Merkur, Nr. 509, August 1991

Das Schwanken zwischen Abfall und Wert
Zur kulturellen Hermeneutik des Sammlers

von Michael Cahn

 

Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat kürzlich für Rechtens erklärt, den Müll einer Privatperson ohne Vorlage eines Durchsuchungsbefehls als Beweismittel heranzuziehen. Der Abfall, mit dem Tabu des Ekels belegt und angereichert durch die Spuren des Verbrechens, gehört juristisch nicht mehr der geschützten Privatsphäre an. Etwas wegzuschmeißen heißt, die Eigentumsrechte der Müllabfuhr zu übertragen. Die Produzenten des Mülls, ähnlich wie der Oberste Gerichtshof, haben immer geglaubt, das Wegwerfen wäre ein Fall des spurlosen Verschwindens, in dem der Ekel einen undurchdringlichen Schleier um den Abfall legt. Deshalb defekte Bügelbretter in der Landschaft, deshalb kein Strand ohne Zigarettenkippen.

Diese Illusion des Verschwindens hat bei der Polizei, aber auch bei den Ökologen, keine Chance mehr. Die Bahn der Waren, die Müll werden, verläuft nicht länger im Verborgenen. Dank sei der Ökologie für die Bewußtseinsarbeit. Doch war es wirklich erst die Ökologie, die den Vorhang vor dem Abfall weggezogen hat? Hatte nicht bereits die Archäologie, ohne sich zu ekeln, in den vergessenen Abfallgruben der Vergangenheit ihre wertvollsten Funde gemacht? Aber auch die empirische Wissenschaft begann mit einer ganz ähnlichen Wendung zum Wertlosen, nachdem sie, seit dem 17. Jahrhundert, ihre experimentelle Aufmerksamkeit den unscheinbarsten und wertlosen Produkten der Natur zuwandte: nicht Diamanten, sondern Schneeflocken, nicht Gold, sondern Flöhe, nicht Kunstwerke, sondern Gewürm. Doch die gemeinsame »Müllresistenz« von Archäologie und den neuzeitlichen Wissenschaften erweist sich erst, wenn jenseits des mangelnden Werts dieser Gegenstände die Modalität ihres Zusammenfügens betrachtet wird: wenn der Gebrauch verstanden wird, den der Sammler vom Abgelegten macht. Der Sammler aber, das wäre die These des folgenden Versuchs einer kulturellen Hermeneutik, ist als ein Leser zu analysieren. An drei heterogenen Zonen der Kultur soll das im Folgenden vorgeführt werden.

 

»Garage Sales« in Amerika

 

Samstag früh, acht Uhr. In Amerika beginnt jetzt der große Verkauf des Abfalls. Eine verkehrsintensive, spontane Wochenendökonomie blüht bis in den frühen Sonntagabend. Am Montag trennt wieder eine unüberwindbare Barriere den Wert vom Wertlosen, die Sauberkeit vom Dreck. [1. Vgl. Michael Thompson, Rubbish Theory. The Creation and Destruction of Value. Oxford:University Press 1979.] Im Land des Konsums und der Hygiene ist der Garage Sale die regelmäßige Außerkraftsetzung von Shopping und Sauberkeit, von Warenkultur und Gesundheitsvorsorge.

Auf der Einfahrt zur Garage, in Vorgärten oder auf Parkplätzen wird der Müll, der einst Ware war, wieder als Ware dargestellt. Alte Kleider, alte Geräte, Krimskrams und Gelärsch. Alles, was den Umzug der Familie zum nächsten Wohnort nicht mitmachen soll, steht zum Verkauf. Die Konsumkultur hat die Waren mit einer symbolischen Kraft aufgeladen, die ihre empirische Lebensdauer als Gebrauchsgegenstand übersteigt. Jetzt werden sie ausgestellt als die Relikte ihrer einstigen Bedeutung. Sie sind Sammelgegenstände geworden. Auf diesem Markt verkehren nicht nur die alten Straßenkreuzer der Armen, nicht nur die Kleinlaster der Rentner, sondern auch die Importwagen der Leute ohne Geldsorgen. Auch wenn die Trivialitäten der Notwendigkeit niemals fehlen, so läßt sich die Bewegung dieser Gegenstände doch nicht der Logik des Billigen oder des Recycling subsumieren. Hier wird nicht Gebrauchtes dem Kreislauf der Ware wieder zugeführt, sondern ein anderer Kreislauf einer anderen Ökonomie eingerichtet: Die Überbietung des Konsumsystems durch das System des Sammelns. Es geht um kulturelle Bedeutungen. Hier werden collectibles ausgestellt, Objekte also, die keiner anderen Forderung genügen müssen als der Vervollständigung einer Sammlung.[1. Susan Stewart, On Longing. Narratives ofthe Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection. Baltimore: lohns Hopkins University Press 1984.]

An die Stelle des Gebrauchswertes tritt der Sammlerwert, der noch dem abgerissensten Gegenstand verliehen werden kann. Dieses Sammeln scheint wie eine Konzentrationsübung in einer notorisch unkonzentrierten Welt. Der Teelöffel, Fadensilber, der sich auch mal dabei findet, ist gerade deshalb kein gutes Beispiel für dieses Sammeln, weil sein Wert in Gramm ausgedrückt werden kann, unabhängig von der Serie, die er vervollständigt. Denk aber an die Frösche, die ein Freund sammelt, oder die Eulen, ganz zu schweigen von den Enten, die mittlerweile von den Schaufenstern der Möbelgeschäfte in die Wohnzimmer gewandert sind. In allen Materialien oder selektiver, nur vor 1950. Altes Porzellan, alte Reklametafeln, alter Modeschmuck, Dosenöffner und Kofferetikette. Je abwegiger das Gebiet der Sammlung, desto größer die Chance, die Sammlung nicht schon morgen oder nächste Woche abschließen zu müssen, sondern mit ihr die Konzentration auf Dauer zu stellen. Denn dieser Sammler, der alte Waren zu Sammelgegenständen befreit, fürchtet nichts mehr als eine vollständige Sammlung seines Gegenstandes an der nächsten Straßenecke. Das erschüttert ihn, denn sein Sammeln versuchte seine eigene Aufmerksamkeit auf ein Ziel zu fixieren, nicht aber dieses Ziel zu erreichen. Deshalb erfüllt ihn nach einem erfolglosen Samstagvormittag nichts so sehr wie die Freude, daß sein Ziel im Müll der anderen ihm nicht als komplette Serie begegnet ist. Eine Ausrede für die ängstliche Inspektion des Mülls hat sich bewährt.

Das ist die Logik, der die Besucher der Garage Sales folgen. Anders als der Sammler, der seltene Bücher bei Hauswedell ersteht oder antike Briefmarken in München ersteigert, muß hier an jedem Objekt erst geprüft und festgestellt werden, ob es sich um Müll oder Sammelbares handelt. Natürlich können die Gegenstände des Garage Safes in die Warenhäuser des Antiquitätenhandels übergehen, aber dann haben sie aufgehört, diese Unsicherheit des samstäglichen Objekts zu teilen. Der Blick des herumfahrenden Sammlers selbst muß, was Müll schien, als Sammelgegenstand konstituieren. Diese Konstitutionsleistung ist immer gefährdet, spielt immer wieder mit der Grenze zwischen den anerkannten Raritäten und dem tabuisierten Müll. Und im Gegensatz zu dem Sammler von Briefmarken ist hier die Aussicht der Vollständigkeit eine Gefahr.

