetisierenden Tendenz den Punkt gibt, in dem der Ethiker hervortritt.

Wir kommen also dazu, anzunehmen, daß es ein merkwürdiges ,,Confinium“ gibt, das sich zwischen Poesie und Prosa, zwischen dem ästhetischen Stadium der Schöpfung und dem ethischen Stadium der Tendenz ausbildet, immer ein wenig schillernd in seiner Art zu sein bleibt, aber einen berühmten literarischen Rang einnimmt, weil nämlich der „Essay“ unmittelbarer literarischer Ausdruck dieses Confiniums zwischen Poesie und Prosa, zwischen Schöpfung und Tendenz, zwischen ästhetischem und ethischem Stadium bedeutet.

Und damit hätten wir unseren Gegenstand berührt. Der Essay ist ein Stück Prosa, aber er ist kein Fragment im Sinne pascalischer Fragmente und er ist kein Stück Epik im Sinne Stendhalscher Epik. Er offenbart ein Confinium, eine durchaus selbständige gegenständliche Realität, also ist er selbst eine literarische Realität. „Essay“ heißt auf deutsch: Versuch. Es ergibt sich daraus die Frage, ob dieser Ausdruck in der Bedeutung gemeint ist, daß hier ein literarisch gesonnener Mensch „versucht“ über etwas zu schreiben, oder ob das Schreiben über einen bestimmten oder halbbestimmten Gegenstand vom Charakter des Versuchs, des Experiments an jenem Gegenstand ist. Wir sind davon überzeugt, daß der Essay Ausdruck einer experimentierenden Methode ist; es handelt sich bei ihm um experimentelles Schreiben, und man hat davon im selben Sinne zu sprechen, wie man von experimenteller Physik spricht, die sich mit ziemlicher Sauberheit von der theoretischen Physik abgrenzen faßt. In der experimentellen Physik, um bei unserem Vergleich zu bleiben, stellt man eine Frage an die Natur, erwartet die Antwort, prüft sie und mißt; die theoretische Physik beschreibt die Natur, indem sie ihre Gesetzmäßigkeiten aus mathematischen Notwendigkeiten analytisch, axiomatisch, deduktiv demonstriert. So unterscheidet sich also ein Essay von einer Abhandlung. Essayistisch schreibt, er experimentierend verfaßt, wer also seinen Gegenstand hin und her wälzt, befragt, betastet, prüft, durchreflektiert, wer von verschiedenen Seiten auf ihn losgeht und in seinem Geistesblick sammelt, was er sieht, und verwortet, was der Gegenstand unter den im Schreiben geschaffenen Bedingungen sehen läßt.

 

 

Wer also im Essay etwas „versucht“, das ist nicht eigentlich die schreibende Subjektivität, nein, sie erzeugt Bedingungen, unter denen ein Gegenstand in den Zusammenhang einer literarischen Konfiguration gerückt wird. Es wird nicht versucht zu schreiben, es wird nicht versucht zu erkennen, es wird versucht, wie ein Gegenstand sich literarisch verhält, es wird also eine Frage gestellt, es wird mit einem Gegenstand experimentiert. Wir sehen daran, daß das Essayistische nicht bloß in der literarischen Form liegt, in der etwas verfaßt ist, der Inhalt, der Gegenstand, der behandelt wird, erscheint „essayistisch“, denn er erscheint unter Bedingungen. In diesem Sinne wohnt jedem Essay eine perspektivische Kraft im Sinne Leibniz‘, Diltheys, Nietzsches und Ortega y Gassets inne. Sie vertreten einen philosophischen Perspektivismus in dem Sinne, daß sie in ihren Betrachtungen ein gewisses standpunktliches Denken und Erkennen üben. Wer auch nur einen geringeren Teil der Schriften dieser Männer las, wird ihre Beherrschung der essayistischen Fähigkeiten nicht verkennen. Mag sie sich bei Leibniz in der Briefform verbergen, bei Dilthey ist sie offensichtlich; mag sie sich bei Nietzsche in der aphoristischen Befähigung verkleiden, bei Ortega ist der Essay die beabsichtigte Form.