Dieses Interesse am Müll ist nie frei von sexuellen Besetzungen. Zur Perversion wird es aber erst dann, wenn die Gewohnheiten im Umgang mit ehemaligen Waren auf die fabrikneuen Produkte der Konsumwelt übertragen werden. Brandneue Autos werden als Collectors‘ Editions annonciert. Stereoanlagen werden als Gegenstände der Sammelleidenschaft vorgeschlagen. Porzellanpuppen von Fernsehhelden, Vollkitschschmetterlinge, alle Katzen dieser Welt, en miniature. Lebensmittel verlieren durch die Sammelpunkte auf ihrer Verpackung den letzten Rest ihrer Realität. Verzehr, nicht länger das Urbild der Bedürfnisbefriedigung, wird dann zum Instrument einer Punktesammlung. Als Sammelstück präsentiert sich das Neue in den Kategorien des Alten, als Antiquität der Zukunft. Was geschieht mit den Waren durch diese Perspektive des Sammelns? Was für Formen.des Gebrauchs entsprechen ihm? Was ist dieses Sammeln für ein Verhalten? Erst wenn wir uns von den Formulierungen derjenigen lösen, die glauben, auf dem Garage Sale einzig dem Imperativ der Sparsamkeit zu folgen, kann sich die kulturelle Bedeutung dieser Tätigkeit erschließen. Was die Beteiligten für ein Sonderangebot halten mögen, ist durch eine Struktur der Objektzuwendung ausgezeichnet, deren erkenntnistheoretische Implikationen hier im Vergleich zu rekonstruieren sind.

Eine Collectors‘ Edition stellt die psychische Energie des Sammelns in den Dienst des Konsums. Die an den neuen Produkten befestigten Sammelpunkte verwischen die Grenze zwischen zwei ökonomischen Ordnungen: die unruhige Lust des Sammelns und das simple Glück des Käufers. Die Lust des Sammlers ist davon abhängig, daß das Fehlende nicht einfach gekauft werden kann, weder im Katalog noch im Supermarkt. Die Komplikation des Suchens auf den Garage Safes, wo es keine feste Adressen und keine Referenzen geben kann, zeichnet diese Lust aus. Die verzögerte Vervollständigung der Sammlung ist ihre Logik. Der Sammler macht sich zum Sklaven des Zufalls. Er rechnet überall mit einem Treffer. Dagegen imaginiert sich der Konsument eine ganz andere Rolle. Als Kunde ist er König, seine Zahlungsfähigkeit spiegelt ihm eine Macht vor, der sich die Lieferanten beugen. Trotz dieser Differenz zwischen dem Sammler und dem Käufer ist in Amerikas Supermärkten das Sammeln, das sich doch wesentlich auf das Wertlose richtet, zu einem Supplement des Konsums geworden.

Indem die Lust des Sammlers zu einem Attribut des Konsums wird, gibt sich die Ware· den Schein des Fundes. Sie negiert ihre Käuflichkeit. Genau umgekehrt auf dem Garage Safe: hier werden Funde, die Elemente der unmöglichsten Sammlungen, als Waren ausgegeben. Für die Haltung des Sammlers ist das Moment der Rettung entscheidend; die Verklärung des Mülls zum Fund. Nur das Wertlose muß gerettet werden: Es muß von dem Kontext, in dem es nichts ist, in jenen überführt werden, in dem es Wert besitzt. Deshalb steht der Sammler von abgestempelten Briefmarken, der die Wertlosigkeit seiner Gegenstände nicht mehr erkennen kann, eher auf der Seite des Konsumenten. Er delegiert die idiosynkratische Wertzuschreibung, die jede Sammlung leisten muß, an den Michel-Katalog. Oft ist eine Sammlung nur eine Ausrede dafür, sich unterwegs von dem Unbekannten überraschen zu lassen. Es ist ein offenes, stets sich veränderndes System, wo das Glück des Konsums durch die Lust des Fundes überboten wird, die seit Horace Walpole »serendipity« heißt.[1. Vgl. Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1983.]

Auf der Tour durch diesen Markt wird der Kauf selbst Nebensache. Wichtiger ist, gesehen zu haben, was man hätte kaufen können. Der Garage Sale ist ein Besichtigungswesen, in dessen Rahmen die offizielle Kultur ihr Ausgegrenztes darbietet. Darin liegt auch der Unterschied zu den abendlichen Zügen durch den Sperrmüll hierzulande. Deutscher Sperrmüll, hastig und im Dunkeln, ist ein Beschaffungswesen, ohne die Einladung des Schauens, die der Garage Sale seinen Besuchern ausstellt. Der Gegenstand der Sammlung darf aber auch nicht zum »tiefenpsychologischen Bedeutungsträger« stilisiert werden, der eine latente Beziehung zum Unterbewußten unterhält, wie es der Surrealismus vertrat. Der Fund auf dem Pariser Flohmarkt, den Andre Breton in psychologischen Begriffen als unordentlich, fragmentiert und pervers beschreibt, war für ihn ein Äquivalent der ecriture automatique, ein Katalysator der künstlerischen Produktion. Damit übersah er das Allernächste: Die Beziehung des objet trouve zum objet compre. Erst seine negative Beziehung zum Markt und zur Ökonomie der Konsums definiert dieses Sammeln, in dem Walter Benjamin die Rettung des Dings von der Fron, nützlich zu sein, sah.

Vieles, was hier am Wochenende angeboten wird, ist tatsächlich noch brauchbar, nützlich und immer extrem billig: Babykleider, Sonnenbrillen, alte Kosmetik, wirklich vollständige Puzzles, Gartenmöbel, Cognacgläser, Weihnachtsbaumdekoration im Sommer. Einen Entsafter für fünfzig Cents, Radio zwei Dollar, das Seidenjacket sechs, die Taschen noch zugenäht. Ohne den Überfluß und ohne die Ansammlung des immer noch Brauchbaren wäre der Garage Sale nicht zu dem populären Phänomen geworden, an das sich in zweiter Ordnung die lustvolle Kultur des Sammelns ankristallisieren konnte. Aber die ökonomische Erklärung, mit der noch der dümmste Besucher dieses anderen Marktes sein Handeln vor sich selbst rechtfertigt, ist nur seine einfachste, nicht seine beste Erklärung. Sie kann den Kitzel, die Nervosität des Sammlers auf seiner Wochenendtour nicht verstehen. Garage Sales, soviel scheint deutlich zu sein, gehören in den Zusammenhang der Konsumwelt, realisieren ihr instabiles Gegenbild. Das Verhalten, das ihnen entspricht, ist das des Sammlers. Dieser unterhält ein anderes Verhältnis zum Gegenstand seiner Aufmerksamkeit als der Kunde. Die unruhige Suche nach dem nächsten Teil der Serie, dessen Auffinden zugleich gefürchtet wird als der Abbruch der Sammlung, ist diffus und konzentriert zugleich. Die Wissenschaftsgeschichte der frühen Neuzeit kann dazu beitragen, dies näher zu beschreiben.

 

Wissen und Sammeln

 

Die Aufmerksamkeit für Abseitiges war eine wichtige Dimension der neuen Wissenschaften des 17. Jahrhunderts. Die wissenschaftliche Abstraktion von den gesellschaftlichen Wertbegriffen verschaffte dem gemeinen Floh die Ehre einer mikroskopischen Vergrößerung durch Robert Hooke und brachte den Wissenschaftlern bald den Vorwurf ein, »Cabinets full of Trash and Trumpery« , so der Earl von Shaftesbury, zusammenzustellen. Andererseits war, um den Abstand von den scholastischen Gedankengebäuden möglichst groß zu halten, eine strenge Gegenstandsorientierung gefordert. Bacons Modell dafür war die naturhistorische Sammlung der Raritäten, »new, rare, and unusual«. Bei dem täglichen Zuwachs an Zweifelsfällen und Bedenklichkeiten, »new doubt daily arising«, orientierte Bacon seine Wissenschaft an der pseudo-aristotelischen Problemsammlung. Der Sammler, der den Gegenstand als stummen und rätselhaften zur Geltung kommen ließ, ihn ausstellte, ohne ihn zu interpretieren, erfüllte die Forderung nach Spekulationsabstinenz, die den Grundstein der neuzeitlichen Wissenschaft legte. Die Erklärung der Phänomene, selbst die Systematisierung des Gesammelten, hatten spätere Forschergenerationen zu leisten. In Sylva sylvarum (1626) ordnete er diese Probleme und Beobachtungen in Gruppen von je hundert. Ihr bloß numerischer Zusammenhang ist eine Konsequenz dieses reinen Sammelns.

John Tradescant der Ältere, gestorben 1638, bietet eine interessante Realisierung dieser von Bacon systematisch formulierten Praxis des Wissens. Tradescant machte seine Sammlung in South Lambeth bei London, genannt »Die Arche«, zum Friedhof bedeutsamer Gegenstände aus der Fremde. Hier harrten sie einer neuen Aufgabe jenseits ihrer ursprünglichen Brauchbarkeit. Tradescant, wie viele seiner Sammlerkollegen, beherrschte die hohe Kunst, das Besondere zu finden, das doch zugleich an seinem ursprünglichen Orte das Normalste war. Als Gärtner sammelte er zunächst Pflanzen für den Earl von Salisbury, dann aber auch Straußeneier und Ostereier aus Jerusalem, Musikinstrumente, Blut, das auf die Insel Man regnete, Vogelnester aus China, Tabak vom Amazonas, Schwertfische, Bernstein, Biberhoden, Münzen, anamorphische Bilder, Paradiesvögel, deutsche Schlösser, Pelikane, Geld aus belagerten Städten, Federn des Phönix und jüdische Beschneidungsmesser. Er besaß eine ganze ägyptische Mumie, ein Sortiment alter Schuhe, das Messer, mit dem der königliche Zwerg Jeffrey Hudson erstochen wurde, eine Orange von dem Baum, der auf dem Grab des ZebuIon wuchs, und Dodo, den mittlerweile ausgestorbenen Riesenvogel aus Reunion, der nie fliegen konnte. Aber die getrockneten Pflanzen und die toten Körper fremdartiger Tiere wurden nicht zerlegt oder erforscht. Die exotischen Pflanzen, die er als  Gärtner in großer Anzahl einführte, hatten keinen agrarischen Wert. Vielmehr riefen sie eine ähnliche Andacht hervor wie ein mit achtzig Gesichtern dekorierter Kirschkern, Meisterwerk der Dresdener Ziselierkunst.

Diese Exponate sind keine wissenschaftlichen Objekte im modernen Verstand. Aber auch ihre Bestimmung als Embleme einer auf den Tod konzentrierten Melancholie müßte zu kurz greifen. Vielmehr findet sich in diesen Reliquien einer expandierenden Realität eine neue Gestalt des Gegenstands verwirklicht, eine manieristische Utopie des Dinges. Er ist nicht Gebrauchsgegenstand, auch nicht Träger einer definierten Bedeutung, sondern Paradigma eines ganz unbestimmten Dings, Symbol des menschlichen Nichtwissens an den Grenzen des baconischen Empirismus. In der Sammlung sind die Dinge nicht Träger von Information, sondern versuchen etwas festzuhalten, das jedem einzelnen von ihnen entgleitet: die Prägnanz und Fülle der Welt, die durch die Expansion nach Ost und West ihre alte Stabilität verlor. Genau in dieser Grenzenlosigkeit der Sammlungen liegt ihre Bedeutung. John Evelyn wußte das, als er dem MemoirJor My Grandsan anvertraute: »Curiosity … is Endless«. Weil auch die Wissenschaft, die immer Zeit hat, ein endloses Unterfangen ist, kann sie sich nicht vollständig von der nervösen Aufmerksamkeit des Sammlers distanzieren. Allein das ist schon ein Grund dafür, daß das Sammeln auch als eine erkenntnistheoretische Praxis verstanden werden muß. Die Sammlungen bieten uns die Spuren einer Objektzuwendung, für die jeder einzelne Gegenstand nur der Auslöser dafür sein konnte, einen weiteren zu suchen. Diese Suche, wie eine Sucht, kann niemals zur Ruhe kommen. Sie impliziert Konzentration genauso wie Nervosität. Selbst der Tod des Sammlers bedeutet nicht das Ende seiner Sammlung. JohnTradescant, der Sohn mit dem Namen des Vaters, setzt sie fort, publiziert ihren Katalog 1656, vererbt sie dem Elias Ashmole, der sie wiederum der Universität Oxford übereignet. Das ist die historische Probe der Fortsetzungslogik des Sammelns. Der Sammler arbeitet für seine Erben, die zu Ende bringen sollen, was niemand beenden kann. »Curiosity … is Endless.«

Im Ashmolean Museum wird genau diese unendliche Aufgabe schließlich dem Besucher aufgebürdet. Indem die Dinge ihm zugänglich gemacht werden, entlasten sich die Wissenschaftler von der Aufgabe, ihre Bedeutung zu formulieren. Immer mehr Dinge zu sehen und zu kennen, das versprach nach einer quantitativen Logik einen Zuwachs an Wissen. So rationalisierte Bacon den »Durst« nach Wissen, und Joseph Glanvill sekundierte, wenn er von dem »advantage of more phenomena« sprach. Aber kann ein »Durst nach Wissen« diese Sucht nach sammelbaren Gegenständen wirklich erklären, die sich in einer Vielzahl von Raritätenkabinetten äußerte, in denen die Schätze aus aller Welt in fröhlicher und ausgelassener Unordnung versammelt waren? Finden diese Sammlungen wirklich mehr als eine bloß rhetorische Legitimation in den pädagogischen Konzepten, die das Museum als eine wissenschaftliche Anstalt begreifen, aber nicht die Tätigkeit des Sammlers sehen, durch die es sich erst konstituiert? Lassen sich denn die Kuriositäten tatsächlich in Erkenntnisfortschritt übersetzen? Mitnichten. Sie werden, ganz wie Bacon es vorsah, gesammelt, aber ihre Auswertung findet gemäß der stets vorwärts eilenden Lust des Sammelns nicht statt. James Petivers schlecht bezeichnete Stücke, die ihm in rauhen Mengen zugingen, alles in braunem Papier eingeknüllt, verrotten in den Kellern seines Hauses. Tradescants Proben halten nicht länger, kaum eines seiner Stücke ist heute noch auffindbar.[1. Arthur MacGregor (Hrsg.), Tradescant’s Rarities. Oxford: University Press 1983.]