Ich muß an dieser Stelle betonen, daß in jedem Essay jene schönen Sätze auftreten, die wie der Same des ganzen Essays sind, aus denen er also immer wieder hervorgehen kann. Es sind die reizvollen Sätze einer Prosa, an denen man studieren kann, daß es hier keine genaue Grenze gegen die Poesie gibt. Es sind gleichsam Elementarsätze eines Essays, die sowohl einer Poesie wie auch einer Prosa angehören. Es sind Bruchstücke einer „vollkommenen sinnlichen Rede“, also Bruchstücke eines Sprachleibs, der uns wie ein Stück Natur berührt, und es sind Bruchstücke eines pointierten Gedankens, also Bruchstücke einer vollendeten Deduktion, die uns wie ein Stück platonischer Idee tangiert. Man muß es auf sich nehmen, in beiden Sprachen zu lesen, wenn man in den vollen Genuß eines Essays gelangen will . . . oder man verwandelt den Essay, ehe man es gewahr wird, in eine Folge von Aphorismen, die jeweils einen Gedanken pointieren, wie es bei Lichtenberg, Novalis und Goethe beobachtet werden kann, vielleicht auch in eine Folge ganz verdichteter Bilder, die wie Rimbauds „Erleuchtungen“ die abgerissenen Teile einer fast vollkommenen unendlichen Lyrik darstellen.

Damit stehen wir an einem weiteren definitorischen Punkt unserer Betrachtung. Ist es nicht auffällig, daß alle großen Essayisten Kritiker sind? Ist es nicht auffällig, daß alle Zeitalter, denen das Essay kennzeichnend zukommt, wesentlich kritische Zeitalter sind? Was heißt das? Um den Gedanken zu zerlegen: In Frankreich hat sich der Essay im Zusammenhang mit der gelassenen, kritischen Arbeit Montaignes entwickelt. Seine Anweisungen zu leben und zu sterben, zu denken und zu arbeiten, zu genießen und zu beweinen, entstammen einem kritischen Geist. Das Element, in dem sich die Reflexion bewegt, ist das Element der großen französischen Moralisten und Zweifler. Er ist ein Quellgeist seiner Zeit, der Anfang eines protestierenden kritischen Geisteszusammenhanges, der dann das 17. und 18. Jahrhundert völlig bestimmt. Von Montaigne bis Gide, Valery und Camus gibt es eine Linie. In England hat Bacon den Essay entwickelt. Bacon, der seine Essays mit den listigen moralistischen, skeptischen, aufklärerischen, kurz kritischen Hintergedanken in jeder Beziehung schrieb. Er rief sie ja im Grunde alle hervor: Swift, Defoe, Hume, W. G. Hamilton, de Quincey und Poe, aber auch die Neueren: Chesterton, T. S. Eliot, Strachey u. a. In Deutschland sieht man Lessing, Moser und Herder, dieser vor allem in den unerschöpflichen „Briefen zur Beförderung der Humanität“, die einfach die bedeutendste deutsche Essaysammlung darstellt — unsere Form der experimentellen Literatur beginnen und zugleich meistern. Jedermann weiß, welche Fülle an Kritik ihr Werk enthält.