 

 

Offenbar gibt es für die naturhistorischen Sammlungen der frühen Neuzeit keinen wirklichen Zusammenhang zwischen einem Mehr an Dingen und einem Mehr an Wissen, auch wenn die Sammler selbst das gerne unterstellen. Der Vermehrung der Gegenstände entspricht nur in der Welt der Waren ein stetiger Wertzuwachs. Nicht so in der der Sammlung. Vermehrung verhält sich hier nicht linear. Die Tätigkeit des Sammlers läßt sich nicht einfangen in einer ökonomischen Logik der Quantität. Eine Zunahme der Objekte führt in erster Linie zu Problemen der Lagerung, produziert aber keinen Wissenszuwachs. Bereits 1695 ist John Woodward sichtlich besorgt, daß seine Korrespondenten in fernen Ländern zu viele Proben einschicken und gibt daher Brief Instructions for Making Observations in All Parts of the World.[1. Vgl. Steven Mullaney, Strange Things, Gross Terms, Curious Customs. In: Representations, Nr.3, 1983.]

 Das Maß der vollständigen Serie ist auch für Tradescants Unternehmen utopisch: Die ganze Welt müßte er in seiner »Arche« versammeln. Wenn aber die Sucht nach Dingen nicht als ein Löschen des Durstes nach Wissen erklärt werden kann, was war dann der Motor für dieses Sammeln? Was ist die Logik der Sammlung, wenn nicht die ökonomische Regel des »Mehr ist Mehr«. Was entwertet jeden Gegenstand, so daß er nie der letzte sein kann, daß immer wieder ein neuer nachfolgen muß? Was verdammt diese Gegenstände zur Serialität? Wurde jedes Ding verschlissen, sobald es Teil der Sammlung wurde? Wahrscheinlich. Das Eingehen in die Sammlung, die unvermeidliche Eingliederung in ihre unbeschwerte Unordnung zerstört die Aura und die Prägnanz der einzelnen Merkwürdigkeit. Der Kontext, in den der Gegenstand gerückt wird, macht ihn uninteressant, liquidiert seine Einmaligkeit. Der Sammler begehrt stets das Andere, Neue, das doch nur so lange sein Interesse fesseln kann, wie es noch nicht eingeordnet wurde, noch nicht einen beliebigen Kontext in einem System gefunden hat, der seine Merkwürdigkeit stillstellen wird. Die Sammlung zerstört das Gesammelte: Die Integration in den Kontext der Sammlung beraubt die Dinge ihrer Singularität.

Dieselbe Paradoxie versetzt noch den Sammler der Garage Sales in Unruhe. Deshalb fürchtete er die Komplettierung seiner Sammlung, die ihn weniger interessiert als das geheimnisvolle Schwanken der Dinge an der Grenze zwischen Wert und Müll, das er mit einer konzentrierten Nervosität erfolgt. Damit ist die logische und zugleich psychologische Mechanik der Sammlung angedeutet. Sie widerspricht der Metapher vom Wissensdurst, die die Phänomene des Sammelns als Erfüllung eines somatischen Verlangens interpretiert. Weder im Raritätenkabinett noch auf dem Garage Sale gilt das »Mehr ist Mehr«. Der Gebrauch dieser Dinge folgt einer anderen Logik. Die serielle Struktur der Sammlung läßt sich nicht quantifizierend erfassen. Ein meditativer, scheinbar »ästhetischer« Umgang mit Gegenständen im Kontext der Sammlung wurde von Bacon in das Unternehmen einer empirischen Naturgeschichte eingegliedert. Im Rahmen dieser Wissenschaft sollen die zuvor bloß gesammelten Dinge einen genau beschriebenen Ertrag bringen: Sie sollen Wissen produzieren, das Macht bedeutet. Der flüchtige Gebrauch der Dinge in der Sammlung, der in den unordentlichen Systemen barocker Vielwisserei sein Denkmal fand, soll zum Vorzimmer des Labors werden, zur Lehrsammlung. Die Sammlung konnte als autonome und dysfunktionale Form der Gegenstandszuwendung nicht bestehen bleiben, ohne potentiell zu einem Stein des Anstoßes zu werden. Deshalb wurde die Sammlung nach der Regel der repressiven Toleranz in das Vorhaben einer neuen Wissenschaft integriert. Der fortgeschrittene Empirismus subsumiert die Konzentrationsübung des Sammelns, in der ein quasi meditativer Zugang zum Objekt eingeübt wurde, dem wissenschaftlichen Projekt der Royal Society. Auch die entwickelte Konsumgesellschaft hat mit dem Schwinden des Gebrauchswerts die Lust der Sammlung, die zunächst an das für Geld nicht Erhältliche gebunden war, in ihren Dienst gestellt.

In beiden Fällen ist die Heterogenität des Sammelns noch spürbar. Es beugt sich nicht vollständig seinen aufgezwungenen Kontexten. Der Sammler raubt den Dingen durch das Ablegen und Systematisieren selbst in der größten Unordnung ihre Einmaligkeit. Er möchte ihre Prägnanz oder ihre Aura in der Sammlung institutionalisieren, doch genau dadurch zerstört er sie. Das ist das Gesetz des Wiederholungszwangs, unter dem der Sammler angetreten ist. Die wirkliche Bedeutung der gesammelten Gegenstände liegt deshalb nicht in dem Informationsgehalt jedes einzelnen, sondern in der Energie, mit der stets neue gesucht werden müssen, in ihrer Tendenz zur Serialität. Das wird immer dann übersehen, wenn das Spiel der Analogien von Natur und Kultur, die Korrespondenzen von Sichtbarem und Unsichtbarem, als Prinzipien solcher Sammlungen verstanden werden.[1. Dieser Fortsetzungszwang muß auch dann noch als Kennzeichen des Sammelns erkennbar bleiben, wenn die Sammlung eher als System denn als Handlung konzipiert wird. Vgl. Werner Hüllens Aufsatz Sammeln, Ordnen, Beschreiben in seinem Buch Their Manner of Discourse. Tübingen: Narr 1989.]

 

 Lesen und Sammeln

 

 Was also ist dieses Sammeln, das beim Umgang mit Abfall und als ein Prinzip der neuzeitlichen Wissenschaft nachweisbar ist? Es besitzt eine erkenntnistheoretische Struktur, die Logik der Serialität, nach der die Konzentration auf einen Gegenstand sich nie beruhigen kann, sondern unmittelbar in die Suche nach einem neuen Exemplar übergeht. Zugleich besitzt die Tätigkeit des Sammlers eine kulturell besonders instabile Bewertung: einerseits als erotisierte Archäologie des Abfalls, andererseits als arbeitsamer Gegenentwurf zur tabuisierten Lust der Spekulation. Doch hier soll nicht die kognitive Struktur des Sammelns fest verbunden werden mit den Begriffen von Lust oder Unlust. Vielmehr kommt es darauf an, das Schwanken dieser Struktur des Sammelns zu deuten, das kulturelle Grenzen überschreitet und sich in den heterogensten Instanzen wiederfindet. Das Spektrum der Bewertungen des Sammelns, das von der ehrlichen Arbeit des empirischen Datensammelns bis zur lustvollen Suche nach alten Rabattmarkenheften reicht, sagt etwas aus über die Instabilität solcher kulturellen Strukturen. Aber was sind kulturelle Strukturen, die sich eine kulturelle Hermeneutik hier zum Gegenstand nimmt? Vielleicht läßt sich durch den Begriff einer kulturellen Struktur, der die Heterogenität der umfaßten Bereiche andeuten soll, der Umgang des Sammlers mit den Dingen näher fassen. Dabei kann dem Lesen als einer paradigmatischen Form strukturierter Bedeutungsproduktion hier eine besondere Rolle zufallen.