Friedrich Schlegel, selbst Meister der Kritik und des Essays, bezeichnet ihn als reinen Typ des Kritikers und erkennt darin den Protestierenden im weitesten Sinne, und Adam Müller nennt „Lessing in seiner Vorlesung über die Entstehung der deutschen Kritik einen der maßgeblichsten Quellgeister“. Wir haben weitergehend, schon auf Dilthey, Nietzsche, Ortega y Gasset hingewiesen. Ihnen folgen die Jüngeren: Gottfried Benn, der aus dem Expressionismus hervorging, Hofmiller als einer unserer ersten Literaturkritiker, Karl Hillebrand und Ernst Robert Curtius, die es verstanden, aus den zeitgenössischen Augenblicken den Weltblick eines durchdringenden Analytikers aufglänzen zu lassen. Ernst Jünger, dessen Essays in der gelassenen, halb zynischen, halb skeptischen Weise Montaignes mit den Dingen experimentiert, Rudolf Kaßner, der Unermüdliche, der immer wieder die welthistorischen Bedingtheiten des analytischen Verstandes aufheben möchte; Thomas Mann, der in langen Perioden den Atem der Epik in diese Äußerungen gießt, und zwar in einer thematischen Vielfalt, die Kunst, Historie, Psychologie, Geschichte und Politik umfaßt; endlich die österreichischen Essayisten von Kürenberger und Speidel bis Karl Kraus, Hofmannsthal und Stoeßl, der dieser literarischen Form sogar eine Theorie gewidmet hat, die bemerkt, daß „Triebhaftes und Bewußtes“ im Essay „gleichgewogen“ mitwirke.

Es ist also offenbar: der Essay entspringt dem kritischen Wesen unseres Geistes, dessen Lust am Experimentieren einfach eine Notwendigkeit seiner Seinsart, seiner Methode ist. Wir wollen erweiternd sagen der Essay ist die Form der kritischen Kategorie unseres Geistes. Denn wer kritisiert, der muß mit Notwendigkeit experimentieren, er muß Bedingungen schaffen, unter denen ein Gegenstand erneut sichtbar wird, noch anders als bei einem Autor, und vor allem muß jetzt die Hinfälligkeit des Gegenstandes erprobt, versucht werden, und eben dies ist ja der Sinn der geringen Variation, die ein Gegenstand durch seinen Kritiker erfährt. Man könnte einen Literaturkritiker veranlassen, Gesetze, Vorschriften aufzustellen, wie das in alten Poetiken ja auch für andere Kategorien geschehen ist; er müßte es aussprechen, daß es in jeder guten Kritik ein Gesetz der Erhaltung minimaler Variation des Gegenstandes gibt — es wird diese Variation aber gerade auf den Ort bringen, auf dem entweder die volle Größe oder das volle Elend des betreffenden Autorengegenstandes sichtbar wird. Jedenfalls, und das wollen wir zu sagen haben, ist das Gesetz der minimalen Veränderung (Verrückung) auch das Gesetz, unter dem der kritische Essayist arbeitet, es ist die Methode seines Experimentes.

In diesem Sinne enthält sie alles, was kategorial unter den kritischen Geist fällt: Satire, Ironie, Zynik, Skepsis, Räsonieren, Nivellieren, Karikieren usw. So wird aber gerade durch seine Bevorzugung des Essays offenbar, daß der Kritiker im Confinium zwischen dem schöpferischen und ästhetischen Stadium einerseits und dem ethischen Stadium der Tendenz andererseits beheimatet ist. Er gehört keinem Stadium an, sondern einem Confinium, und in soziologischer Sicht kommt darin zum Ausdruck, daß er als Typ zwischen den Klassen und als Zeitgenosse zwischen den Zeiten, dort, wo die offenen oder geheimen Revolutionen, die Widerstände, die Umschichtungen sich vollziehen oder vorbereitet werden, seine Freunde finden wird.

Was erreicht wird durch den Essay, haben wir gesagt. Was aber wird sichtbar? — Ich möchte sagen, durch das essayistische Verfahren wird die Kontur einer Sache sichtbar, die Kontur des inneren und die Kontur des äußeren Seins, die Kontur des „So seins“ meinetwegen. Dabei ist es nun so, daß es in dieser Sichtbarmachung der Kontur keine substantielle Grenze gibt, wenigstens nicht prinzipiell. Das essayistische Experiment ist sogar im Prinzip unabhängig von der Substanz, vom Gegenstand. Es kann sogar eine gewisse Heterogenität der Substanz aushalten, man braucht also entsprechend einer Summe von Aphorismen nicht grundsätzlich, systematisch, deduzierend „bei der Stange zu bleiben“. Das darf jedoch nicht auf eine Verwandtschaft mit dem Aphorismus hindeuten wollen. Beide Formen sind in Fülle, Dichte, Stil und Absicht völlig verschieden; dort regiert das Pointierende, hier noch das Epische. Nur dies kann der Sinn der Aussage Hofmillers sein, danach der Essay nicht wissenschaftlich sei: wo Wissenschaft als Summe, als System axiomatisch deduktiver Aussagen über einen wohlbestimmten Gegenstandsbereich definiert wird, dort sind Abhandlungen, nicht Essays möglich. Aber insofern ja jede Wissenschaft eine Gegenständlichkeit festlegt und diese auch Thema kritischer Reflexion wird, vermag es durchaus einen wissenschaftlichen Essay zu geben. Wir haben in Deutschland, Frankreich und England genügend Beispiele für wissenschaftliche Essayistik. Goethes Aufsaß über den „Granit“ wäre zu nennen.