Die Satzung, die Ashmole seinem Museum gab, in dem die Sammlung des Tradescant aufgegangen war und dem er den ersten Lehrstuhl für Naturgeschichte (Philosophical History) beigeben wollte, ist modelliert nach den Bestimmungen der Bodleian Library in Oxford. Die Sammlung der Merkwürdigkeiten, für die sich die Universität mit einem neuerbauten Gebäude samt chemischem Labor engagierte, sollte zu denselben Öffnungszeiten zu besichtigen sein wie sie für die Bodleian Library festgesetzt wurden. Diese Analogie erlaubt uns, nach dem Zusammenhang des Sammelns mit dem Lesen zu fragen. Betrachten wir neben dem Garage Safe und dem Kuriositätenkabinett dieses dritte Sammeln, das sammelnde Lesen. Die Analyse dieser marginalen Form des Lesens soll die Isomorphie der zuerst behandelten kulturellen Praxen verständlich machen. Die Aufhebung der Grenze zwischen dem Sammeln als einer subkulturellen Praxis und als einer erkenntnistheoretischen Struktur, die der Begriff der kulturellen Struktur intendiert, läßt sich besonders gut am Lesen zeigen, jenerTätigkeit, die von Bewußtseinsstrukturen genauso gesteuert wird wie von kulturellen Kontexten.

Als Elias Ashmole die Satzung seines Museums nach dem Vorbild einer Bibliothek formulierte, wollte er seinen Merkwürdigkeiten einen abgesicherten Platz in dem System des Wissens zukommen lassen. Wie die Bücher die Basis der alten Gelehrsamkeit boten, so sollen seine Kuriositäten die Basis der neuen werden. Die Sammlung soll, so noch heute der Name, zu einer Lehrsammlung werden. Robert Hooke, curator 0/ experiments am Museum der Royal Society in London, appelliert 1679 an dieselbe Analogie zweier Instrumente   des Wissens: des Textes und des kuriosen Gegenstandes. »Es wäre sehr zu wünschen, daß in einer möglichst vollständigen und kompletten Sammlung alle Varietäten der natürlichen Dinge vereint werden und in einer Art Lager zur Verfügung stehen, so daß die Forscher darauf zurückgreifen könnten und das Buch der Natur durchgehen, ja durchblättern, buchstabieren und lesen könnten und die Orthographie, die Etymologie, die Syntax und die Prosodie der Sprache der Natur betrachten könnten und so wie mit einem Wörterbuch ohne Schwierigkeit die wahre Gestalt, Zusammensetzung, Abweichung und den Gebrauch von Buchstaben, Wörtern, Ausdrücken und Sätzen der Natur erkennen könnten, die ihr mit exakten und unauslöschbaren Lettern eingeschrieben sind.

Ohne dieses Museum, ohne dieses Buch könnte wohl niemand Belesenheit in der Sprache und der Bedeutung der Natur beanspruchen.« Die neue Wissenschaft modelliert sich als Fortsetzung der Textwissenschaft. Sie appelliert, wie zu zeigen ist, dabei an eine ganz bestimmte Qualität von Texten: an jene Fülle, die die Rhetorik copia genannt hat. In der Frühgeschichte der Naturwissenschaften kam es darauf an, das neue Wissen von den Dingen durch die Analogie mit den Textwissenschaften zu legitimieren. Hooke schlug die Naturgeschichte als eine höhere Philologie der Natur vor. Heute kann es nicht unsere Aufgabe sein, solche rhetorischen Strategien in kritischer Absicht bloßzustellen. Statt dessen erkennen wir eine Isomorphie, nach der Lesen und Sammeln vergleichbare Strukturen aufweisen.

Einen ersten Anhaltspunkt dafür, daß das Lesen wie ein Sammeln strukturiert sein kann, bietet die Sprache selbst, nämlich die etymologische Verwandtschaft von Lektüre und Kollektion: legere und collegere. Die Grundlage dieser wortgeschichtlichen Affinität ist die Vorstellung des sammelnden Zusammenfassens der Buchstaben. Sie werden zu Wörtern verbunden und verlieren dadurch ihren Status als Lettern. Wiederholt sich nicht in diesem Verlust das empiristische Dilemma, nach dem der Sammler bei keinem Gegenstand verharren kann, weil er selbst jeden einzelnen durch die Integration in seine Sammlung seiner singulären Aura beraubt, ganz so wie die Buchstaben in der Lektüre der Wörter ihrer Buchstäblichkeit beraubt werden? Aber Lesen ist nicht nur ein Sammeln der Buchstaben, sondern auch eines von Informationen. Unter dem Blick des sammelnden Lesers wird jeder Text zu einer Fundgrube von möglichen Zitaten. Dieser Blick kennt keine ästhetische Einheit des Textes, sondern wird geleitet von einer Metaphysik der Stellen. Jeder Text zerfällt in seine Stellen: solche, die man sich merken möchte, anstreicht und dann doch vergißt, aufhebt oder abschreibt. Stellen, die für sich stehen können und die für einen eventuellen Einsatz parat gehalten werden sollen. Dieses Lesen gilt der Eventualität eines Zitats, es lernt nicht, es genießt nicht, es folgt nicht der Linie der Geschichte, sondern zerlegt diese in seine wiederverwendbaren Elemente. Die Stelle ist ein Atom des einen Textes, isoliert in Hinsicht auf ihrWiederauftauchen in einem neuen, zukünftigen Text. Stellen kommen vor in einem Lesen, das nicht eine eigenständige Praxis ist, sondern eine Vorstufe des Schreibens. Die differenzierten Sachregister, die dem Barockroman beigegeben waren, belegen, daß dieses Lesen nicht nur ein Privileg der Literaturwissenschaftler ist.[1. Vgl. WernerWelzig, Einige Aspekte barocker Romanregister. In: Albrecht Schöne (Hrsg.), Stadt, Schule, Universität, Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. München: Beck 1976.]

Bernhard Fabian hat in seiner Beschreibung der Figur des Gelehrten als eines »Zwangslesers«[1. In: Herbert Göpfert (Hrsg.), Buch und Leser. Hamburg: Hauswedell1977.] deutlich machen können, daß solches Lesen nicht nur ein pathologisches Symptom ist. Durch die Steigerung der Lesegeschwindigkeit versucht der Wissenschaftler, die Kontrolle über die Menge des Gedruckten zu behalten, doch dabei kann der Text, der entweder seine Irrelevanz zu erkennen geben oder seine geschätzten Zitate freigeben soll, kaum in seiner möglichen Geschlossenheit wahrgenommen werden. Am 29. September 1663 schreibt John Beale an Robert Boyle von den handfesten Vorteilen, die das schnelle Lesen für den Wissenschaftler bedeutet: »Much more was published under great names and high pretences than was fit to be recorded.« Für solche Texte lohnt es sich nicht, Zeit oder Geld zu investieren. »Thus I oft-times saved my purse, by looking over books in stationers‘ shops.«

Es gehört zu der Natur dieses sammelnden Lesens, daß es selbst mit elektronischer Unterstützung stets in eine massive Fehlinvestition umschlagen kann. Die Auswahl der Passagen, die als »Stellen« in Frage kommen, bleibt ein unsicherer Wechsel auf die Zukunft. Weil dieses Lesen überall fündig werden, wegen des verzögerten Gebrauchs seiner Funde aber nie sicher sein kann, daß sie jemals fruchtbringend einzusetzen sind, bleibt es notwendig chaotisch. Bei aller Konzentration auf die singuläre Stelle ist dieses Lesen gleichzeitig zutiefst unkonzentriert. Heute vergegenständlicht sich dieses Leseverhalten am Personal Computer. Aber schon viele hundert Jahre vorher gab es eine Institution, die ein solches Sammeln ermöglichte und trug. Das war das Commonplace Book, ein alphabetisch geordnetes Register von Gemeinplätzen und Exempeln, in das der Leser seine Funde eintrug.

Wie ein solches Commonplace Book zu führen wäre, das gehörte zu dem Basiswissen, das die Rhetorik seit dem Buchdruck ihren Schülern einbleute.[1. Vgl. Wolfgang Brückner, Loci Communes als Denkform. In: Daphnis, Nr.4, 1975; Walter Ong, Commonplace Rhapsody. In: Robert Bolgar (Hrsg.), Classical Influences on European Culture. Cambridge: University Press 1976.] Er sollte sich in einem Heft ein Lager von textuelIen Bausteinen anlegen, durch die sein eigener Diskurs Fülle, wimmelnde Fülle (copia) gewinnen konnte. Dieser rhetorische Hintergrund verleiht diesem Lesen eine erste historische Adresse: Es ist das Lesen des Schreibenden, nicht ein modernes Erlebnislesen, das sich das Buch zu einem Freund erwählt und im Miterleben des Geschehens die Tiefen seiner eigenen Seele auslotet. Charakteristisch für das dem Commonplace Book korrespondierende Lesen ist der nervöse Blick, der hektisch die Seiten überfliegt, denText schon das erste Mal so liest, als ob ein zuvor überlesenes Zitat zu suchen sei. Durch seinen Ort im System der Rhetorik erhält diese Lektüre ihre beste, eine funktionale Legitimation: Sie diene der besseren Ausarbeitung des eigenen Elaborats. Aber nach der oben durchgeführten Kritik ökonomischer Rationalisierungen stellt sich auch hier wieder die Frage, ob die rhetorisch-funktionale Auffassung eines solchen Lesens Bestand haben kann. Rationalisiert es nicht wiederum eine durchaus unproduktive, heteronome Praxis des Sammelns? Unterstehen diese Lager von diskursiven Baumaterialien nicht demselben dysfunktionalen Prinzip wie jene Sammlungen von Kuriositäten und Raritäten, die niemals einfach in eine Produktion von Erkenntnis mündeten?[1. Vgl. Conrad Wiedemann, Polyhistors Glück und Ende. In: Heinz Burger / Klaus von See, Festschrift Gottfried Weber. Bad Homburg: Gehlen 1967.]

War nicht auch am Text die Isolation der neuen, merkwürdigen oder seltenen Stelle wichtiger als ihr möglicher Gebrauch, der stets unsicher in der Zukunft lag, die Entkontextualisierung wichtiger als die Rekontextualisierung? So etwa spricht Robert Burton in der Anatomy 0/ Melancholy vom »roving humor«, der seine unstete Leküre geleitet hätte, ohne zu versuchen, diese Art des Lesens durch das Versprechen einer produktiven Leistung zu funktionalisieren. »Like a ranging Spaniell, that barkes at every bird he sees … I have read many books, but to little purpose, for want of good method, I have confusedly tumbled over divers Authors in our Libraries, with smallprofit, for want of Art, Order, Memory, Judgement.« Dieses unsystematische Bereitstellen, diese vage Hoffnung auf einen zukünftigen Gebrauch, entspricht in der Tat der leitenden naturgeschichtlichen Illusion, irgend jemand könnte eines Tages aus dem Haufen der Raritäten ein Wissen destillieren. Versuchen wir also zu zeigen, daß diese ungerichtete Lektüre, die die Rhetorik rationalisierend auf die Bahn des Commonplace Book gelenkt hat, kein produktives Recycling ist, kein gesammeltes, bedächtiges Verhalten, sondern als der nervöse Zugriff eines Sammlers zu verstehen ist, der seine Suchbegriffe kontinuierlich verändert. Genau diese gefährdete Operationalität spricht aus demWort, das solches Lesen beschreibt: Verzetteln. Es meint sowohl produktive Informationsverarbeitung als auch unaufhebbare Desorganisation. Das sammelnde Lesen der Stellen verzettelt und verzettelt sich dabei selbst. Ohne Zweifel gibt es viele andere Arten des Lesens, die einer anderen Logik folgen.[1. Vgl. Aleida Assmann, Die Domestikation des Lesens. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Nr.57/58, 1985.]

Mehr noch, diese sammelnde Lektüre muß vom Standpunkt einer Hermeneutik, die das Lesen auf die Produktion von Sinn festlegen will, geradezu destruktiv erscheinen.[1. Vgl. Michael Cahn, Linguaggi della lettura. In: Studi di estetica (Bologna), Nr.10, 1987.] Es vollzieht keine Konstitution von Bedeutung, läßt sich nicht ein auf die Identifikationsangebote des Textes, verschmilzt nicht die Horizonte von Eigenem und Fremdem und füllt keine Leerstellen. Dieses Lesen macht jeden Text zu einem verbalen Steinbruch, in dem es die Baumaterialien für einen zukünftigen Text sucht. Erst dieser neue Text enthält den Sinn, den die Hermeneutik schon in der Lektüre selbst vermutet. Weil aber das Lesen so viel schneller geht als das Schreiben, überragen die Funde, rein numerisch, jede mögliche Verwertung. Die Diskrepanz zwischen der hohen Zuwachsrate der Funde und der geringen Verbrauchsgeschwindigkeit ist selbst eine Funktion des in der Neuzeit sich vervielfachenden Lesestoffs. Sie kann dadurch überbrückt werden, daß der sammelnde Leser sich des Auftrags vieler Verbraucher versichert. Eine typische Frucht dieser Diskrepanz sind heute die Informationsdienste, die die Tageszeitungen für ihre Auftraggeber nach einschlägigen Meldungen durchlesen. Hier kann man lesen lassen. Aber genau dazu diente auch schon in der Renaissance die Publikation solcher Funde in den Sammlungen schöner Wörter, griffiger Sprüche oder bemerkenswerter Begebenheiten. Ihr einschlägiges Modell ist Erasmus‘ De duplici copia.

Die Veröffentlichung der Ergebnisse dieses Lesens soll das Problem der Verwendung dieser Funde lösen. Sie wiederholt die museale Ausstellung der Raritäten für eine Öffentlichkeit, die den Sammler davon entlasten sollte, selbst wissen zu müssen, für was seine Gegenstände denn gebraucht werden könnten. Wie das Museum, so bietet der Buchdruck eine willkommene Rationalisierung der halbrationalen Tätigkeit des Sammelns.[1. Vgl. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin: Wagenbach 1988.]