Max Weber, eine der legten wissenschaftlichen Naturen, die den großen Stil nicht vermissen lassen, hat in den beiden Vorträgen „Politik als Beruf“ und „Wissenschaft als Beruf“ durchaus Beispiele solcher Essays wissenschaftlichen Geistes gegeben. Ich erinnere weiter an den glanzvollen Essay Heinrich Scholz‘ über den Theologen und wissenschaftlichen Organisator Adolf von Harnack, der bei Gelegenheit einer Auseinandersetzung mit der großen Harnack-Biographie von Zahn-Harnacks entstand. Heisenbergs Aufsähe über „Die Entwicklung der Quantenmechanik“ und „Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaften“ sind mustergültige Essays wissenschaftlicher Prosa in deutscher Sprache. Die historischen Essays Stracheys aber enthalten alle im Raume der Wissenschaft verwirklichte angelsächsische Züge echter literarischer Experimentier-Kunst.

Aus dieser Aufzählung mag es begründet sein, warum wir eigentlich nicht zwischen wissenschaftlichen und literarischen Essays unterscheiden, sondern den Unterschied durch die Begriffe schöngeistige und feingeistige Essayistik bezeichnen möchten. Die schöngeistige Essayistik entwickelt ein außerhalb wissenschaftlicher Bezirke liegendes Thema, die Reflexion, meist schweifend, intuitionistisch und irrationalistisch, enträt zwar nicht der Klarheit, aber diese Klarheit ist nicht die der begrifflichen Festlegung, sondern vielmehr die der Durchsicht durch den poetischen oder geistigen Raum, den man betreten hat. Die feingeistige Essayistik, erwachsen aus deflatorischen, axiomatischen Bemühungen um einen ziemlich bestimmten Gegenstand, der einer Wissenschaft angehört, hat einen unvernichtbaren Hang zur Logik, sie verrät den Stil der hellen ratio, den sie nie verläßt; sie analysiert, sie macht elementar, sie körnt die Substanz, die sie in der gesamten experimentellen Variation festhält. Es fragt sich, ob man nicht eine besondere Klasse, die der polemischen Essayistik, die also nicht kritisch, sondern eben mit der Schärfe zerstörenden Angriffes den Gegenstand variiert, anfügen soll.

Es steht nichts im Wege. Sie wird natürlich mit allen Mitteln den Gegenstand auf die Position bringen, wo seine Fragilität, seine Abenteuerlichkeit, seine Hinfälligkeit geradezu selbstmörderisch wirkt.