Eine unbestimmte Öffentlichkeit bekommt in den Promptuarien, Florilegien und den barocken Enzyklopädien des Zitierbaren ungefragt die Aufgabe übertragen, die Früchte einer sammelnden Lektüre sinnvoll zu gebrauchen. Die phänomenologische Einsicht, daß Lesen Sinn produziert, findet eine Ausnahme in diesem Lesen, in dem Sinn abhängt von einer in Aussicht gestellten Wiederverwertung. Das Sammeln der Lesefrüchte und Sentenzen tendiert seiner Natur nach vom privaten Commonplace Book zum gedruckten Thesaurus. Die Vergeblichkeit der privaten Sammlung, deren Aufwand sich niemals auszahlen kann, versucht seine mangelnde ökonomische Rationalität durch die Publikation vergessen zu machen. Doch wenn solche publizierten Hilfsmittel erst einmal vorliegen, dann verliert die rhetorische Forderung, ein Lager von Stellen und Zitaten zur zukünftigen Verwendung anzulegen, zunehmend ihren Sinn. Die Sagen des klassischen Altertums müssen im Zeitalter des Buchdrucks nicht mehr von jedem Schüler der Rhetorik aufs neue verzettelt werden. In der Lektüre des Sammlers finden wir ein Verhalten, das sich einer ökonomischen Regel unterstellt, ohne sich in ihren Zwecken zu erschöpfen. Es ist eine Haltung, die Geschmack finden kann an einzelnen Wörtern, ohne recht zu wissen, wie sie dieses Gefallen, außer in den rhetorischen Materiallagern der Fülle, organisieren kann.

Wenn Polonius im Hamlet sich darüber ausläßt, daß der Ausdruck »mobled queen«, »die schlotterichte Königin«, ihm zusagt, dann wird mit dieser goutierenden Haltung der Sprache gegenüber zugleich ein pedantischer Höfling ausgezeichnet, dessen unpraktischer Geschmack an Worten (»weIl spoken, with good accent arid discretion«) ihn nicht davor retten kann, schließlich wie eine Ratte erstochen zu werden. Die Lust an dem einzelnen Wort ist auf der Seite der Verlierer. Dieses sammelnde Lesen manifestiert sich in Aphorismensammlungen, aber auch im Genre der Florilegien und der Anthologien, in denen das Beste aus den besten Autoren zusammengetragen wird. Damit kann eine Form des Lesens durch die Gestalt eines Textes beschrieben werden. Wie in Tradescants Arche stellt sich an den Nahtstellen zwischen den Lesefrüchten das Problem der Anordnung. Ob die Zitate alphabetisch, nach Autoren oder nach Gegenständen geordnet werden, immer bleiben Lücken zwischen den Aphorismen, die nicht mit Gedankensynthesen geschlossen werden können. Wie bei der Sammlung von Raritäten läßt sich in diesen Texten nie ein Ende in der Sache finden. Sie tendieren zur Fortsetzung bis ins Monumentale. Die proliferierende Editionsgeschichte von Erasmus‘ De duplici copia belegt das. Die Ordnung der Lesefrüchte läßt sich genausowenig stabilisieren wie die der Kuriositäten und die der Funde beim Garage Sale, wo jeder Neuzugang der sammelnden Aufmerksamkeit einen anderen Akzent verleiht.

In diesem Lesen wird ein eigentümlicher Umgang mit Texten greifbar, ein Verhältnis zum Gegenstand der Wahrnehmung, das durchaus unhermeneutisch ist. In der permanenten Individualisierung ihrer Gegenstände, die auch durch ihre Einbettung in eine alphabetische Serie nicht durchbrochen wird, sind die Spuren einer abwegigen Utopie des Singulären und Unverbundenen erkennbar. Legere und collegere; Lesen und Sammeln. Diese hier am Ausgang stehende Etymologie hatte Martin Heidegger in Was heißt Lesen? in einer ganz anderen Richtung verfolgt. Er verstand das Lesen als ein Sammeln, als eine Sammlung auf das, was in der Schrift gesagt ist. Damit hatte Heidegger ein konzentriertes, meditatives Verhältnis zum Gegenstand ausgedrückt, das auch Walter Benjamin dem Sammler zuschreibt. In Heideggers Formulierung fehlt deshalb die Nervosität des Sammelns, jene serielle Struktur, die jede gezielte Konzentration immer wieder zerstört. Wenn der Sammler, wie Benjamin im Passagenwerk schreibt, »den Kampf gegen die Zerstreuung aufnimmt«, dann kann er es doch nur, gemäß dialektisch-homöopathischer Logik, durch die Zerstreutheit seiner eigenen Tätigkeit. Benjamin dagegen wollte den Sammler ganz auf der Seite der Konzentration lokalisieren. Das Sammeln, auch wenn es unendlich ist, ist keine kontinuierliche Tätigkeit. Weil es kein Ende hat, fängt das Hervorheben von Stellen und Dingen vielmehr immer wieder von vorne an. Das Sammeln ist eine Form des Erwerbs, die einem Gebrauch seiner Funde vorarbeitet, den es selbst nicht rational vollziehen kann. Das Sammeln ist für andere, oft genug für eingebildete Andere. Dagegen ist Heideggers und Benjamins Sammeln ein idealisiertes Sammeln, eine Konzentration, die abstrahiert von der Aussicht auf den nächsten Fund, die doch jeden Sammler in Unruhe versetzt.

Geschichtlich, das zeigt der Garage Sale wie die empiristische Wissenschaftstheorie, hat sich das Sammeln als eine Form der Gegenstandszuwendung realisiert, die gerade deshalb in ein serielles Verhalten übergeht, weil die höhere Stufe – das Einordnen und Kontextualisieren – die niedrigere Stufe – die Gegenständlichkeit des Fundes – zerstört. Die Rationalisierung des Einzelnen durch die systematisierende Einordnung von Fund und Rarität ist der Motor des Sammelns. Erfüllt nicht die Interpretation beim Lesen eine ähnliche Funktion, indem sie die vorgängige, »unmittelbare Erfahrung« des Textes zerstört und eine Sinnzuschreibung an seine Stelle setzt? Das sammelnde Lesen hat in der rhetorischen Tradition der Commonplace Books’seinen Ort. Generationen von Pfarrern haben ihre Predigten mit Hilfe von Exempelsammlungen geschrieben, haben Promptuarien herangezogen und so ihre Texte angereichert. Bei dem Kampf gegen die Möglichkeit des Vergessens wurde alles, selbst die Bibel, in Stichwörter zerlegt und zum Ausgangsmaterial für neue Texte. Im Commonplace Book konkretisiert sich eine rhetorische Mechanik, die verfolgen läßt, wie Texte aus Texten produziert werden. Aber die historische Autorität dieser rhetorischen Funktionalisierung darf uns nicht vergessen lassen, daß das nervöse Lesen nach Stellen, das diese Hilfsmittel zusammenstellte, sich in dieser Instrumentalisierung zwar eine Rationalisierung gab, aber deshalb weder ein rationales noch ein ökonomisches Verhalten genannt werden kann. Wie der Garage Safe liegt es jenseits der offiziellen Ökonomie von Aufwand und Nutzen. Obwohl erst Buchdruck (und Buchhandel, wie Beale erinnerte) dieses Lesen durch die Zunahme der Texte verbreiten konnte, so ist derselbe Buchdruck zugleich sein größter Feind. Denn durch die Publikation von solchen Sammlungen wird diese Praxis des Lesens zunehmend dysfunktional, weil die gedruckte Sammlung die eigene durchaus ersetzt.

Johan Huizinga schreibt in seiner Erasmus-Monographie, die Antike sei in diesen Texten »ausgestellt als ein Warenhaus«, in dem sich jeder nach Belieben en detail bedienen kann. Doch gegen Huizingas Formulierung ist festzuhalten, daß die Kommerzialisierung der Tradition und des Wissens, die er hier vermutet, einer unruhigen Aufmerksamkeit entspringt, die sich nicht mit der bürgerlichen Logik des Unternehmens in Übereinstimmung bringen läßt. Die fragmentarisierende Tätigkeit des’Sammlers ist eben kein ökonomisches, einem Warenhaus angemessenes Verhalten. In seinem Kampf gegen das Vergessen konnte nie ein Leser sicher sein, daß genau diese Stelle ihm in der Zukunft nützlich sein wird.[1. Der Charakter dieser Lektüre wird also bestimmt durch den zeitlichen Abstand zwischen Lesen und Schreiben beziehungsweise durch den Versuch, diese Verzögerung aufzuheben.]

Nur wenn er seine Sammeltätigkeit in den alphabetisch geordneten Bänden der Vielwisserei publizierte, hatte seine Arbeit die Chance einer anonymen Legitimation durch seine Leser. Dieses Lesen findet seine Begründung durch jene, die sich seine Früchte wiederum lesend aneignen. Das Lesen, das für Huizingas Warenhaus der Antike die Stellen lieferte, gehört einer anderen Ökonomie an. Diese beruht nicht mehr auf Aufwand und Ertrag, sondern ist so verschwenderisch wie all die nachgelassenen Notizen, die jedes Gelehrtenleben hinterläßt. Bereits der Garage Safe hatte seinen Ort an den Ausläufern der Warenkultur. Auch die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft kristallisiert sich an niedrigen Dingen, »subjects generally so ridiculous and mean« (William King), die nicht das Kriterium des Werts erfüllen. Schließlich ist auch das sammelnde Lesen nicht das rationale Instrument zur Textproduktion, als welches es die Rhetoriklehrer gerne ausgeben. Wollte man den Zusammenhang mit den Garage Safes forcieren, dann könnte es scheinen, als ob hier die Abfälle des Sinns, die Späne, die bei der Herstellung von Bedeutung anfallen, in den Mittelpunkt treten. In allen drei Fällen stehen wir vor einem Verhalten, das an seinen Objekten eine bestimmte Form der Zuwendung durchführt. Und diese Haltung, die sich ohne Rücksicht auf historische und disziplinäre Grenzen gleichermaßen auf Texte, verschlissene Konsumdinge oder skurrile Naturalien bezieht, sollte hier als eine kulturelle Struktur beschrieben werden. Der Charakter dieser Haltung besteht in einer Umgangsform mit Objekten, die nicht als Gebrauch beschrieben werden kann. Indem die Aufmerksamkeit sich immer gleich dem nächsten zuwendet, verbraucht sie eher ihre eigene Energie, als ihren Gegenstand wirklich zu gebrauchen. Dieser Gegenstand, so scheint es, wird schließlich zumVorwand für die Durchführung einer Haltung, die doch mehr ist als ein psychologischer Defekt. Zugleich überschreitet sie auch die Grenzen einer historisch lokalisierbaren Praxis. Um das zu zeigen, habe ich drei Manifestationen dieses Sammelns vorgestellt, die wohl kaum eine größere Heterogenität besitzen können. Die über diese Grenzen hinweg rekurrierende Haltung wäre zu verstehen als eine »transhistorische« Praxis.

Wohin also führt der Versuch, die grundlegenden Modalitäten einer Gegenstandszuwendung zu analysieren? Zunächst belegt er die Notwendigkeit für ein »wildes« Vergleichen für die Analyse von kulturellen Strukturen. Nur dadurch kann ein Zusammenhang der disparaten Zonen der Kultur erkannt werden. Doch die Feststellung einer solchen Übereinstimmung bleibt merkwürdig in der Schwebe. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Kultur durch diese Affinitäten ihren historischen Index aufs Spiel setzt. Die hier isolierte Haltung des Sammelns überschreitet die gängigen Grenzziehungen der Geschichte. Was aber sind dann die theoretischen Implikationen einer solchen Analyse? Stellen wir dieselbe Frage anders: Was für ein Lesen ist es, das hier unter dem Titel kultureller Hermeneutik durchgeführt wurde und das an den Garage Safes, an den Raritätenkabinetten und den Formen des Lesens ein Gemeinsames entdeckte? Ist diese kulturelle Hermeneutik selbst ein viertes Beispiel für das nicht-verstehende Lesen, das Stellen sucht, nur um dann zum nächsten Thema überzugehen und es mit Vorliebe anderen überläßt, daraus Schlüsse zu ziehen? Oder handelt es sich dabei um eine hermeneutische Lektüre, die aus historischen Belegen einen theoretischen Ansatz begründen will?

Das springende Verfahren der hier durchgeführten Gegenüberstellung verrät ihre Affinität zu der unruhigen Haltung, die oben identifiziert wurde. Indem sie den Zusammenhang dieser Instanzen nicht als ein festes Ergebnis, sondern als ein Problem präsentiert, bleibt sie dem Stil ihrer Phänomene treu. Die hier praktizierte Analyse steht damit in einer verborgenen Übereinstimmung mit der Form der Gegenstandszuwendung, die sie analysiert. I?och der Charakter einer solchen Analyse läßt sich nicht unabhängig von ihrem konkreten Gebrauch feststellen. So könnte etwa die festgestellte Übereinstimmung zwischen in vieler Hinsicht voneinander entfernten kulturellen Praxen zur Grundlage werden für eineThese über eine heteronome Aufmerksamkeitsform, die immer nur am Rand der offiziellen Kultur zum Vorschein kommt. Die drei Sammlungen werden damit zum Beleg für eine verdrängte Modalität menschlicher Gegenstandszuwendung. Das wäre eine interpretative Lektüre in anthropologischer Absicht: die Isolation eines vergessenen Modus der Gegenstandszuwendung. Wenn aber andererseits dieselben Phänomene dazu herangezogen werden, in eine Reflexion der Voraussetzungen dieser Analyse überzuleiten, die weniger zu Schlüssen über ihren Gegenstand führen wird und eher zu neuen Perspektiven über ihr eigenes hermeneutisches Vorgehen tendiert, dann könnte sie über die Grenzen der sinnfindenden Interpretation hinausreichen. Insofern sie dabei versucht, Rechenschaft über ihre Voraussetzungen und Implikationen abzulegen, läßt sie auch die Form der nervösen Sammelleidenschaft hinter sich.

Keine Lektüre kann jemals über sich selbst vollständig Rechenschaft ablegen. Der erkenntnistheoretische, historische oder kulturelle Status einer solchen Haltung wie der des Sammlers wirft zudem Fragen auf, die bislang keine disziplinäre Heimat besitzen. Als Ginzburg seine Untersuchung über das Paradigma des Spureniesens als ein Kapitel der Geschichte der Rationalität vorlegte, fand er damit unter den Historikern kaum Zuhörer. Ob solche Phänomene einer kulturellen Hermeneutik innerhalb der Literaturwissenschaft eine disziplinäre Heimat finden können, ist eine in vielfacher Hinsicht dringende Frage. Doch diese Literaturwissenschaft könnte nicht mehr die alte bleiben. Sie müßte erkennen, daß am Lesen wie am Schreiben jene kulturellen Strukturen, für die hier das Sammeln ein Beispiel war, besonders prägnant analysiert werden können, und daß zugleich die Grenzen zwischen Wissenschaftsgeschichte, anrüchiger Wochenendkultur und den Arten des Lesens in einer kulturellen Hermeneutik einen guten Teil ihrer Autorität einbüßen.


Weitere Beiträge der Reihe Zweite Lesung.