Dazu sind alle Mittel notwendig, die schöngeistige Betrachtung so gut wie die feingeistige Zerlegung. Lessing war einer ihrer Meister, und beinahe alle großen Polemiken der Weltliteratur haben sich der experimentierenden Kunst des polemischen Versuches erfolgreich bemächtigt. Nun ist es nicht mehr schwer, das zu sagen, was literarisch eigentlich über das Essay ausgesagt werden sollte und was seine Substanz betrifft. Es handelt sich bei ihm um das Ergebnis einer literarischen ,,ars combinatoria“. Essayist ist ein Kombinatoriker, ein unermüdlicher Erzeuger von Konfigurationen um einen bestimmten Gegenstand. Alles, was nur irgendwie in der Nachbarschaft dieses Gegenstandes, der das Thema des Essays bestimmt, eine mögliche Existenz besitzt, tritt in die Kombination ein und bewirkt eine neue Konfiguration. Die Verwandlung der Konfiguration, der jener Gegenstand innewohnt, ist der Sinn des Experiments, und weniger die definitorische Offenbarung des Gegenstandes selbst ist das Ziel des Essays, als vielmehr die Summe der Umstände, die Summe der Konfigurationen, in denen er möglich wird. Auch das ist von wissenschaftlichem Wert, denn auch die Umstände, die Atmosphäre, in denen etwas gedeiht, will erkannt sein und sagt schließlich darüber aus. So ist also auch die Konfiguration eine erkenntnis-theoretische Kategorie, und sie ist nicht axiomatisch-deduktiv erreichbar, sondern nur durch die literarische ars combinatoria, in der an die Stelle der reinen Erkenntnis die Einbildungskraft getreten ist. Denn in der Einbildungskraft werden ja nicht neue Gegenstände erzeugt, sondern Konfigurationen für Gegenstände, und die Konfigurationen erscheinen nicht mit deduzierter, sondern mit experimentierender Notwendigkeit. Alle großen Essayisten waren Kombinatoriker und besaßen eine außerordentliche Einbildungskraft.

Freilich ist es schwer, zu beurteilen, ob mit einer Idee oder einer Form experimentiert wird, und deshalb ist es nicht so einfach, festzustellen, ob ein echter oder unechter Essay vorliegt, und bis zu welchem Grad sich der Schriftsteller über den bloßen Bericht hinausgehoben hat. Ich möchte daher behaupten, daß der Essay die am schwierigsten zu meisternde wie auch zu beurteilende literarische Form darstellt. Nimm irgendein Ding, z. B. den „Grünspecht“. Eine analytische Beschreibung führt zu nichts anderem als einem Stückdien „Brehm“, aber dadurch, daß man beim Anblick des Grünspechts eine Idee hat, nämlich die des Rhythmus, und diese Idee am Grünspecht spiegelt und bemerkt, daß „er“ im  Augenblick der Schöpfung am Ort der Trennung „zwischen Rhythmus und Melos“ stand, kommt das Experimentelle in den Bericht, der zunächst wie ein Stückchen aus Brehm anhebt. Der Gedanke wird nun durchexperimentiert, allenthalben wird der Takt der Tätigkeit des Vogels untersucht, und findet man nun plötzlich die Zeile, worin steht, daß diese Art von Kombinationen „kleine Modelle einer anderen Art und Weise die Dinge zu sehen“ darstellen, so hat man die Tendenz und hinter ihr den mit der puren ratio bereits entzweiten Geist. Wir sagen, das sei „ein echter Jünger“, absichtsvoll geht es scheinbar vom Hundertsten ins Tausendste.

Und doch steht ein Gedanke blitzsauber, und ein Mann in seiner wirklichen Meinung vor uns. Entsprechend geschieht es immer; der Mann, der dem „kombinatorischen Schluß einen Essay gewidmet hat, erweist sich als glanzvoller Beherrscher dieses Verfahrens, das zur Grundlage der Essayistik gehört. Und dieses Verfahren ermöglicht es auch, daß die schreibende Subjektivität, der Literat im besseren Sinne des Begriffs plötzlich in die Kombinatorik hineingenommen wird, derart, daß offen oder verschwiegen die Tendenz in Existenz umschlägt. Die Tendenz drückt sich wunderbar aus im Essay. Wer eine Tendenz hat, ist ein Versucher. So schließt sich der Gedankengang. Erst wird der Gegenstand herausexperimentiert im Glanz der Kombinatorik von Begriffen und Ideen, Bildern und Vergleichen, dann schimmert langsam die Tendenz durch das Gespinst der literarischen Essayistik, und schließlich wird vom Standpunkt der Tendenz aus appelliert, und es entsteht der wirkliche Schriftsteller, der echte Literat im Sinne Lessings, der Geist, das Herz, die etwas zu besitzen gedenken. Auf diese Weise wird verständlich, daß eine bloße literarische Form, der Essay, durch die ästhetische Hülle hindurchstößt und ethisch, existentiell wird, es wird verständlich, daß eine existentielle Kategorie, die des Versuchers, bildlich und methodisch getreu, zu einer literarischen Form wird.

Der Geistige, der nicht die Schöpfung, aber die Tendenz im Sinne hat, will den Existierenden erzeugen. Sein Anliegen ist ein konkretes. Wir sahen: zulegt ist alle Tendenz existentiell gerichtet. Also vermag sie auch Existierendes hervorzubringen. Sie hat sokratische Absichten, und während Sokrates im Gespräch, im Zwiegespräch, das, was er sagen wollte, hervorbringend, also experimentierend sagte, gleichsam in einer Urform des dramatischen Aktes, bevorzugt der Geistige, der etwas vertritt, heute den Essay, den Versuch, weil die Herausarbeitung des Existierenden selbst vom Charakter des Experiments ist. Der Essay ersetzt gleichsam das dramatische Zwiegespräch. Er ist eine Art reflektierender Monolog und damit selbst eine dramatische Form. Die Dialektik liegt im Experimentellen. Das formale und inhaltliche Wesen des Essays besteht in nichts anderem, als eine Absicht sokratisch, also experimentierend durchzusehen oder einen Gegenstand experimentierend hervorzubringen. Was gesagt werden soll, wird nicht sogleich als fertiger Spruch, als Gesetz gesagt, es wird vielmehr vor dem geistigen Auge des Lesers beständig hervorgebracht im Akt unermüdlicher Variation des Ausgangsproduktes, und zwar auf eine Weise, die einerseits der experimentellen Demonstration eines naturgesetzlichen Effektes und andererseits der Herstellung einer wohlbestimmten Konfiguration im Kaleidoskop entspricht.

Ich habe gesagt, daß der Essay — wie sein Name ausspricht — experimentiert, konkret nichts anderes als den Vollzug eines Experimentes darstellt. Ich habe auch schon hinzugefügt, daß es sich nicht bloß um ein Experiment mit Ideen handelt. Lichtenberg hat einmal davon gesprochen, daß man dies Experimentierte tun müsse. Im echten Essay wird noch weit über diesen ästhetischen Akt hinausgegangen. Kein Essay bleibt im Ästhetischen stecken, obwohl, wie ich eingestehe, er zunächst das Problem einer künstlerischen Form der Prosa bedeutet. Der Essayist setzt sich gegen jede Theorie ab. Er repräsentiert weder Theorie, noch entwickelt er eine Theorie. Er bewegt sich ganz im Raume des Konkreten, gemäß der gegen Hegel gerichteten Forderung Kierkegaards nach „Raum und Zeit und Fleisch und Blut“. Was macht er also? — Was setzt sich als Konkretes völlig gegen Theorie ab? — Der konkrete Fall. Der Essay erzeugt bewußt den konkreten Fall einer Idee, gespiegelt am Essayisten selbst.

Wir stehen am Schluß dieser Betrachtung, die nicht nur nebenbei auf die Notwendigkeit und den Ernst einer Literaturgattung den Finger legen wollte. Nicht die Kurzatmigkeit einer schnellen, in vielem flüchtigen, im ganzen kriegerischen Zeit bringt den Essay hervor; durch die kritische Situation im ganzen, durch die Krise, in der Geist und Leben wachsen, ist er zu einem Charakteristikum unserer literarischen Epoche geworden. Er dient der Krise und ihrer Überwindung, indem er den Geist zum Experiment, zu neuen Konfigurationen der Dinge veranlaßt, aber er ist nicht einfach Akzent, bloßer Ausdruck der Krise. Er enthält durchaus die Möglichkeit einer Vollendung in sich, denn er ist eine literarische Individualität. Wer ihn als eine Kunst der Popularisierung versteht, hat ihn gründlich mißverstanden. Was ein Wesen der Kritik ist, steht jenseits des Gegensatzes von populär und nichtpopulär.